2.109 (str1p): Nr. 109 Aufzeichnung betreffend den verfassungsändernden Charakter eines Ermächtigungsgesetzes. 4. Oktober 1923

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[471] Nr. 109
Aufzeichnung betreffend den verfassungsändernden Charakter eines Ermächtigungsgesetzes. 4. Oktober 19231

1

Das Gutachten wurde auf Bitte MinR Kempners von StS Zweigert und StS Joël erstattet (R 43 I /1869 , Bl. 3).

R 43 I /1869 , Bl. 4/5

Die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein „Ermächtigungsgesetz“ verfassungsändernd ist (Art. 76 RV.), ist aus dem Wortlaut der Verfassung nicht eindeutig für alle Fälle zu beantworten2. Der Reichsrat hat stets einen sehr strengen Standpunkt eingenommen, während die Reichsregierung wiederholt für eine mildere Auslegung eingetreten ist. Aber auch die Reichsregierung hat daran festgehalten, daß nicht jede allgemeine Ermächtigung im Wege des einfachen Reichsgesetzes erteilt werden kann, sondern daß es auf den Umfang und die Abgrenzung der Ermächtigung im einzelnen Falle ankommt. Maßgebend ist der Gesichtspunkt, ob es sich mehr um eine Delegation zur näheren Ausführung oder Ergänzung eines Reichsgesetzes in einem bestimmten Rahmen handelt oder ob das Gesetzgebungsrecht der verfassungsmäßigen Körperschaftten in seinem Wesen betroffen wird. Die staatsrechtliche Literatur hat eine strenge Auffassung vertreten, insbesondere Triepel, Poetzsch3.

2

Das Wort „Ermächtigungsgesetz“ ist dem Text der RV fremd. Art. 76 RV behandelt die Verfassungsänderung mit qualifizierter Mehrheit.

3

Zur zeitgenössischen Literatur über das Problem s. die Angaben in: G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches (141933); R. Grau, Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten, S. 274 ff.

Im vorliegenden Falle ist das Ermächtigungsgesetz, mindestens in seiner bisherigen Form, verfassungsändernd, da dadurch das ganze Gebiet der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik und damit die gesamte gesetzgeberische Arbeit des Finanzministers, des Wirtschaftsministers und des Arbeitsministers von dem Wege der ordentlichen Gesetzgebung entbunden würde4. Die Einschränkung, daß es sich um notwendige oder dringende Maßnahmen handeln muß, enthält keine sachliche Begrenzung.

4

Wortlaut und Inhalt des Ermächtigungsgesetzes wurden behandelt in der Sitzung des Ministerrats vom 1.20.23, P. d. sowie in der Kabinettssitzung vom 6.10.23, 18 Uhr, P. 1 (Dok. Nr. 97 u. 117).

Im Falle der Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes könnte der Reichspräsident den Reichstag auflösen. Spätestens am 60. Tage nach der Auflösung müßte die Neuwahl stattfinden. Eine Auflösung des neugewählten Reichstags aus demselben Anlaß wäre nicht zulässig (Artikel 25 der Reichsverfassung)5.[472] Eine Vertagung des Reichstags kann nur von ihm selbst beschlossen werden; der Reichsregierung steht irgend eine Einwirkung nicht zu (Art. 24 Abs. 2 RV.). Auch im Falle der Auflösung bleiben der Ständige Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten und der Ausschuß „zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung gegenüber der Reichsregierung“ bestehen (Artikel 35 der Reichsverfassung). Die Ausschüsse sind zum Erlaß gesetzlicher Maßnahmen nicht befugt.

5

Ergänzend teilte StS Zweigert dem MinR Kempner am gleichen Tage mit: „Eine Möglichkeit, die Vorschrift des Artikels 25 Abs. 2 RV, wonach spätestens am 60igsten Tag nach der Auflösung des Reichstags Neuwahlen stattfinden müßten, aufgrund des Artikels 48 außer Kraft zu setzen, besteht nicht. Nach Artikel 48 kann der Reichspräsident zwar Vorschriften erlassen, die von Reichsgesetzen abweichen; an die Vorschriften der Reichsverfassung ist er aber gebunden, soweit nicht in Artikel 48 ausdrücklich die Suspension gewisser Verfassungsvorschriften zugelassen ist. Zu diesen suspendierbaren Artikeln gehört aber der Artikel 25 nicht“ (R 43 I /1869 , Bl. 6).

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