1.3 (wir1p): III Oberschlesien

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 20). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Wirth I und II (1921/22). Band 1Bild 146III-105Bild 183-L40010Plak 002-009-026Plak 002-006-067

Extras:

 

Text

[LII] III Oberschlesien

Bei seiner Regierungsübernahme fand Wirth das oberschlesische Abstimmungsgebiet in einer Konfliktsituation vor: am 3. Mai 1921 waren polnische Insurgenten unter der Führung des ehemaligen Plebiszitkommissars Korfanty in das unter der Verwaltung der alliierten Abstimmungskommission stehende Gebiet235 eingedrungen, um in einem dritten oberschlesischen Aufstand die polnischen Ansprüche auf weite Teile des Industriegebietes zu unterstützen.

235

Siehe Dok. Nr. 1, Anm. 1.

Nachdem am 20.3.1921 die im Versailler Vertrag festgelegte Abstimmung stattgefunden und sich dabei im Grenzbezirk in den größeren Städten eine deutsche, in zahlreichen Landgemeinden aber eine polnische Mehrheit ergeben hatte, sollte die Interalliierte Abstimmungskommission, die unter dem Vorsitz des Generals Le Ronde stand, den alliierten und assoziierten Hauptmächten eine Grenzlinie „unter Berücksichtigung sowohl der Willenskundgebung der Einwohner als auch der geographischen und wirtschaftlichen Lage der Ortschaften“ vorschlagen236. Hierüber war es jedoch bis zum Zeitpunkt des Korfanty-Aufstandes zu keiner Einigung gekommen, – die italienischen und britischen Vertreter lehnten die Vorstellungen des Generals Le Ronde, nach denen das Industriegebiet insgesamt trotz deutscher Mehrheiten weitgehend abgetreten werden sollte, ab. Während die deutsche Regierung den Standpunkt vertrat, daß das umstrittene Gebiet Deutschland zufallen müsse, weil die Abstimmung insgesamt eine deutsche Mehrheit erbracht hatte, beanspruchten die Polen nach der oben zitierten Regelung des Versailler Vertrages weite Teile des Industriegebietes. Der polnische Einmarsch war am 9. Mai durch den Waffenstillstand mit der Interalliierten Abstimmungskommission nur zum Stehen gebracht worden; für die neue Reichsregierung ergab sich aus dieser Lage die Notwendigkeit zu sofortiger politischer Aktivität.

236

Siehe § 5 der Anlage zu Art. 99 des VV.

Die Polen waren bei ihrem Vordringen nur auf schwachen Widerstand gestoßen, den in der Hauptsache die wenigen italienischen Besatzungstruppen geleistet hatten, während sich die Franzosen, die das Hauptkontingent der Besatzungstruppen stellten, zurückgehalten hatten. Dem Auswärtigen Amt, dem die Federführung in den Verhandlungen mit der Interalliierten Abstimmungskommission oblag, gelang es offenbar, England für eine Verstärkung der Besatzungstruppen zu gewinnen und dadurch die deutsche Position zu stärken237. Das Kabinett ließ sich über diese Ereignisse informieren und war in Fragen der Versorgung Oberschlesiens und in den mit dem oberschlesischen Selbstschutz zusammenhängenden Angelegenheiten maßgebend beteiligt238.

237

Siehe Dok. Nr. 13 u. D’Abernon, Botschafter, Bd 1, S. 200 f.

238

Zur Bildung der Selbstschutzverbände s. Hoefer, Oberschlesien, S. 110 ff.

In einer Note vom 19.5.1921 an den Reichskanzler hatte der französische Botschafter Laurent im Auftrag seiner Regierung u. a. gefordert, das Reich solle die Grenze zwischen dem deutschen Gebiet und dem Abstimmungsgebiet[LIII] gegen das Eindringen von Freiwilligen und Waffen für den oberschlesischen Selbstschutz abriegeln. Die Reichsregierung kam dem unter Vorbehalten nach und nutzte im übrigen ihre direkten Kontakte zum Selbstschutz, um dessen Bewegung zu steuern und unter Kontrolle zu halten239. Insbesondere Seeckt hatte wiederholt darauf hingewiesen, daß eine umfangreiche Bildung von Freiwilligencorps nicht im Reichsinteresse liegen konnte, und auf den Erlaß einer gegen die Aufstellung solcher paramilitärischen Verbände gerichteten Verordnung hingewirkt240. Über die Truppenbewegungen des unter der Leitung des ehemaligen Generals Hoefer stehenden Selbstschutzes241 berichtete Außenminister Rosen dem Kabinett mehrfach, und das Kabinett bemühte sich um Direktiven, die auf der Linie des vom Reichskanzler formulierten Grundsatzes lagen, der Selbstschutz müsse alles vermeiden, was die Lage in Oberschlesien verschärfen könne, denn das Schicksal dieses Gebietes werde nicht in militärischer Auseinandersetzung, sondern auf interalliierten Konferenzen fallen242. Den militärischen Erfolgen des Selbstschutzes, durch die Einnahme des Annaberges bekanntgeworden, folgte eine Phase der Verhandlungen zwischen General Hoefer und dem britischen General Henneker, die einen Rückzugsplan für die deutsche und die polnische Seite vorbereiteten243. Dem endgültigen Räumungsplan stimmte das Kabinett unter dem Vorbehalt zu, das Auswärtige Amt sollte außerdem bei den Ententemächten schriftlich auf die Notwendigkeit einer baldigen Entscheidung über Oberschlesien und die Verpflichtung der Interalliierten Abstimmungskommission, bis dahin für geordnete Verhältnisse zu sorgen, hinweisen244.

239

Siehe Dok. Nr. 7, Anm. 1 u. Dok. Nr. 10, Anm. 4.

240

Siehe Dok. Nr. 13, Anm. 3 u. Dok. Nr. 30, P. 4.

241

Zu seiner Instruktion durch den RK s. Hoefer, Oberschlesien, S. 147 ff.

242

Siehe Dok. Nr. 23, P. 6; Dok. Nr. 32; Dok. Nr. 33, P. 4.

243

Siehe dazu Hoefer, Oberschlesien, S. 159–165 u. Dok. Nr. 34a, Anm. 2.

244

Siehe Dok. Nr. 32, Anm. 4 u. Dok. Nr. 34.

Nach offiziell vollzogener Räumung und Auflösung des Selbstschutzes stellte eine französische Note eine Entscheidung über das Abstimmungsgebiet unter gewissen Vorbehalten noch für August in Aussicht245, am 12.8.1921 hatte jedoch der Oberste Rat die Lösung der oberschlesischen Frage an den Völkerbund überwiesen.

245

Siehe Dok. Nr. 50, Anm. 8; zur Auflösung des Selbstschutzes s. Dok. Nr. 94.

Die ersten Gerüchte über die bevorstehende Entscheidung in Genf führten bereits in der Kabinettssitzung vom 10.10.1921 zur Erörterung der Demissionsfrage: Die Regierung, die wegen ihrer Erfüllungspolitik zweifellos außenpolitisch über einiges Kapital verfügte, erwog den Rücktritt aus Protest gegen die bevorstehende Lösung und hoffte, durch diese Drohung eine günstigere Entscheidung zu bewirken. Wegen des zu erwartenden Berichtes des deutschen Botschafters Sthamer über eine englische Interventionsbereitschaft fiel jedoch keine Entscheidung hierüber246. Nachdem am 12.10.1921 Sthamer mit seinem Bericht Klarheit darüber geschaffen hatte, daß England ein Eingreifen nicht beabsichtige, bildeten sich in der Diskussion um die Frage des Kabinettsrücktritts[LIV] klare Fronten: Wirth, Gradnauer und Schmidt sprachen sich entschieden gegen die Demission aus, während Brauns, Hermes, Rosen, Rathenau, Stegerwald und etwas unklar Schiffer für den Rücktritt plädierten. Später trat Geßler dieser Gruppe bei247. Bauer, Giesberts und Groener äußerten ihre Meinung nicht, Bauer zumindest hatte sich aber schon früher dagegen festgelegt248. Über einen Vermittlungsvorschlag des Reichspräsidenten, den Wirth nach einer Unterbrechung der Sitzung dem Kabinett vortrug und der eine Protesterklärung der Regierung vorsah, die die Demissionsfrage offenlassen sollte, konnte das Kabinett sich nicht einigen, so daß noch am selben Tag eine Ministerratssitzung einberufen werden mußte249.

246

Siehe Dok. Nr. 108, Anm. 2 u. 3.

247

Siehe Dok. Nr. 111.

248

Siehe Dok. Nr. 108.

249

Siehe Dok. Nr. 111 u. Dok. Nr. 112.

Der Reichspräsident vertrat die Auffassung, die im übrigen Bauer schon früher im Kabinett ausgesprochen hatte250, daß vor allem in Krisensituationen die Politik fest in Händen der Regierung bleiben müsse. Schließlich konnte sich das Kabinett auf eine gemeinsame Presseerklärung festlegen. Im übrigen faßte Wirth das Ergebnis dieser Sitzung vor dem Interfraktionellen Ausschuß dahingehend zusammen, man habe die Demission als Druckmittel auf die Genfer Entscheidung abgelehnt, eine weitere Entscheidung aber aufgeschoben.

250

Siehe Dok. Nr. 108.

In der genannten Besprechung des Interfraktionellen Ausschusses zeichnete sich bereits die spätere Haltung der Parteien ab: Marx und Koch erklärten sich – allerdings nicht auf Grund formeller Fraktionsbeschlüsse - für den Rücktritt, während Wels und Müller dagegen argumentierten251.

251

Siehe Dok. Nr. 112, Anm. 4 u. Dok. Nr. 114.

Am 21.10.1921 wurde im Kabinett bekannt, daß der Oberste Rat die Genfer Entscheidung akzeptiert und in einer Note vom 20.10.1921 für die deutsche Regierung verbindlich gemacht hatte; für den Fall einer Weigerung waren Maßnahmen zur Durchführung der Entscheidung angedroht252. Nachdem sich im Interfraktionellen Ausschuß am 22.10.1921 herausgestellt hatte, daß Zentrum und DDP für eine Demission des Kabinetts stimmen würden, trat die Regierung Wirth am 22.10.1921 aus Anlaß der Entscheidung über Oberschlesien zurück253.

252

Siehe Dok. Nr. 117, Anm. 1 u. 2.

253

Siehe Dok. Nr. 118; Dok. Nr. 119 u. Dok. Nr. 120.

Bei der Durchführung der Teilung Oberschlesiens war das Kabinett nur noch in Verwaltungsfragen beteiligt – etwa bei der Besetzung der verschiedenen Kommissionen, die im Einvernehmen mit Preußen zu geschehen hatte, oder der Verabschiedung von Vollzugsgesetzen. Wirth hatte seinen ehemaligen Justizminister Schiffer zum Reichsbeauftragten für die Verhandlungen mit Polen ernannt, und nicht einmal hierüber ist Genaueres aus den Akten der Reichskanzlei zu erfahren. Schiffer hatte dem Kabinett nur einmal über die Verhandlungen, die unter dem Vorsitz des Schweizers Calonder in Genf stattfanden, berichtet, bevor sie mit dem am 15. Mai 1922 paraphierten Abkommen endeten254.

254

Siehe Dok. Nr. 159, P. 1 u. Dok. Nr. 290, Anm. 8.

Extras (Fußzeile):