2.103.1 (wir1p): [Beteiligung der Landwirtschaft an der Kreditaktion der deutschen Industrie.]

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[Beteiligung der Landwirtschaft an der Kreditaktion der deutschen Industrie.]

Der Reichskanzler dankt den Herren für ihr Erscheinen und teilt ihnen den bisherigen Gang der Verhandlungen mit Industrie und Banken über die beabsichtigte Kreditaktion mit1. Er betont insbesondere, daß ein deutliches Opfer des Besitzes notwendig sei, sowie, daß neben dem Problem der einmaligen Beschaffung eines großen Betrages an Devisen auch die Frage des dauernden Flusses der Devisenquelle gelöst werden müsse.

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Siehe Dok. Nr. 82, insbesondere Anm. 6 letzter Absatz; Dok. Nr. 91 und Dok. Nr. 93.

Exzellenz von Schorlemer dankt dem Reichskanzler, daß die Landwirtschaft bereits in diesem Stadium an den Verhandlungen beteiligt wird. Den Kernpunkt des Problems sieht er in der Goldbeschaffung, zu der die Erschienenen noch keine Stellung hätten nehmen können, da ihnen das Thema der heutigen Erörterung nicht bekannt gewesen sei. Betonen müsse er, daß die Landwirtschaft im Gegensatz zur Industrie und den Banken keine Auslandswerte zur Verfügung habe. Es beständen schwere wirtschaftliche Bedenken, die Sachwerte der Landwirtschaft zur Lösung des Problems heranzuziehen, denn es sei zu befürchten, daß das Verlangen einer Opferung der Sachwerte die Unlust, mehr zu produzieren, vielleicht sogar eine geringere Erzeugung im Gefolge haben werde. Er warne jedenfalls davor, ohne Fühlung mit der Landwirtschaft weitere Schritte zu unternehmen.

Wünschenswert sei es, einen Weg zu finden, auf dem die Landwirtschaft sich freiwillig beteiligen könne. Sie würde auch grundsätzlich gern bereit sein, an die vom Reichskanzler gestellte Frage heranzutreten, ob eine alsbaldige Zahlung eines weiteren Teils des Reichsnotopfers in Frage kommen könne. Grundsätzlich müsse er betonen, die sogenannte „Erfassung der Sachwerte“ würde den Anfang vom Ende bedeuten, denn der steuerliche Erfolg würde ausbleiben, die Wirtschaft aber zerstört werden.

Reichskanzler Zur Prüfung der Frage einer weiteren Zahlung auf das Notopfer würde eine Kommission ins Reichsfinanzministerium berufen werden.[287] Würden in den nächsten Jahren weitere Teile des Reichsnotopfers2 erhoben, so müßte die Reichsvermögenssteuer anders angefaßt werden. Jedenfalls könne auf ein deutliches Opfer des Besitzes nicht verzichtet werden.

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Das Gesetz, betreffend die beschleunigte Veranlagung und Erhebung des Reichsnotopfers vom 22. Dezember 1920 (RGBl. 1920 II, S. 2114 ) bestimmte in § 1 u. a.: „Das Reichsnotopfer (§ 1 des Gesetzes über das Reichsnotopfer vom 31. Dezember 1919, RGBl. S. 2189 ) ist, soweit es 10 vom Hundert des abgabepflichtigen Vermögens nicht übersteigt, mindestens aber zu einem Drittel der [in § 24 des oben zitierten Gesetzes festgesetzten] Abgabe beschleunigt zu entrichten. Die Abgabe ist bis zur Höhe eines Drittels in zwei gleichen Teilbeträgen am 1. März und am 1. November 1921 zu zahlen. Der überschießende Teil (bis zu 10 vom Hundert des abgabenpflichtigen Vermögens) ist bis zum 1. Mai 1922 zu zahlen.“

Abgeordneter Dietrich: Die landwirtschaftlichen Organisationen müßten zunächst unter sich Stellung nehmen.

Exzellenz von Schorlemer tritt dieser Auffassung bei. Die heutige Besprechung sei jedoch zum Zwecke der Information nötig.

Dr. Heim: In Frage stehe eine hochpolitische Aktion zur Erfüllung des Londoner Ultimatums. Es müsse genau geprüft werden, ob die Landwirtschaft nicht auf einen Weg gezogen würde, auf dem sie zwar dem Auslande etwas geben, aber dem Inland das Letzte nehmen solle. Auch er betone, daß die Landwirtschaft im Gegensatz zu Banken und Industrie keine Auslandswerte hätte. Jede Belastung der Produktionsstätten führe erfahrungsgemäß zum Rückgang der Produktion. Die erste Notwendigkeit sei, die Milliarden für Ernährungszuschüsse aus der Welt zu schaffen. Geschähe dies nicht, so würden wir ständig steigende Opfer dem Ausland bringen. Wir müßten uns aus der eigenen Scholle ernähren. In dieser Richtung müsse die Landwirtschaft jedes Opfer bringen, ihre Führer auch den dazu nötigen Zwang ausüben. Für dieses Ziel müsse die Landwirtschaft auch bereit sein, Schulden aufzunehmen. Wer hier nicht mithelfen wolle, der müsse steuerlich rücksichtslos belastet werden.

Durch Saatgutauswahl, Bodenauswahl und zweckmäßige Düngung könne man die landwirtschaftliche Produktion ungeheuer steigern. Es zeige sich bei ihr bereits eine intensive Schaffensfreudigkeit. In der Steigerung der Produktion müsse das Opfer der Landwirtschaft liegen.

Reichskanzler Die Ausführungen des Dr. Heim seien außerordentlich beachtlich, aber die von ihm vorgeschlagenen Zwangsmaßnahmen würden zu sehr großen Schwierigkeiten führen, insbesondere die Strafbefugnisse, die er für die Organisationen in Anspruch nehmen wolle.

Dr. Heim: Drei Hauptmißstände seien in der Landwirtschaft zu beseitigen. Die schlechte Fruchtfolge, die Unkrautwirtschaft mit unausgelesenem Saatgut und die falsche Düngung. Diese Mißstände müßten dezentralisiert beseitigt werden. Aus den bestehenden Organisationen müßten sich Kommissionen bilden, die für jeden Bezirk seine Arbeitsprogramme aufstellten. Hier müsse nötigenfalls zum Zwang gegriffen werden, nämlich zu Geldstrafen oder stärkerer steuerlicher Belastung.

Kommerzienrat Raabethge: Die Gesundung der Volkswirtschaft liege in der Steigerung der Produktion. Durch das Reichsnotopfer aber würden der Landwirtschaft die Mittel zur dieser Steigerung entzogen. Man dürfe ihr nicht die[288] Betriebsmittel zur Intensivierung nehmen. Durch eine Belastung der Substanz und ihre Verzinsung würde nur Papier aufgebracht werden.

Reichskanzler Er möchte hier gleich bemerken, daß er ein Gegner der Veräußerung der Goldbelastung ans Ausland sei.

Freiherr von Richthofen: Die Steigerung der Produktion würde von der Landwirtschaft bereits gefördert, die Organisationen müßten hierbei helfen. Dieses Bestreben würde durch die Agitation, die gegen die Landwirtschaft in Versammlungen und Presse getrieben würde, erschwert. Die Landwirtschaft müsse dazu kommen, die Viehhaltung freiwillig einzuschränken, den Rest des Viehs besonders gut zu halten und die Brotproduktion zu steigern. Er müsse auch darauf hinweisen, daß die Industrie ausverkauft würde. Die Landwirtschaft bekomme keine Maschinen, die Bauern bekämen keine Leinwand. Diesem Ausverkauf müsse entgegengetreten werden.

Der Reichskanzler weist darauf hin, daß die Ansichten über diesen „Ausverkauf“ ständig wechselten.

Dr. Mehnert unterstreicht die Ausführungen des Herrn von Richthofen über die Maschinenbeschaffung. Englische und amerikanische Maschinen würden in starkem Maße importiert, da unsere Industrie ihre Herstellung vernachlässige. Hierin müsse die heimische Industrie mehr tun.

Einen Eingriff in die Substanz der Landwirtschaft halte er für außerordentlich gefährlich, die Produktionssteigerung würde darunter sicherlich leiden. Auch er glaube, daß ein Zwang zur Produktionssteigerung geübt werden müsse, der moralische Zwang würde kaum genügen.

Es erscheine verständlich, daß man an die Einziehung eines weiteren Teiles des Notopfers denke, aber viele Landwirte würden es nicht leisten können. Die Düngemittel seien im Preise um das 15- bis 20fache gestiegen. Die notwendige Ergänzung des Inventars könne kaum erfolgen, die zurückgezahlten 3%igen Hypotheken müßten zu höherem Zinssatz wieder aufgenommen werden. Alle diese Umstände stimmten doch bedenklich gegen ein weiteres Reichsnotopfer.

Dr. Roesicke: Die Leiter der Organisationen könnten sich heute nicht binden, er könne daher nur für sich selbst sprechen. Die Landwirtschaft würde unter keinen Umständen bei dem Opfer zurückstehen, durch das dem Reich ermöglicht werden solle, seinen Verpflichtungen gerecht zu werden. Die Frage sei nur, wie dies geschehen könne. Er stimme den Ausführungen Dr. Heims zu. Die Industrie könne Devisen bringen; durch die Tätigkeit der Landwirtschaft dagegen könne dem Reich nur ein Teil der Devisenbeschaffung erspart werden, nämlich durch die Steigerung der Produktion. In Zwang und Strafen könne er keinen Vorteil sehen, vielleicht kämen aber Prämien in Frage. Die sogenannte Goldhypothek hätte nur Wert, wenn die Zinsen in Gold gezahlt werden müßten. Dies sei aber der Landwirtschaft unmöglich. Man muß berücksichtigen, daß ein Grundstück von einem Friedenswert von 1 Million Mark jetzt nur 10 000 Dollar Wert sei. Infolgedessen könnten eigentliche Goldhypotheken gar nicht aufgenommen werden.

Die Einziehung eines weiteren Drittels des Notopfers würde seines Erachtens besser unterbleiben. Nur wenige würden es aus baren Mitteln bezahlen können, die meisten müßten Hypotheken aufnehmen oder Land abtreten.

[289] Zusammenfassend wolle er bemerken, daß es die Aufgabe der Landwirtschaft sei, ein Äquivalent für die Devisenlieferung der Industrie zu schaffen.

Reichskanzler Das Opfer der Landwirtschaft wäre die Investierung von Kapital zwecks Steigerung der Produktion. Dies sei nur mit Hilfe der Organisationen möglich. Er müsse aber darauf hinweisen, daß auch unter den Anwesenden gegen diesen Plan sich Gegnerschaft zeige.

Ökonomierat Rossdeutscher: Die Frage sei, wieviel die Landwirtschaft opfern solle. Dies sei noch nicht klargestellt. Das zweckmäßigste Opfer sei die Intensivierung der Wirtschaft und damit die Steigerung der Produktion. Derartige Bestrebungen seien bei den Organisationen der Landwirtschaft bereits im Gange. Fraglich sei allerdings, ob auf diesem Wege, nötigenfalls auch mit Zwang, dem Reich die erforderlichen Mittel schnell genug zur Verfügung gestellt werden könnten. Aus diesem Grunde sei die Idee der weiteren Einziehung des Reichsnotopfers jedenfalls sehr beachtlich, denn das würde schnellere Hilfe bringen.

Wenn eine Hebung der gesamten Wirtschaft eintreten solle, so müßten wir zunächst zum Wirtschaftsfrieden kommen. Gehe die Verhetzung, wie sie infolge der Ermordung Erzbergers eingesetzt habe, weiter, so sei es unmöglich, an die ganze Frage heranzutreten.

Reichskanzler Seit Wochen bemühe er sich um eine Verbreiterung der Regierungsbasis3. Durch seine Bemühungen sei es auch gelungen, daß auf dem Görlitzer Parteitag4 der Weg nicht verbaut worden wäre. Jetzt müßten die von den Banken und der Industrie eingesetzten Kommissionen mit einer solchen der Landwirtschaft zusammenkommen, um ihre Gedanken auszutauschen. Dabei könne die Frage einer landwirtschaftlichen Bürgschaft oder eines anderen Weges erörtert werden.

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Siehe Dok. Nr. 87, P. 3; Dok. Nr. 102, und andere.

4

Siehe Dok. Nr. 82, Anm. 9.

Abgeordneter Dietrich: Der Heimsche Vorschlag würde der Regierung im Augenblick nicht helfen. Die Intensivierung der Wirtschaft würde nicht als Opfer anerkannt werden. Dem Gedanken einer weiteren Einziehung des Reichsnotopfers gegenüber verhalte er sich nicht ablehnend. Im ganzen könne er sich eine Mitwirkung aller erwerbenden Stände bei der Devisenbeschaffung wohl denken. Für den Zinsendienst dürfe aber nur der Ertrag in Anspruch genommen werden, nicht die Substanz. Ob wir allerdings die nötige Summe Gold bekämen, sei ihm zweifelhaft.

Kommerzienrat Raabethge: Wenn die Aktion der Industrie sich als durchführbar herausstelle, dann käme für die Landwirtschaft wohl eine Art Rückbürgschaft in Frage. Über die Einzelheiten könne gesprochen werden. Eine Form hierzu würde sich wohl finden lassen; im ganzen erscheine der Weg ihm gangbar.

Reichskanzler Der Weg sei noch völlig offen, eine Entscheidung sei erst nach der Münchener Tagung der Industrie möglich. Die anwesenden Herren müßten die Frage jetzt in ihrem Kreis durchsprechen und dann mit der Industrie und den Banken zusammen beraten. Dann würde es die Aufgabe der Regierung[290] sein, den Plan endgültig zu gestalten und ihn an den Reichswirtschaftsrat zu bringen.

Exzellenz von Schorlemer: Die Frage sei jetzt also, ob die Landwirtschaft sich durch eine freiwillige Offerte an der Aktion beteiligen wolle, sei es durch weitere Erfassung des Notopfers, sei es auf andere Weise. Jedenfalls müsse das Ergebnis von München zunächst abgewartet werden. Ihm persönlich würde eine direkte Beteiligung der Landwirtschaft sympathisch sein. Ginge dies nicht, so müsse man die weitere Einziehung des Notopfers erwägen, wobei allerdings Schwierigkeiten im Reichsvermögenssteuergesetz lägen. Eine Wiedereinführung von Zwang und Strafen würde seines Erachtens anders wirken, als Dr. Heim denke. Vielleicht käme auch noch der andere Weg in Frage, nämlich die Abbürdung der jetzt notwendigen Ernährungszuschüsse auf die Landwirtschaft.

Reichskanzler Ein freiwilliger Schritt der Landwirtschaft in irgendeiner Richtung müsse jedenfalls gemacht werden.

Dr. Heim: Er schrecke vor dem notwendigen Zwang nicht zurück, wenn jemand sein Eigentum in einer Weise verwalte, die der Allgemeinwirtschaft abträglich sei. Die Durchführung seines Planes würde allerdings erst in 5–10 Jahren zur vollen Wirkung kommen, aber in jedem Jahre würde bereits eine Besserung eintreten.

Dr. Roesicke erklärt nochmals, daß eine Gesundung nur durch Steigerung der Produktion möglich sei. Ein Zwang könne seines Erachtens nicht ausgeübt werden. Im übrigen müsse man erst die positiven Vorschläge der Industrie abwarten.

Der Reichskanzler schlägt vor, eine Pressenotiz ohne materiellen Inhalt zu veröffentlichen5. Die Anwesenden stimmten dem zu.

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Unter der Überschrift: „Reparationsberatung“ bringt der Vorwärts am 27.9.21 folgende Notiz: „Gestern trafen auf Einladung des Reichskanzlers führende Vertreter der deutschen Landwirtschaft und landwirtschaftlichen Großorganisationen in der Reichskanzlei zusammen, um die Möglichkeit einer Unterstützung der von der Industrie und den Banken geplanten Aktion für die Reparationsverpflichtungen zu erörtern. Die Erörterung hatte den Charakter einer Vorbesprechung und wird fortgesetzt werden, nachdem sich die Vertreter der Landwirtschaft mit ihren Organisationen ins Einvernehmen gesetzt haben.“ (Vorwärts Nr. 453 vom 27.9.21).

Hierauf wurde die Versammlung geschlossen.

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