1.2 (vsc1p): Zur Person Kurt v. Schleichers

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Zur Person Kurt v. Schleichers

 

Das Dilemma v. Schleichers war ein doppeltes. Auf dem Höhepunkt einer zur bürgerkriegsähnlichen Entladung drängenden Staats-, Wirtschafts- und Sozialkrise in die politische Verantwortung gestellt, erhielt er nur ganze 56 Tage eigenständigen Wirkens von dem der jahrelangen Notverordnungspraxis müden Reichspräsidenten eingeräumt. Die schon angedeutete, von Auf- und Umrüstungsabsichten mitinspirierte populistische Fundierung eines autoritären Präsidialregimes, das an die Stelle der handlungsunfähig gewordenen Parteiendemokratie getreten war, konnte in dieser Zeitspanne nicht geleistet werden. Schleichers politische Konzeption blieb den Zeitgenossen weitgehend verborgen. Sichtbar wurden lediglich seine durch die wechselnden Grenzen des politisch Möglichen diktierten Absichten, die aufgrund der ihm öffentlich zugeschriebenen Persönlichkeitsmerkmale als bloßes Taktieren erschienen9. Somit verdeckten sie den strategischen Plan, den er gehabt haben dürfte. Nicht ohne eigenes Zutun oszilliert sein Bild vor der Geschichte zwischen „Mythos und Wirklichkeit“, wie der Titel einer aus Anlaß des Regierungswechsels erschienenen Gefälligkeitsschrift lautet10. Die Spannung zwischen vordergründiger Fassade und nicht zu leugnender geistig-moralischer Substanz erklärt den sphinxhaften Nimbus, der v. Schleicher umgab11 und der seine facettenreiche Persönlichkeit bis heute zum Gegenstand zahlreicher, z. T. kontroverser[XXII] Interpretationen macht12. Seinem politischen Wirken hat dieses Ansehen nicht nur genutzt.

9
 

Unter den Zeitgenossen hob Passarge in einem Tagebucheintrag vom 10.12.1932 auf das „Taktieren“ des Gen. besonders ab (Nachl. Passarge , Nr. 6, Bl. 355). Während Eschenburg nicht an eine politische „Gesamtkonzeption“ v. Schleichers glaubte und dessen „Programmhorizont“ als „zu eng“ für den Kanzler eines modernen Staates bezeichnete (a. a. O., S. 262, 287), insistierte Zehrer in einem Nachkriegsgespräch auf einem in der Bekämpfung des Nationalsozialismus im Verein mit allen nationalen und sozialen Kräften bestehenden „Konzept“ Schleichers (Ernst v. Salomon: Der Fragebogen. S. 183 f.). Ausführlich über Schleichers politische „Ziele“ aus der Sicht des Mitarbeiters s. Hanshenning v. Holtzendorff: „Die Politik des Generals von Schleicher gegenüber der NSDAP 1930 – 33. Ein Beitrag zur Frage Wehrmacht und Partei“ vom 22.6.1946 (Nachl. v. Holtzendorff, Nr. 5).

10
 

Rudolf Fischer: Schleicher. Mythos und Wirklichkeit.

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Besonders aufschlußreich dazu sind die Beobachtungen des frz. Botschafters in Berlin, François-Poncet (François-Poncet an Herriot, 28.7.1932; DDF, Ière Série, Bd. I, Dok. Nr. 76).

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Auf die Unsicherheit des Urteils über die Person v. Schleichers wiesen u. a. hin: Deutsches Volksblatt (Stuttgart), Nr. 277 vom 1.12.1932; Helmut v. Gerlach: „Militärherrschaft“, in: Weltbühne, 28. Jg., Nr. 49 vom 6.12.1932; Kurt Caro und Walter Oehme: Schleichers Aufstieg. S. 262; Lutz Graf Schwerin v. Krosigk: Memoiren. S. 141. – Zusammenfassend dazu aus heutiger Sicht Peter Hayes: „A Question Mark with Epaulettes? Kurt von Schleicher and Weimar Politics“.

 

Zwar war der elegant auftretende v. Schleicher ein in der Berliner Gesellschaft häufig und als gewandter Causeur von vielen auch gern gesehener Gast. Seiner Lust am Bonmot und am bissigen Witz scheint er dabei, mehr als manchem Gegenüber genehm war, allzu sehr gefrönt zu haben. Viele haben sich deshalb des Eindrucks nicht erwehren können, seine fast überwältigende Offenheit sei das machiavellistisch eingesetzte Mittel eines „genialen Intriganten“, die ironisierende Maske eines Opportunisten, der mit der Unbekümmertheit eines Spielers im zwielichtigen Helldunkel des Theaters der Politik die Kulissen schob und damit auf den politischen Aufstieg oder Fall eines Geßler, Groener, Brüning und v. Papen als „Graue Eminenz“ einen nicht zu unterschätzenden Einfluß ausgeübt habe13. An der Berliner Meinungsbörse wurden auf seine Veranlassung hin Enthüllungen lanciert und Dementis gehandelt. Brüning als Reichskanzler, Treviranus, v. Gayl und v. Braun als Minister, Gereke als Reichskommissar, um nur einige zu nennen, berichteten übereinstimmend, daß er ihre verborgensten Pläne, noch ehe diese greifbare äußere Formen angenommen hatten, kannte, sie förderte oder durchkreuzte14. Sein nur in Ausnahmefällen quellenmäßig aufzudeckender Zugriff auf die Erkenntnisse der Abwehrstelle des Reichswehrministeriums und zahlreicher anderer Nachrichtenzuträger machten ihn zu einem der bestinformierten Männer in den Spitzenpositionen des Reiches15. Mit der aus Industrie- und Reichswehrmitteln[XXIII] geförderten Übernahme der Berliner „Täglichen Rundschau“ durch den Tat-Kreis um Hans Zehrer im Sommer 1932 verfügte er – ungeachtet mancher Differenzen – schließlich sogar über ein offiziöses Pressesprachrohr16.

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So – unter den Zeitgenossen – u. a. Carl v. Ossietzky: „Der Flaschenteufel“, in: Weltbühne. 29. Jg., Nr. 2 vom 10.1.1933; Georg Bernhard: Die Deutsche Tragödie. S. 287 ff.; Hans Luther: Vor dem Abgrund. S. 274 f.; in den „Erinnerungen“ des RIM Frhr. v. Gayl (Nachl. v. Gayl , Nr. 4, Bl. 79 ff.); Franz v. Papen: Der Wahrheit eine Gasse. S. 246 ff.; ders.: Vom Scheitern einer Demokratie. S. 167 ff.; Otto Meissner: Staatssekretär unter Ebert – Hindenburg – Hitler. S. 247 ff.; Magnus Frhr. v. Braun: Von Ostpreußen bis Texas. S. 257 ff.; Lutz Graf Schwerin v. Krosigk: Staatsbankrott. S. 154 ff.; Werner Frhr. v. Rheinbaben: Viermal Deutschland. S. 285 ff.; Manuskript Joachim v. Stülpnagels aus dem Jahr 1948 u. d. T. „Curt von Schleicher“, Abschrift in der Sammlung Graf Borcke-Stargordt im Bundesarchiv Koblenz, Kl. Erw. 242, Nr. 6, Bl. 4 f. – Relativierend zu diesen Einschätzungen u. a. Arnold Brecht: Mit der Kraft des Geistes. S. 246 ff.; Heinrich Brüning: Memoiren. S. 575 ff., 649; Lutz Graf Schwerin v. Krosigk: Es geschah in Deutschland. S. 115 ff.; Werner Frhr. v. Rheinbaben: Kaiser, Kanzler, Präsidenten. S. 252 ff.; H. R. Berndorff: General zwischen Ost und West. – Eine ausgewogene Persönlichkeitsstudie bei Gottfried R. Treviranus: „Zur Rolle und zur Person Kurt von Schleichers“; vgl. auch Ernst Deuerlein: Deutsche Kanzler. S. 445 ff.; Martin Broszat: Kurt von Schleicher. S. 337 ff. Grundlegend für alle Arbeiten über Schleicher immer noch Thilo Vogelsang: Reichswehr, Staat und NSDAP.

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Heinrich Brüning: Memoiren. S. 395 ff.; Gottfried R. Treviranus: Das Ende von Weimar. S. 279 ff., 333 ff.; Frhr. v. Gayl: Erinnerungen (Nachl. v. Gayl , Nr. 4, Bl. 79 ff.); Magnus Frhr. v. Braun: Von Ostpreußen bis Texas. S. 258 f.; Günther Gereke: Ich war königlich-preußischer Landrat. S. 210.

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Dok. Nr. 19, Anm. 4; 24, P. 2; 35; 54, Anm. 9. – Als „unsern Fouché“ bezeichnete ihn die Schwiegertochter des RPräs., Freiin v. Mahrenholtz (M. v. Braun: A. a. O., S. 259); mit einem „Polizeiminister des Absolutismus“ verglich ihn Heinz Brauweiler: Generäle in der deutschen Republik. S. 33.

16
 

Ebbo Demant: Von Schleicher zu Springer, Hans Zehrer als politischer Publizist; Karl Sontheimer: „Der Tatkreis“.

 

Obwohl Soldat und zwar preußischer Offizier, repräsentierte v. Schleicher diesen Typ nicht im engeren Sinne des Wortes. Er war nie ein Mann der Truppe und des Kasernenhofs gewesen. In der Reichswehr genoß er wegen einer völlig außerhalb des üblichen Rahmens liegenden Karriere nur ein begrenztes Ansehen. Man nannte ihn geringschätzig einen „Bürogeneral“, weil er – mit einer geringfügigen Ausnahme im Sommer 1917 – nie ein Truppenkommando innegehabt hatte. Die kastenmäßige Abschließung des Militärs von der übrigen Bevölkerung hat er im Prinzip nicht gebilligt. Wenn es ihm auch nicht möglich war, gegen den Zeitstrom zu schwimmen, so durfte er doch von weitsichtigen Zeitgenossen, ohne daß damit seine Rolle in der Aufbauphase der bewaffneten Macht im Nachkriegsdeutschland überschätzt wurde, als „Brückenschläger in eine neue Zeit“ bezeichnet werden. Anders als Seeckt hatte er der Reichswehrführung den Blick für die Belange des republikanischen Staates, seiner Institutionen und Parteien, geöffnet. Als Referent für das Haushaltsbudget der Reichswehr hatte er im jahrelangen Umgang mit den Parlamentariern derart Einsichten in das politische Kräftespiel gewonnen, daß er in zunehmend verantwortlicheren Positionen der Reichswehr ein intelligenter und fleißiger Anwalt, seinen Vorgesetzten und schließlich auch dem Reichspräsidenten ein unentbehrlicher Berater wurde – ein „cardinal in politicis“, um das Wort seines Lehrers, Förderers und väterlichen Freundes Groener wieder aufzugreifen17.

17
 

Groener an Gerold v. Gleich, 4.1.1932; vgl. dazu Dorothea Groener-Geyer: General Groener. Soldat und Staatsmann. S. 262. Über den Soldaten Kurt v. Schleicher s. außer den bereits zit. Werken von Berndorff und Vogelsang auch Francis L. Carsten: Reichswehr und Politik 1918 – 1933. Heranzuziehen sind neben dem Manuskript von Holtzendorff auch die Aufzeichnungen von Dorothea Groener-Geyer „Schleicher gegen Groener? Ein Beitrag zur Geschichte des SA-Verbotes“ (Nachl. Geßler , Nr. 50, S. 144–150) und die Aufzeichnung von A. v. Carlowitz vom 7.2.1949, Abschrift in der Sammlung Graf Borcke-Stargordt (Kl. Erw. 242, Nr. 6). Daneben Melvin T. Steely: Kurt von Schleicher and the Political Activities of the Reichswehr 1919 – 1926; Johann R. Nowak: Kurt von Schleicher – Soldat zwischen den Fronten.

 

Eine innere Bindung an die Demokratie und ihre Ideale hat er dabei nicht entwickelt18. Wenngleich er sich von Anfang an der Republik gegenüber loyal verhalten habe, so wäre es doch naiv, ihn für einen Republikaner zu halten, vertraute er wenige Tage vor der Übernahme des Kanzleramtes dem französischen Botschafter in Berlin, François-Poncet, an; ihm komme es nicht auf die Form, sondern auf die Macht des Staates an. Mit einer dem Franzosen „sehr eindrucksvoll“ erscheinenden Formulierung habe v. Schleicher an das gegenüber der militärpropagandistischen Entwicklung Deutschlands sehr argwöhnische Frankreich mit der Bitte appelliert, es möge Verständnis dafür[XXIV] haben, daß der Nachbar sich gerade jetzt an einen General wende, um die auf militärische Machtmittel gestützte Diktatur einer Partei, der Nationalsozialisten, abzuwenden19. In einem von kritischer Sympathie geprägten Kommentar fügte der gut informierte und hervorragend gebildete Botschafter als eigenständiges Urteil hinzu, daß dem General Friedrich der Große und der Reichsfreiherr vom Stein als Vorbilder dienten, von denen der eine alle persönlichen Interessen dem Staat unterordnete und der andere die Abhängigkeit der Staatsexistenz von der Zustimmung des Volkes aufzeigte, daß v. Schleicher dementsprechend nach den Grundsätzen der Staatsräson handeln werde und er wohl als der überzeugendste und gewandteste Repräsentant dieser Doktrinen in Deutschland nach 1918 gelten könne20.

18

So u. a. Arnold Brecht: Mit der Kraft des Geistes. S. 246.

19

François-Poncet an Herriot, 29.11.1932 (DDF, Ière Série, Bd. 2, S. 88 ff.).

20

François-Poncet an Herriot, 3.12.1932 (DDF, Ière Série, Bd. 2, S. 135).

 

Schleichers nicht unbedingt mit guter Menschenkenntnis gleichzusetzende Fähigkeit, die Stärken und Schwächen seiner Mit- und Gegenspieler schnell zu durchschauen, sie und die Lage der Dinge vorurteilslos einzuschätzen und geschickt auszunutzen, ließen ihn – auch als Kanzler – vor allem das Verhandlungsgespräch im kleinen Kreis suchen. Da Aufzeichnungen über den Gesprächsinhalt nur selten gemacht bzw. kaum erhalten sind, fehlt somit ein ganzer Überlieferungsstrang, der mehr Licht in das Dunkel seiner Zielvorstellungen bringen könnte. Die politische Entscheidung wurde unter Schleicher weniger noch als unter seinen Vorgängern kaum im Gesamtkabinett gesucht. Die Kabinettsprotokolle bleiben deshalb bis auf wenige Ausnahmen aussagearm21. Wesentliche Probleme, wie z. B. das Arbeitsbeschaffungsprogramm und Siedlungsfragen, wurden neu konstituierten engeren Kabinettsausschüssen überwiesen22. Der Kanzler bestimmte, soweit die politischen Rahmenbedingungen ihm dies erlaubten, Vorgehen und Inhalte der Regierungspolitik weitgehend selbst.

21

Zu den bemerkenswerten Ausnahmen gehören die Aussprachen über die „Politische Lage“ in Dok. Nr. 5, P. 2; 56; 71, P. 1 sowie die Aussprache über die Agrar-, Wirtschafts- und Handelsvertragspolitik in Dok. Nr. 33, P. 2.

22

Dok. Nr. 3; 9; 20; 30; 34; 40; 44; 67.

 

Vom Ergebnis her beurteilt, scheint er dabei das Opfer einer bedenklichen Selbstüberschätzung geworden zu sein. Die von ihm einst protegierten Männer – Groener und Brüning – waren noch bereit, ihm nach Doppelspiel und Intrige zu verzeihen; sie wurden ihm, dem nun in die politische Verantwortung Gestellten, sogar zu politischen Beratern. Der ausmanövrierte v. Papen hingegen zahlte mit gleicher Münze heim, so daß der zwischen beiden Politikern stehende greise v. Hindenburg nicht mehr in der Lage war zu durchschauen, warum er im Januar 1933 dem Kanzler-General die Ausnahmevollmachten geben sollte, die er auf Anraten eben desselben zwei Monate zuvor dem Vorgänger vorenthalten hatte23. Schleicher war Hitler gegenüber an Wendigkeit ebenbürtig; dessen Machtwillen und Durchsetzungsvermögen, die er völlig fehleinschätzte24, mußte er am 30. Januar 1933 das Feld räumen. Dem persönlichen[XXV] Haß des gerade in seiner Kanzlerzeit zurückgewiesenen Göring dürfte sein gewaltsamer Tod am 30. Juni 1934 mit zuzuschreiben sein.

23

Dok. Nr. 65; 71; 72; 77.

24

Besonders augenfällig in Dok. Nr. 56.

Ein übersteigertes Selbstbewußtsein täuschte den ungewöhnlichen Einzelgänger darüber, daß nicht nur er selbst Interessen- und Ressortvertreter war, sondern daß auch seine Mitakteure eingebettet waren in ein Kräfteparallelogramm psychologischer, sozialer, ideeller und situationsgebundener Bezugspunkte, dem sie sich nicht entziehen konnten, wenn sie nicht sich und ihre politischen Grundlinien aufgeben wollten.

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