2.201.1 (wir1p): 1. Der Streik der Eisenbahnbeamten.

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1. Der Streik der Eisenbahnbeamten1.

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Die Geldentwertung hatte schon Ende Dezember 1921 zu Unruhen unter den Arbeitnehmern geführt (siehe u. a. Dok. Nr. 178); die Ereignisse der voraufgegangenen Tage schildert eine undatierte und unsignierte historische Darstellung des Verlaufes des Streiks, die bis zum 9.2.22 reicht, wie folgt: „(Dienstag) 24. Januar: Zeitungsmeldungen machen Mitteilung von Streikabsichten der Reichsgewerkschaft [siehe Dok. Nr. 193, P. 6]. (Mittwoch) 25. Januar: Erlaß des Verkehrsministers gegen Beamtenstreiks; Aufforderung, volle Kraft einzusetzen. Androhung von disziplinaren Maßnahmen bei Dienstverweigerung [siehe Dok. Nr. 193 Anm. 6]. (Freitag) 27. Januar: Eingang des Ultimatums der Reichsgewerkschaft [zwei Entschließungen und eine Note vom 26.1.1922 in R 43 I /2120 , Bl. 74-77]. Inhalt: a) Wiederholung der Forderungen des Deutschen Beamtenbundes vom 3. Dezember 1921, unter Betonung der Notwendigkeit automatischer Anpassung aller Bezüge an die sinkende Kaufkraft des Geldes. – b) Zurückziehung des Referentenentwurfs zum Arbeitszeitgesetz [siehe Dok. Nr. 163, P. 5 b]. – c) Aufhebung aller Erlasse und Anordnungen, die bereits jetzt Einschränkung früherer Bestimmungen über 8-Stundentag bezwecken. Die Entscheidung binnen 5 Tagen. – (Sonnabend) 28. Januar: Anweisung an die Eisenbahndirektion über Verhaltungsmaßregeln im Falle Streikausbruchs. Aufklärung der Öffentlichkeit über Vorgehen der Reichsgewerkschaft und deren unberechtigte Forderungen [in R 43 I /2120 , Bl. 76 f.]. – (Montag) 30. Januar: Besprechung des Entwurfs einer Verordnung des Reichspräsidenten betreffend Verbot der Arbeitsniederlegung durch Beamten der Reichsbahn mit Parteiführern im Reichskabinett. – Ergebnis: Parteiführer stimmen sachlich Entwurf zu, sprechen sich gegen sofortige Veröffentlichung aus, erst nach Streikbeginn möchte Reichsregierung mit Verordnung herauskommen [Protokoll in R 43 I nicht ermittelt]. (Montag) 30. Januar: Warnung der Reichsregierung in offiziösem Kommuniqué an die Eisenbahnbeamten in den Streik zu treten. – (Dienstag) 31. Januar: Besprechung der Verordnung bei dem Reichspräsidenten. Verordnung ergeht nach Streikausbruch. Erklärungen des Ministerialdirektors von Schlieben im Hauptausschuß des Reichstages, betreffend die Besoldungsfrage und Übertragung der Überteuerungszuschüsse auf Beamte. – 1. Februar (Mittwoch): Früh 5½ Uhr entscheidender Beschluß der Reichsgewerkschaft, in den Streik zu treten. Stimmenverhältnis 20 : 15, bei einer Stimmenthaltung. Im eigentlichen geschäftsführenden Vorstand Stimmverhältnis 4 : 4. Erlaß der Verordnung des Reichspräsidenten. Mit Beginn des 2. Februar: Einsetzen des Streiks. Züge im allgemeinen bis zu Ende durchgeführt. Mehrfach jedoch auf Strecke stehengelassen z. B. Bitterfeld, Osnabrück, Strecke Hannover–Köln usw. Weigerung der Streikenden, den geringsten Notbetrieb zu fahren. Arbeiterschaft beteiligt sich nicht am Streik. Entschließung der Gewerkschaft Deutscher Eisenbahner und Staatsbediensteter, daß Streik verurteilt wird. Zentralstelle des D.E.V. erklärt sich gegen den Streik. Beamtenbund schlägt Reichsregierung vor, alsbald in eine grundsätzliche Aussprache über die Neuregelung des Besoldungswesens einzutreten. Ablehnung durch Verkehrsminister. – (Donnerstag) 2. Februar: Eingang der Erklärungen, daß Süddeutschland nicht streikt; desgleichen streikt nicht Mecklenburg; ferner besetztes Gebiet und Eisenbahndirektion Kattowitz. Sofortige Anweisung an Direktionen, Notbetrieb durch Einsatz von Technischer Nothilfe einzuleiten und für Bahnschutz zu sorgen.“ (Nachlaß Groener , N 46/143).

Der Reichskanzler berichtete über seine Besprechung am heutigen V[o]r- m[ittag] mit Herrn Leipart sowie mit Vertretern der Gewerkschaftsverbände,[538] und des Afa-Bundes2. Er verliest eine Eingabe der Gewerkschaftsverbände, die darauf abzielt, die Aufhebung der Verordnung des Herrn Reichspräsidenten durch die Regierung zu erwirken3. Er stehe jedoch auf dem Standpunkt, daß eine Aufhebung der Verordnung naturgemäß nur nach Beendigung des Streiks möglich sei. Die Berechtigung der Beamten zum Streik habe er grundsätzlich verneint. Die Gewerkschaftsvertreter werden heute um 6 Uhr nach[mittags] erneut zur Besprechung eines Aufrufes, den die Spitzenverbände von sich aus erlassen wollen, in der Reichskanzlei vorsprechen4.

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Siehe Dok. Nr. 197.

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VO des RPräs. betreffend Verbot der Arbeitsniederlegung durch Beamte der Reichsbahn vom 1.2.22 siehe RGBl. 1922 I, S. 187  (Entwurf siehe R 43 I /2640 , Bl. 94). Eingabe der Gewerkschaften dazu in R 43 I nicht ermittelt.

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Siehe Dok. Nr. 197 Anm. 3.

Reichsminister Dr. Hermes bespricht die Frage, inwieweit in die Verhandlungen über die Streiklage überhaupt eingetreten werden könne. Er betont, daß nach außen hin der Eindruck vermieden werden müsse, als sei die Regierung schon grundsätzlich verhandlungsbereit.

Der Reichskanzler hält eine gemeinsame Besprechung mit den Vertretern der Spitzenverbände für zweckmäßig.

Vizekanzler Bauer hält es gleichfalls für zweckmäßig, bei der gegenwärtigen erregten Stimmung der Arbeiterschaft die Vermittlungsaktion der Gewerkschaften zum Anlaß zu nehmen, um der Streikbewegung das Rückgrat zu brechen. Die Verhandlungen seien auf breitester Grundlage zu führen, aber nicht auf der Grundlage der von den Streikenden erhobenen Forderungen.

Reichsminister Groener berichtete über die Lage. In Streik getreten sei wesentlich Norddeutschland. Ganz Süddeutschland, Mecklenburg sowie Teile von Oldenburg arbeiteten. In erster Linie streikten die Lokomotivführer. Dieser Streik habe sich allmählich ausgedehnt auf das Stations- und Begleitpersonal. Besondere Schwierigkeiten hätten sich natürlich für Berlin ergeben.

Ministerialdirektor Hitzler führt aus, daß die Arbeiterschaft die Verordnung des Reichspräsidenten für einen Angriff auf das Koalitionsrecht ganz allgemein halte. Bei der Eisenbahn müsse aber rein nach beamtenpolitischen Grundsätzen verfahren werden. Er warne vor jedem Nachgeben.

Der Reichskanzler macht daraufhin kurze Angaben über seine Unterredung mit Herrn Leipart.

Ministerialdirektor Hitzler erklärt fortfahrend, daß Besprechungen mit den Gewerkschaften vom Reichsverkehrsministerium aus dauernd stattfänden. Er wende sich nur dagegen, daß auch über die Beamtenforderungen mit den Gewerkschaften verhandelt werde.

Vizekanzler Bauer ist der Auffassung, daß die Gewerkschaften keine Vereinbarungen über Beamtenforderungen abzuschließen vermögen.

Reichsminister Giesberts hält ein Verhandeln mit den Spitzenorganisationen der Gewerkschaften unter allen Umständen für wünschenswert, schon zur Klärung der Lage, besonders da die Arbeiter zwischen einem Streikrecht der Beamten und der Arbeiter nur wenig zu unterscheiden vermöchten. Er hält es für zweckmäßig, daß bei den Besprechungen mit den Gewerkschaftsführern darauf[539] hingewiesen werde, daß die Verhandlungen über die Forderungen der Beamten im Reichsfinanzministerium niemals abgebrochen, sondern dauernd weitergeführt worden seien.

Reichsminister Groener warnt nochmals davor, mit den Gewerkschaften über Beamtenfragen zu verhandeln. Die Gewerkschaften seien lediglich zu informatorischen Zwecken zu benutzen. Er warnt vor einer Aufhebung der Verordnung des Reichspräsidenten oder vor einer Zusage in dieser Richtung.

Reichsminister Giesberts glaubt, daß, falls über die Aufhebung der Verordnung des Reichspräsidenten nicht verhandelt würde, die Besprechungen mit den Gewerkschaftsvertretern ergebnislos verlaufen würden. Er bemerke, daß über das Streikrecht der Beamten die Ansicht in den Gewerkschaftskreisen ohnehin verschieden sei.

Ministerialdirektor Sitzler spricht über die Haltung der Metall- und Magistratsarbeiter. Hier sei eine Streikneigung vorhanden, die jedoch in keinem tatsächlichen Zusammenhange mit dem Eisenbahnerstreik stehe. Man hoffe, daß der Streik hier noch vermieden werden könne.

Der Reichskanzler erklärt, daß er bei den Besprechungen besonders noch darauf hinweisen werde, daß von einer Schmälerung des Streikrechts der Arbeiter keine Rede sein könnte.

Er unterbricht daraufhin die Sitzung des Kabinetts, da die Vertreter der Gewerkschaftsverbände erwartet werden5.

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Einer Aufzeichnung Stockhausens zufolge findet um 19 Uhr eine Besprechung mit den Spitzenverbänden der Gewerkschaften über die Formulierung des geplanten Aufrufs (siehe Anm. 4) statt. Über Einzelheiten der 45minütigen Unterredung ist im Protokoll nichts vermerkt. Anschließend geht es um die Vorlassung der Vertreter des Deutschen Beamtenbundes, die die Reichsregierung von ihrer Ablehnung des Streiks abhängig macht. Schließlich einigen sich die Verhandlungsparteien auf die folgende, vom Beamtenbund abzugebende Erklärung: „Wir lehnen den Streik ab und mißbilligen das Vorgehen der Reichsgewerkschaft.“ Weitere Einzelheiten zur Besprechung sind im Protokoll nicht enthalten (R 43 I /2124 , Bl. 163).

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