2.16 (vsc1p): Nr. 16 Vermerk über Besprechungen des Bayerischen Ministerpräsidenten mit dem Reichskanzler und dem Reichsjustizminister am 10. Dezember 1932

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[57] Nr. 16
Vermerk über Besprechungen des Bayerischen Ministerpräsidenten mit dem Reichskanzler und dem Reichsjustizminister am 10. Dezember 19321

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Das ungezeichnete Dokument ist im Original mit der Überschrift „Vormerkung“ versehen und weist als Enstehungsort und -datum „Berlin, den 10. Dezember 1932“ auf. Es ist – wie aus dem Aktenzusammenhang ersichtlich – aller Wahrscheinlichkeit nach von MinDir. Sperr gefertigt und von diesem an das BayerAMin. gesandt worden.

BayerHStA, MA 103302

Am 10. ds. Mts. 1 Uhr nachmittags hat Herr Ministerpräsident, den ich begleitete, den Reichskanzler besucht2. In der Rücksprache, die eine Stunde dauerte, wurde zuerst die politische Lage im großen besprochen. Hierbei ist vor allem die Auffassung des Reichskanzlers hervorzuheben, daß die Verwendung der schwersten Waffen – Ausnahmezustand, Einsatz der Wehrmacht usw. – so lange wie möglich hinausgeschoben werden müsse und daß sie nur von ganz vorübergehender Dauer sein dürfe. Mit dem Reichstag will der Kanzler solange als irgend möglich zusammenarbeiten.

2

Über die Vorgeschichte des Besuchs berichtet MinPräs. Held in der bayer. Ministerratssitzung vom 14.12.1932: „Er habe Wert darauf gelegt, daß die mit dem früheren Reichskabinett eingeleiteten Verhandlungen, die die Sicherung der Länder gegen die durch die Neuregelung in Preußen eingetretene Gleichgewichtsverschiebung bezweckten, nicht zum Stillstand kämen. Das Kabinett von Papen sei nur mit innerem Widerstand an die Frage herangegangen. In Besprechungen mit Reichsinnenminister Freiherrn von Gayl und Reichsjustizminister Gürtner sei nach langwierigen Verhandlungen ein Vereinbarungsentwurf zustande gekommen, der inhaltlich sich mit den bayerischen Forderungen gedeckt habe. Die beiden Reichsminister hätten zugesichert die Punktationen im Reichskabinett zu vertreten; sie seien der Auffassung gewesen, daß sich die Vereinbarung zur Annahme durch das Kabinett eigne; sollten sich dennoch Schwierigkeiten ergeben, so sollten die Verhandlungen wieder aufgenommen werden. Erst nach längerer Pause habe Herr von Gayl Ministerialdirektor Sperr mitgeteilt, daß die Punktationen im Kabinett Schwierigkeiten begegnet seien; er bäte daher das Problem der Reichsreform nicht weiter zu verfolgen. Auf den Hinweis, daß der Vereinbarungsentwurf doch auch Sofortmaßnahmen vorsehe, die verwirklicht werden müßten, habe er keine befriedigende Antwort bekommen.“ (Niederschrift der Ministerratssitzung vom 14.12.1932; BayerHStA, MA 99524) – Zum Vereinbarungsentw. sowie zur Vorbereitung des Gesprächs mit RK v. Schleicher vgl. auch Dok. Nr. 6.

Über die Nationalsozialisten äußerte sich der Kanzler dahin, daß die nationalsozialistischen Neigungen des Reichsheeres als überwunden anzusehen seien. Als den einzig positiv eingestellten Führer der Nationalsozialisten bezeichnete er Strasser. Aus allen Äußerungen ging hervor, daß der Kanzler die nationalsozialistische Gefahr als überwunden ansieht; er sah allerdings auch keinen Weg, die Nationalsozialisten zu praktischer Mitarbeit zu bringen.

Eine wesentliche Rolle spielte in der Unterhaltung die Preußenfrage3. Der Kanzler sprach auch hier wieder davon, daß man eine de facto-, keine de-iure-Lösung[58] anstreben müsse. Er definierte dies dahin, daß in Preußen ein Ministerpräsident gewählt werden müsse, mit dem er vertrauensvoll zusammenarbeiten könne, so daß tatsächlich die politische Gleichrichtung Reich–Preußen gesichert sei. Der Preußische Ministerpräsident solle gleichzeitig Mitglied des Reichskabinetts werden. Als Ideallösung bezeichnete er die Personalunion zwischen Reichskanzler und Preußischem Ministerpräsidenten; sie sei aber in absehbarer Zeit kaum zu erreichen.

3

Vgl. dazu die in den Grundzügen übereinstimmende, in Einzelheiten aber abweichende Darstellung des Gesprächsverlaufs durch MinPräs. Held: „Reichskanzler von Schleicher habe in 1¼ stündiger Besprechung seine politische Auffassung und seine Absichten entwickelt. Die Politik des letzten Halbjahres gedenke er nicht fortzuführen. Eine genügende Verbindung zwischen Reich und Preußen scheine ihm dadurch hergestellt, daß der preußische Ministerpräsident als Reichsminister ohne Portefeuille im Reichskabinett vertreten sei. Eine Vereinigung von Reichsministerien mit preußischen Ministerien erübrige sich; eine solche Vereinigung sei auch deshalb nicht empfehlenswert, weil die Geschäfte eines Reichsministeriums und des entsprechenden preußischen Staatsministeriums von einer einzelnen Persönlichkeit nicht mehr überblickt und nicht bewältigt werden könnten. Solange eine Regierungsbildung in Preußen nicht erfolgt sei, bleibe allerdings nichts anderes übrig, als den bisherigen Zustand zu belassen; er gebe zu, daß durch die Neuregelung in Preußen eine Verschiebung zu Ungunsten der übrigen Länder erfolgt sei; ein rechtlicher Ausgleich sei aber gegenwärtig nicht möglich. Im Wege des Art. 48 RV könne eine Reichsreform nicht gemacht werden. Den Reichstag für eine Lösung dieser Frage zu gewinnen, sei ausgeschlossen. Ein Ausgleich für die Länder könne daher nicht de jure, sondern nur de facto gefunden werden; er denke daran, daß ein solcher Ausgleich in Form der Tolerierung gefunden werden könne, aus der sich eine Übung herausbilden könne. Schleicher habe gebeten, die Verhandlungen fortzusetzen.“ (Niederschrift der Ministerratssitzung vom 14.12.1932; a.a.O.).

Nach Auffassung des Reichskanzlers werden die Verhandlungen über eine Regierungsbildung in Preußen erst in der 2. Januarhälfte wieder aufgenommen werden können. Über die Aussichten dieser Verhandlungen äußerte er sich nicht; er gab nur der Erwartung Ausdruck, daß das Zentrum sich nicht zur Bildung eines Kampfkabinetts in Preußen, wie es die Nationalsozialisten anstrebten, bereit finden werde. Gegenüber dem Drängen des Herrn Ministerpräsidenten, daß bei der hiernach noch vorauszusehenden Dauer des Reichskommissariats die anderen Länder sichergestellt werden müßten, wich der Reichskanzler sichtbar aus. Man könne sich über die Gegenleistungen an die anderen Länder erst verständigen, wenn die endgültige Lösung feststehe. Auch die Personalunion Reichsinnenminister – Preußischer Innenminister könne erst dann aufgehoben werden, so sehr Bracht jetzt schon dränge.

Der Herr Ministerpräsident übergab dann die anliegende Aufzeichnung4. Auch hierbei zeigte sich das unverkennbare Bestreben des Kanzlers, sich nicht festzulegen. Abgesehen davon, daß er eine Zwischenregelung für unnötig hält und sich lediglich vorbehält, von Fall zu Fall vor etwa zu ergreifenden Maßnahmen die bayerische Vertretung zu hören, wollte er vor allem keine schriftliche Festlegung. Der Herr Ministerpräsident wies demgegenüber darauf hin, daß die Einigung zwischen Reich und Bayern völlig vertraulich behandelt werden solle. Er bat abschließend den Kanzler um Prüfung der Aufzeichnung, was zugesagt wurde5.

4

Dabei handelt es sich um die teilweise Wiederaufnahme der in den Reich-Länder-Verhandlungen vom 11. und 12.11.1932 vorgetragenen Forderungen (vgl. Dok. Nr. 6, Anm. 2).

5

Einzelheiten dazu s. u. Anm. 15.

Eine Verfassungsreform lehnt der Kanzler a limine ab. Die bekannte Punktation habe im Reichskabinett schon den größten Widerstand erregt (R.Fin.- Minister!).

Nachmittags besprach der Herr Ministerpräsident mit dem Reichsjustizminister die Amnestiefrage6. Es liegt dem Reichskabinett anscheinend sehr viel[59] daran, daß im Reichsrat nicht Einspruch eingelegt wird, da es sonst Komplikationen mit dem Reichstag befürchtet. Juristisch gesehen sei die Amnestie nach ihrem ganzen Inhalt allerdings ein Unding, meinte der Reichsjustizminister; man müsse aber diese Frage rein politisch betrachten. Der Einspruch bedeute nur eine Verschiebung, da der Reichstag im Januar seinen Entschluß sicher bestätigen werde, wobei die Trennung zwischen den bürgerlichen und den 3 sozialistischen Parteien in erneuter Schärfe hervortrete und auch Verschlechterungen des Gesetzentwurfs zu erwarten seien. Die Reichsregierung werde bereit sein, dem Reichsrat durch eine allenfalls gewünschte Erklärung über die Stellungnahme der Reichsregierung eine Brücke zu schlagen.7

6

Zum Gesamtzusammenhang vgl. Dok. Nr. 5, P. 2.

7

Eine in den Kontext der Beratungen des RKab. eingefügte detailliertere Darstellung des Gesprächsverlaufs findet sich in Dok. Nr. 24, Anm. 2. Dort auch Hinweise zum Fortgang der Angelegenheit.

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