1.9 (vsc1p): Innen-, Außen- und Wehrpolitik in ihrer wechselseitigen Verflechtung

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Innen-, Außen- und Wehrpolitik in ihrer wechselseitigen Verflechtung

 

Wenn in einer Demokratie ein General zunächst Wehrminister und dann Regierungschef wird, liegen Vorurteile in der Luft. Schleicher war sich der doppelten Problematik seiner Amtsübernahme bewußt. Für die Öffentlichkeit „rieche“ der Wehrminister als Reichskanzler nach Militärdiktatur, für die Reichswehr berge die Personalunion beider Ämter die Gefahr in sich, daß „die Wehrmacht zu stark in die Politik gezogen werden könnte“. Seine Schlußfolgerung aus dem bisherigen Umgang der Reichswehr mit der politischen Macht – etwa in der Zeit der Verhängung des militärischen Ausnahmezustands im Jahre 1923 – lautete, daß man „auf die Dauer nicht ohne eine breite Volksstimmung hinter sich regieren“ könne. Zur Beruhigung der Öffentlichkeit betonte er in seiner Regierungserklärung, es sitze „sich schlecht auf der Spitze der Bajonette“154. Entsprechend hatte er sich unter v. Papen dem polizeilichen Einsatz der bewaffneten Macht gegen die eigene Bevölkerung versagt. Weil er in dieser Hinsicht den Nationalsozialisten nicht über den Weg traute, beschwor er Ende Januar 1933 Reichspräsident v. Hindenburg, den Zugriff der NSDAP auf das Wehrministerium zu verhindern155.

154

Dok. Nr. 25; vgl. dazu auch Dok. Nr. 16; 55.

155

Dok. Nr. 72.

 

Waren dies nur taktische Finessen eines selber machtbessenen Militärs? Wozu bediente er sich der konsequent betriebenen und an seiner eigenen Karriere exemplarisch ablesbaren zivil-militärischen Verzahnung? Niemals in den 14 Jahren der Weimarer Republik war die Reichswehr weiter in das Entscheidungszentrum von Politik und Macht gerückt worden als gerade in den acht Wochen der Kanzlerschaft des Generals v. Schleicher.

Den Rahmen aller militärpolitischen Überlegungen setzten die einengenden Bestimmungen des Teils V des Versailler Vertrags156. Der weitgehenden Entwaffnung Deutschlands waren die übrigen großen Signatarmächte entgegen ihrer eigenen Absichtserklärung nicht gefolgt. Es hatte bis zum Frühjahr 1932 gedauert, bis in Genf endlich eine internationale Konferenz zusammentrat, die[LIV] das Abrüstungsprogramm des Artikels 8 der Völkerbundsatzung verwirklichen sollte, die Bestandteil des Deutschland bindenden Friedensvertrags war. Angesichts der Rüstungsüberlegenheit der Nachbarstaaten und im Gefolge eines allgemein-europäischen Sicherheitsdenkens, das sich trotz des Kriegsächtungspaktes von 1928 im wesentlichen in militärischen Kategorien vollzog, konnte die Genfer Abrüstungskonferenz aus deutscher Sicht zum Angelpunkt einer die volle und vorbehaltlose Gleichberechtigung des Reiches fordernden Revisionspolitik gemacht werden. Gleichberechtigung bedeutete 1932 – egal ob Deutschland auf- oder die übrigen Mächte abrüsteten – immer eine Veränderung der durch den Kriegsausgang von 1918 geschaffenen militärischen Kräfteverteilung zugunsten des Deutschen Reichs. Selbst wenn die Konferenz den deutschen Anspruch nur prinzipiell anerkennen würde, wofür die Chancen nicht schlecht standen, hätte ein solcher Verhandlungsausgang in das internationale Machtgefüge in einer vor allem für Frankreich nur schwer akzeptierbaren Weise eingegriffen.

156

RGBl. 1919, S. 687  ff.; vgl. dazu sowie zum Folgenden Dok. Nr. 5, P. 1; 25.

 

Die Reichswehrplanungen gingen nicht von einer nennenswerten Abrüstungsbereitschaft der übrigen Großmächte aus, sondern bezogen die Erlangung der deutschen Rüstungsfreiheit von vornherein mit in ihr Kalkül ein157. Sie sahen mittelfristig den Ausbau des Feldheeres auf 21 Divisionen, die Umstrukturierung der reinen Berufsarmee durch abgestufte Dienstzeiten und den Aufbau größerer Personalreserven sowie die Ausrüstung mit modernen schweren Waffen vor. Die Chance zur schrittweisen Realisierung dieser Zielvorgaben drohte 1932 verloren zu gehen. Zum einen hatte sich bei den Genfer Verhandlungspartnern bis zur Jahresmitte keine Bereitschaft zur Änderung des status quo abgezeichnet, zum anderen erfaßte der existenzbedrohende Sog der Weltwirtschaftskrise auch die als Reichswehrzulieferer arbeitenden Rüstungsfirmen; die schrumpfende Decke des Reichshaushalts stellte die Finanzierung der für das sog. Zweite Rüstungsprogramm vorgesehenen Jahresraten in Frage und schließlich wurde der demographisch bedingte Rückgang der im Kriegsdienst ausgebildeten Jahrgänge als personalpolitischer Unsicherheitsfaktor ausgemacht. Auf der anderen Seite mußte die Reichswehrführung mit Unbehagen zur Kenntnis nehmen, daß die an politischer Potenz gewinnenden Rechtskräfte sich mit nationalistischer Phraseologie propagandistisch erfolgreich darum bemühten, ihr konzeptionell und personell das wehrpolitische Monopol zu entwinden. Vor diesem Hintergrund konnten die außenpolitischen Revisionsforderungen und militärischen Planungsvorhaben nach Ansicht der Reichswehrführung, als deren politischer Kopf sich General v. Schleicher bis über die Mitte des Jahres 1932 hinaus verstehen durfte, einer innenpolitisch wirksamen Strategiekomponente nicht entraten158.

157

Siehe dazu zusammenfassend Wilhelm Deist: „Die Aufrüstung der Wehrmacht“. In: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. I, S. 371 ff.; Michael Geyer: Aufrüstung oder Sicherheit. Die Reichswehr in der Krise der Machtpolitik 1924 – 1936. S. 286 ff.

158

Zum tagespolitisch bedingten Ineinandergreifen von Innen-, Außen- und Wehrpolitik vgl. die grundsätzlichen Ausführungen RWeM v. Schleichers in der Ministerbesprechung vom 15. August 1932 (s. diese Edition: Das Kabinett v. Papen).

[LV] Dem General genügte – anders als manchen Offizieren der alten Seecktschen Schule – die bloße Fixierung auf die Wiedergewinnung eines außenpolitischen Machtinstruments nicht. Schon seine Distanzierung von Brüning, und nach dem SA-Verbot auch von Groener, dürfte ihre Ursache darin gehabt haben, daß deren Politik seiner Ansicht nach die Stärkung der Wehrbereitschaft im Innern vernachlässigte. Als Reichswehrminister im Papen-Kabinett hatte er nach dem faktischen Fall der Reparationsverpflichtungen in Lausanne erheblichen Einfluß auf den Entschluß der Reichsregierung genommen, ihre weitere Mitarbeit an der Genfer Abrüstungskonferenz von der zweifelsfreien Anerkennung des militärischen Gleichheitsgrundsatzes als Vorbedingung und nicht als Verhandlungsziel abhängig zu machen. Mit der Kommentierung des am 23. Juli 1932 erfolgenden Rückzugs von der Konferenz hatte er die militärpolitischen Vorstellungen der Reichswehrführung aus der Grauzone halbgeheimer Planungen in das Licht der in- und ausländischen Öffentlichkeit getragen. Einerseits hatte er für den Fall des Scheiterns der Gleichberechtigungsforderung den „Umbau der deutschen Wehrmacht“ bekanntgegeben, andererseits gegen den Anspruch einzelner sich im Schlepptau politischer Parteien befindlicher Wehrverbände die Entschlossenheit der Reichswehr bekundet, die den Streitkräften im Staate zugewiesene Aufgabe mit niemandem zu teilen158a.

158a

Rundfunkrede des RWeM vom 26.7.1932 (Auszüge bei Horckenbach 3 (1932), S. 260) und Aufsatz des RWeM u. d. T. „Um Deutschlands Sicherheit“ in: Der Heimatdienst, XII. Jg., Nr. 17 vom September 1932, S. 258 f.

 

In seiner Programmrede vom 15. Dezember 1932 zitierte v. Schleicher jene Vorwürfe, die kritisierten, daß er „in groben Militärstiefeln marschiere und damit viel diplomatisches Porzellan zerschlagen hätte“, indem er von Aufrüstung gesproche habe159. Für Kenner der diplomatischen Szene besaßen Schleichers Äußerungen keineswegs einen so eindeutig bedrohlichen Charakter. Die deutschen Umbauplanungen waren international durchaus bekannt. Der französischerseits von Ministerpräsident und Außenminister Herriot am 14. November 1932 vorgelegte plan constructif hatte kompromißhaft das deutsche Anliegen beantwortet, Gleichheit und Sicherheit in einer international erträglichen Form zu vereinigen, indem er den Umbau der Wehrstruktur, die Kombination von kurz- und langdienenden Truppen, zum Kernstück kommender Rüstungsverhandlungen machte. Bei allen Vorbehalten, die gegenüber der Unvoreingenommenheit des französischen Botschafters in Berlin, François-Poncet, der ein persönliches Interesse an der deutsch-französischen Annäherung sowie ein freundschaftliches Verhältnis zu v. Schleicher pflegte, zu machen sind, dürfte der Tenor seiner diplomatischen Berichterstattung dennoch richtig gewesen sein: Er glaubte nicht an eine außenpolitisch ernstzunehmende Zuspitzung der Lage und sah in Schleichers nationalistischen und militaristischen Parolen eher den Versuch, der rechtsradikalen Propaganda den Wind aus den Segeln zu nehmen. Am Tage des Regierungswechsels sah er, gestützt auf ein vorangehendes Gespräch mit dem kommenden Kanzler, in dessen Vorgehen nicht nur eine in die „Querfront“-Bemühungen mündende Krisenbewältigungsstrategie, sondern erkannte[LVI] darin auch das bereits eingangs geschilderte, weitergehende Ringen um eine dem Parteien- und Verbändeeinfluß entzogene Neukonstituierung der Gesamtgesellschaft und der Regierungsgewalt160.

159

Dok. Nr. 25.

160

François-Poncet an Herriot, 3.12.1932 (DDF, 1ère Série, Bd. 2, Dok. Nr. 62); ähnlich, jedoch noch mit Vorbehalten hinsichtlich der außenpolitischen Konsequenzen: François-Poncet an Herriot, 22.9.1932 (DDF, 1ère Série, Bd. 1, Dok. Nr. 205).

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