2.202.1 (wir1p): [Streiklage]

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Die Kabinette Wirth I und II (1921/22). Band 1Bild 146III-105Bild 183-L40010Plak 002-009-026Plak 002-006-067

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[Streiklage]

Ministerialrat Winzerling berichtete über die tatsächliche Lage in den einzelnen Bezirken. Er gab der Auffassung Ausdruck, daß die allerdringendsten[540] Züge – Lebensmittel, Kohlen – gefahren würden. Reichsverkehrsminister Groener betrachtete die Lage nicht als verschärft. Die Organisation des Notbetriebes funktioniere gut; morgen würde sie noch besser funktionieren. Oberst Kuenzer gab einen Bericht über die Streiklage bei den Städtischen Werken. Der Einsatz der Technischen Nothilfe sei heute morgen 8.45 Uhr bei den Wasserwerken erfolgt, desgleichen bei dem Elektrizitätswerk auf Anordnung des Polizeipräsidenten, da die Arbeiter das Werk verlassen hätten und die Gefahr des Platzens der Kessel usw. bestanden hätte. Bezüglich der Einsetzung der Technischen Nothilfe in den übrigen Berliner Elektrizitätswerken schwebten zur Zeit noch Verhandlungen. Oberbürgermeister Boess wollte bis 11 Uhr Nachricht geben, ob die Technische Nothilfe noch weiter eingesetzt werden solle oder nicht. Oberregierungsrat Weiss vom Polizeipräsidium habe mitgeteilt, daß die Aktion durch Kommunisten stark betrieben würde. Der Reichskanzler berichtete über die am gestrigen Tage erfolgten Besprechungen mit den Herren Abgeordneten Müller-Franken, Wels einerseits und den Herren Rosenfeld und Dittmann andererseits2. Herr Müller-Franken habe eine Vermittlungsaktion eingeleitet, er würde nachher mitteilen, wieweit die Besprechungen mit Vertretern der Reichsgewerkschaft gediehen seien. In der gestrigen Abendbesprechung mit den Herren Müller und Wels sei von diesen mitgeteilt worden, daß die Streikenden folgende Forderungen stellten:

2

In Besprechungen mit dem RK am 4.2.22, 16 Uhr und am 4.2.22, 16.30 Uhr hatten zunächst Hermann Müller, dann Rosenfeld und Dittmann eine Vermittlungsaktion vorgeschlagen, die sich an diejenigen Mitglieder der Reichsgewerkschaft richten sollte, die außerdem der Partei der Vermittler angehörten. Der RK hatte insbesondere die Vermittlungsaktion Hermann Müllers gutgeheißen, der versuchen wollte, die Vertreter der Reichsgewerkschaft mit den Spitzenverbänden der übrigen Gewerkschaften zusammenzubringen (Protokolle beider Besprechungen in R 43 I /2124 , Bl. 130 f.).

a)

Zurückziehung des Referentenentwurfs eines Arbeitszeitgesetzes3,

b)

Aufhebung der Verordnung des Reichspräsidenten4,

c)

sogenannte Amnestie (keine Gemaßregelung),

d)

sofortige Verhandlungen wegen der Besoldungsordnung (insbesondere Erhöhung der Ortszuschläge für die Gruppen I–VII),

e)

Aufhebung der Verfügung des Verkehrsministers wegen der Betriebsräte.

3

Siehe Dok. Nr. 163, P. 5 b.

4

Siehe Dok. Nr. 198 Anm. 3.

Diese Bedingungen habe er mit den Herren kurz durchgesprochen. Auch die USPD habe durch ihre Herren Rosenfeld und Dittmann gestern ihre guten Dienste angeboten; diese letztere Vermittlungsaktion sei aber für uns gegenstandslos geworden. Die MSPD habe ein Zusammenarbeiten mit der USPD mit Rücksicht auf die scharfen Angriffe in der Freiheit vom gestrigen Tage abgelehnt. Mit Vertretern der Reichsgewerkschaft habe er nicht verhandelt. Der Reichsverkehrsminister habe ausdrücklich erklärt, daß er nicht in der Lage sei, mit streikenden Beamten sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Es handle sich hier seiner Auffassung nach um ein Novum, insoweit, als zum ersten Male Beamte streikten. Im Wesen des Streikkampfes sei die Idee begründet, daß man zwecks Beilegung verhandele. Wenn man aus einem Streik herauskommen[541] wolle, seien Verhandlungen nötig. Die MSPD habe mit der Regierung Fühlung genommen; es handle sich seiner Auffassung nach nun darum, daß man sich in irgend einer Form an den Verhandlungstisch setze und sich mit der MSPD darüber verständige, daß heute noch die Spitzenorganisationen mit uns zur Verhandlung kommen; zu diesen gehörten seiner Auffassung nach die Gewerkschaften und der Beamtenbund mit den in ihm enthaltenen Vertretern der Reichsgewerkschaft. Zu diesen Verhandlungen mit den Spitzenorganisationen könnten die Streikenden Menne und Scharfschmidt nicht kommen. Nicht verschweigen möchte er, daß auch der Beamtenbund mit einem Streik mindestens geliebäugelt habe. Er habe erreicht, daß der Beamtenbund den Streik mißbilligt habe5, so daß der Beamtenbund, auch vom bisherigen Gesichtspunkt aus betrachtet, jetzt verhandlungsfähig sei. Im übrigen werde sich der Finanzminister dazu noch äußern.

5

Siehe Dok. Nr. 198 Anm. 5.

Die Verordnung des Reichspräsidenten könne ohne Abbruch des Streiks nicht zurückgezogen werden. Von den Beamtenverbänden sei gesagt worden, daß die Verordnung die Lage verschärfte und die Beschlagnahme der Streikgelder auch zur Erhöhung beigetragen habe. Über die Bedingungen wegen Zurückziehung des Arbeitszeitgesetzentwurfs werde der Verkehrsminister sich äußern müssen. Bezüglich der Amnestie glaube er nicht, schon jetzt eine Zusage machen zu können. Bezüglich der Besoldungsfrage bäte er Herrn Minister Hermes um Stellung. Herr Wels teilte mit, daß er mit Vertretern der Reichsgewerkschaft verhandelt und ihr von der Bereitwilligkeit der Reichsregierung Mitteilung gemacht habe, einige Herren der Reichsgewerkschaft im Rahmen des Deutschen Beamtenbundes zuzuziehen unter Ausschluß der Herren Menne und Scharfschmidt, gegen die ein Disziplinarverfahren eingeleitet sei. Die Besprechung habe die Forderung ergeben, daß man auf die Zuziehung der Spitzenorganisationen verzichten und die Regierung sich damit einverstanden erklären sollte, daß auch andere Vertreter der Reichsgewerkschaft kommen dürften. Er habe darauf erklärt, daß die Regierung darauf nicht eingehen könne; denn über dem Prestige der Reichsgewerkschaft stände das Prestige des deutschen Volkes, das die Regierung vertrete. Sie erklärten sich schließlich damit einverstanden, es unserer Unterhandlungskunst zu überlassen, wie die Konferenz zustande käme, und bereit, andere Herren zu entsenden. Die Erörterung der übrigen Fragen habe folgendes ergeben: Bezüglich der Aufhebung des Arbeitszeitgesetzentwurfs erschienen ihm Verhandlungen nicht aussichtslos. Er hätte erklärt, daß die Forderung der Wirtschaftlichkeit des Eisenbahnbetriebes im Vordergrund stehen müßte. Da würde man aber eine Formel wohl finden können, indem man eine Vereinbarung träfe über die Differenzierung der tatsächlichen Arbeitsleistung und der Arbeitsbereitschaft, über die man nach Abbruch des Streiks verhandeln könne. Dasselbe gelte von der Erhöhung des Grundgehalts. Als Konzession würde dort die Erklärung genügen, in sofortige Aufnahme der Verhandlungen über die Erhöhung der Ortszuschläge der Gruppen I bis VII einzutreten unter Verzicht auf eine Änderung der Grundgehälter im Augenblick. Die Frage der Aufhebung der Verordnung des Reichspräsidenten[542] würde sich, wie er mitgeteilt habe, automatisch lösen, nachdem die Formulierung über die Wirtschaftlichmachung des Eisenbahnbetriebes und die Regelung der Ortszuschläge zur Aufhebung des Streiks geführt hätten. Die Herren hätten ihm erklärt, daß sie die ganze Nacht verhandelt hätten, daß auch bei den unteren Post- und Justizbeamten eine starke Neigung zum Streik bestände. Nationalistische und kommunistische Kreise drängen sich an sie heran. Er sähe eine große Gefahr darin, daß auch die Eisenbahner sich an den kommunistischen Protesten beteiligten. Er hätte ihnen erklärt, daß die Berichte der Regierung anders lauteten als die, die sie ihnen mitteilten. Der Notverkehr sei aufgenommen und bessere sich. Sie hätten erwidert, daß die Mitteilungen der Regierung nicht richtig seien und insbesondere auf Breslau verwiesen, wo die Bekanntgabe der Maßregelung zweier Vorstandsbeamten auch die noch arbeitswilligen 218 Arbeiter zum Streik gebracht habe.

Im ganzen habe er den Eindruck, als ob sich bei der Reichsgewerkschaft ein ernstlicher Wille zeige, den Streik mit größter Beschleunigung abzubrechen, weil sie die Gefahr der Ausdehnung des Streiks auf andere Betriebe sähe und sich bei ihr das Verantwortungsgefühl rege. Er glaube, daß man, wenn man sich zusammensetze, zu einem erfolgreichen Abschluß kommen werde. Es müßte dann noch die Frage ventiliert werden, ob der Reichskanzler darauf bestehe, die Körperschaft für die Verhandlungen nach seinem Ermessen zusammenzusetzen. Ferner wolle er noch darauf hinweisen, daß der letzte Erlaß des Reichsverkehrsministers, der den Funktionären der Gewerkschaften verbiete, im Betriebsrat zu sein, schwere Unruhen hervorgerufen hätte. Er bäte, daß der Reichskanzler die Konferenz berufe und sie unter Ausschluß von Menne und Scharfschmidt zusammensetze. Die Aufnahme der Verhandlungen sei erforderlich, weil sonst mit Riesenschritten die Katastrophe käme. Auch in der Arbeiterschaft sei alles durcheinander, so wie man es seit Jahren nicht gehabt hätte.

Der Herr Reichskanzler erwiderte, er sei bereit, die gewünschte Besprechung unter Ausschluß der disziplinierten Führer alsbald in die Wege zu leiten; diesem Ziele wolle er zusteuern. Er frage sich, ob die politischen Parteien, soweit sie in der Regierung wären, diesen Schritt guthießen. Er bäte, sich darüber zu äußern.

Vizekanzler Bauer drückte seine Verwunderung über die Entwickelung der Dinge aus. Der Reichskanzler habe das Kabinett vor vollendete Tatsachen gestellt, die er nicht billigen könne. Er halte den Schritt für verderblich. Die Regierung sei erledigt, wenn sie mit der Reichsgewerkschaft verhandele. Er sehe keine Veranlassung, schon nach zwei Tagen die Segel zu streichen; er könne das nicht mitmachen; denn wenn wir in dieser Situation Zugeständnisse machten, die von der Reichsgewerkschaft als Sieg ausgewertet würden, dann würden wir uns auch keine 8 Tage als Regierung halten können. Man müsse den Dingen ihren Lauf lassen. Eine Regierung, die jetzt nach dem Ziele des Reichskanzlers verfahre, könne keine Autorität mehr haben. In diese Situation sei die Regierung durch ihr eigenes Verschulden gekommen.

Der Reichskanzler erwiderte, daß von einer Stellung vor vollendete Tatsachen nicht die Rede sein könne. Es liege nichts vor, als eine Diskussion über das Ziel, ob wir uns an einen Tisch setzen wollten. Zwei Dinge müsse er festhalten:[543] daß die Vermittlungsaktion der MSPD gestern Mittag eingesetzt habe, und zwar ohne sein Zutun. Hierzu müsse man Stellung nehmen. Ferner käme hinzu der heutige Streik der städtischen Arbeiter, Demonstrationszüge und Eingreifen der Kommunisten. Diese Entwicklung der Dinge könne man nicht mehr mit gewerkschaftlichen Augen betrachten und stillschweigend zusehen. Es handele sich hier mehr um eine große politische Entwicklung, weshalb er auch Vertreter der Parteien zugezogen habe.

Reichsminister der Finanzen Dr. Hermes machte zur Geschäftsordnung den Vorschlag, daß das Kabinett zunächst intern zu der Vermittlungsaktion Stellung nehmen solle. Die anwesenden Parteiführer waren damit einverstanden, baten jedoch, noch einige Anregungen für die Kabinettsberatung geben zu dürfen. Auf Wunsch von Exzellenz Spahn gab Staatssekretär Stieler eine Aufklärung wegen des sogenannten Räteverbotes. Die Sache hänge so zusammen: Bezüglich der Betriebsräte sei in letzter Zeit nichts vorgekommen. Die Verkehrsverwaltung hatte, als die Streikaktion erfolgt sei, den Hauptbeamtenrat vor die Frage gestellt, wie er sich dazu stelle, daß ein Mitglied des Hauptbeamtenrats den Streik inszeniere. Er habe darauf geantwortet, daß es den Beamtenrat nicht berühre, was sein Obmann Scharfschmidt als Gewerkschaftler tue; auf diese mögliche Interessenkollision hätte die Regierung schon früher hinweisen können. Jetzt liege kein Anlaß vor, sich darüber zu äußern. Durch Verfügung des Verkehrsministers sei dann angeordnet worden, daß der Reichsverkehrsminister sich vorbehalten müsse, Mitglieder aus dem Hauptbeamtenrat zu entfernen. Reichsverkehrsminister Groener ergänzte die Ausführungen, indem er ausführte, daß er, solange er Minister sei, nicht dulden könne, daß der Obmann des Hauptbeamtenbeirats den Streik unterstütze.

Herr Erkelenz befürwortete, daß die lange vor Ausbruch des Streiks im Gange befindlichen Verhandlungen mit dem Beamtenbund schneller durchgeführt würden. Über die Zusammenhänge mit dem Streik solle nicht verhandelt werden. Dem Beamtenbund sollte überlassen bleiben, Leute aus der Reichsgewerkschaft heranzuziehen, aber nicht Leute, die am Ausbruch des Streiks beteiligt seien. Seiner Auffassung nach sollte man nicht bloß über Überteuerungszuschläge, sondern auch über die Grundgehälter verhandeln. Er sei der Auffassung, daß man zu den Besprechungen mit dem Beamtenbund auch die übrigen Spitzenorganisationen heranziehen solle.

Herr Müller-Franken stellte fest, daß eine Festlegung nicht stattgefunden habe. Er berichtete sodann über die Vermittlungsaktion, deren Ziel gewesen wäre, den Streik zu brechen. Die Berichte, die sie aus dem Lande hätten, seien sehr ungünstig. Die Stettiner Arbeiterschaft wolle den Generalstreik. Er fürchte, daß, wenn die Bewegung weiter um sich greife, größtes Unheil entstehen könnte. Den Postbeamten habe er noch heute Nacht geraten, vom Streik abzurücken. Er habe den Herren von der Gewerkschaft, mit denen er verhandelt habe, gesagt, daß die Regierung aus außen- und innerpolitischen Gründen bestimmte Dinge nicht machen könne, daß die Zurückziehung der Verordnung des Reichspräsidenten vor Abbruch des Streiks nicht möglich sei. Der Erlaß sei ein Schlag ins Wasser gewesen. Bei solcher Situation müsse man sich fragen, ob unter voller Wahrung der Autorität der Regierung Brücken geschlagen werden[544] könnten und ob man nicht verhandeln sollte. Wenn das Kabinett anders entscheiden sollte, würde sie ihre Vermittlungsaktion nicht weiter fortsetzen.

Herr Koch glaubte feststellen zu müssen, daß die Vermittlungsaktion von einer Regierungspartei unternommen sei und daß diese auch die sich etwa daraus ergebenden Folgen zu tragen hätte, für die die Demokraten die Tragung der Mitverantwortung ablehnen müßten.

Der Streik der städtischen Arbeiter scheine ihnen dringender und gefährlicher als der Streik der Eisenbahnarbeiter. Er bäte daher dringend, sofort die Technische Nothilfe einzusetzen und dies von Reichs wegen anzuordnen, wenn der Oberbürgermeister es nicht tun wollte.

–––––––-

Im Anschluß hieran erfolgte um 12.40 Uhr mittags eine Kabinettssitzung.

Anwesend waren die Herren Reichskanzler Dr. Wirth, Reichsminister Giesberts, Groener, Dr. Rathenau, Dr. Hermes, Dr. Radbruch, Dr. Köster, Bauer, Dr. Geßler; Staatssekretäre Dr. Stieler, Dr. Hemmer, Dr. Müller; Ministerialdirektoren Dr. Meissner, Ritter, Geheimräte von Buttlar, Haas, Wever.

Reichsminister Dr. Hermes schloß sich den Ausführungen des Vizekanzlers Bauer in der vorgehenden Besprechung an. Auch er sei von der Tatsache überrascht gewesen, daß der Herr Reichskanzler sich gestern bereit erklärt habe, Vertreter der Reichsgewerkschaft zu empfangen6.

6

Siehe Dok. Nr. 198 Anm. 5.

Der Herr Reichskanzler teilte mit, daß dies nur insoweit richtig sei, als er im Rahmen des Beamtenbundes den Zuzug von Reichsgewerkschaftlern zu den Verhandlungen mit den Spitzenverbänden für richtig gehalten hätte.

Reichsminister der Finanzen Dr. Hermes erklärte, daß er bereit sei, morgen über die Überteuerungszuschläge und sonstige Wünsche über Beamtenbesoldung zu verhandeln; dagegen sei er nicht in der Lage, die Reichsgewerkschaft hinzuzuziehen.

Vizekanzler Bauer: Auf Grund der Darlegungen sei er zu der Auffassung gelangt, daß der Reichskanzler eine Zusage wegen Verhandlungen mit der Reichsgewerkschaft gemacht habe. Zu Verhandlungen mit den Spitzenorganisationen könne auch er sich bereiterklären, aber nicht zu Verhandlungen mit der Reichsgewerkschaft; wenn wir dies täten, seien wir erledigt. Auch die Aktion der Gewerkschaften, die uns zu Hilfe gekommen wären, würden wir damit totschlagen. Die Situation könne kritisch werden, das müsse aber in Kauf genommen werden. Bei diesem Streik würden die streikenden Leute mit ihren Familien ebenso leiden, wie die anderen. Wenn die Führer der Reichsgewerkschaft sehen, daß kein Entgegenkommen bestehe, dann würde der Streik baldigst zu Ende gehen.

Der Herr Reichskanzler betonte, daß wir vor dem Novum einer streikenden Beamtenschaft stünden. Die streikenden Reichsgewerkschaftler sollten von den Verhandlungen ausgeschlossen werden. Hierzu sei die Vermittlungsaktion der MSPD ohne unser Zutun getreten. Die Herren Müller und Wels hätten es kaum[545] verstanden, daß wir uns nicht mit Führern des Streiks zusammensetzen wollten. Er halte es aber nicht für möglich, daß der Standpunkt von den Herren Bauer und Hermes auch nur zwei Tage durchgehalten werden könne. Der Streik wäre da, verschärfe sich und gelange ins politische Fahrwasser. Wenn er erreiche, daß die zwei Oberhetzer nicht mit verhandeln, so sollte man die Reichsgewerkschaft nicht grundsätzlich ausschließen. Man könne es auch nicht verhindern, daß, wenn man mit den Spitzenorganisationen zusammenkomme, die Streikforderungen besprochen würden. Er bäte, die Situation nicht so zu betrachten, als ob wir alle Trümpfe in der Hand hätten. Im übrigen habe er sich nicht gebunden.

Reichsminister Dr. Hermes bedauerte, daß wir selbst einige Trümpfe aus der Hand gegeben hätten. Er war der Auffassung, daß man mit den Spitzenorganisationen die Verhandlungen sofort aufnehmen könne, mit der Reichsgewerkschaft jedoch erst nach Beendigung des Streiks.

Reichsminister Dr. Rathenau bat den Verkehrsminister um ein Bild, wie nach seiner Auffassung die Situation nach 8 Tagen aussehen würde.

Herr Groener war der Überzeugung, daß, wenn wir fest blieben, in Kürze die Sache erledigt sei. Die jetzigen Vermittlungsbestrebungen der Reichsgewerkschaft zu Verhandlungen seien ein Zeichen der Schwäche. Der Notbetrieb habe sich nicht zu schlecht entwickelt. Bezeichnend sei, daß im Bezirk Breslau, von dem die Herren Müller und Wels erst Mitteilungen gemacht hätten, die meisten Züge gefahren würden.

Reichsminister des Innern Dr. Köster machte von einem Telephonat mit Staatspräsident Hieber Mitteilung, wonach der Streik dorthin übergreifen würde. Herr Groener gab zu, daß die Situation durch Eintritt Süddeutschlands in den Streik verschärft werden würde. Trotzdem stimmte er der Auffassung bei, daß wir jede Autorität verlieren würden, wenn wir uns der Reichsgewerkschaft beugten.

Der Reichskanzler bat um Äußerung zu der Frage der Verhandlung mit den Spitzenorganisationen unter Ausschluß der Reichsgewerkschaft.

Herr Groener erklärte, daß er gegen Verhandlungen mit den Spitzenorganisationen nie etwas einzuwenden gehabt habe. Auch jetzt habe er mit dem einen nicht streikenden Flügel der Reichsgewerkschaft ständig Fühlung gehalten; jedoch sei er, sowohl wie auch seine Beamten nicht in der Lage, an Verhandlungen teilzunehmen, an denen irgend ein Mann der Streikleitung beteiligt sei. Wenn der gemäßigte Flügel die Macht an sich risse, würde er selbstverständlich mit ihm verhandeln. Daher müsse zunächst die Reichsgewerkschaft den Streik beenden.

Herr Giesberts war der Auffassung, daß man in solchen Situationen keine Prinzipien reiten solle. Nachdem der Reichskanzler verlangt habe, daß der Beamtenbund eine Mißbilligung des Streiks erkläre, sei die Grundlage geschaffen, daß an den Verhandlungen keine Leute beteiligt werden könnten, die streikten oder den Streik billigten. Im übrigen sei er der Auffassung, daß man besser nicht gleich an die höchste Instanz gegangen sei. Er würde vorschlagen, mit den Spitzenorganisationen und dem Deutschen Beamtenbund zu verhandeln und[546] ihnen anheimzustellen, keine Vertreter zu entsenden, die für den Streik gestimmt hätten bzw. an ihm beteiligt seien.

Der Herr Reichskanzler wies daraufhin, daß wir in keiner normalen Zeit lebten, so daß die Erwägungen, die für den alten Beamtenstaat maßgebend gewesen seien, nicht mehr ausschlaggebend sein könnten. Wenn die Reichsgewerkschaften nicht zugezogen würde, so würde ihre Stellung gestärkt werden. Es sei daher besser, sie unter gewissen Kautelen zu beteiligen.

Herr Ministerialdirektor Dr. Meissner teilte mit, daß der Herr Reichspräsident in der Einleitung von Verhandlungen unter Einbeziehung der Reichsgewerkschaft eine politische Gefahr sehe. Er bedauere, daß er von den schon eingeleiteten Verhandlungen keine Kenntnis erhalten habe, sonst hätte er sich schon dagegen gewandt.

Der Herr Reichskanzler machte noch darauf aufmerksam, daß durch die Entscheidung des Kabinetts auch die Stellung der MSPD berührt werden würde.

Herr Geßler gab zu, daß die Situation gefährlich sei. Er nahm an, daß das Kabinett sich bei Aufnahme des Kampfes klar gemacht habe, daß der Kampf auch schief gehen könne. Jetzt aber nachzugeben und Verhandlungen mit der Reichsgewerkschaft aufzunehmen, würde nichts nützen, vielmehr nur einen kurzen Waffenstillstand bedeuten und eine große Einbuße an Ansehen hervorrufen. Der Kampf müsse daher durchgeführt werden. Sobald sich dies als aussichtslos herausstellte, dann müßten andere Männer in der Regierung die Verhandlungen führen.

Der Herr Reichskanzler bat, diese Erörterungen nicht mit dieser Alternative zu belasten.

Vizekanzler Bauer war der Meinung, daß man im Interesse des Staats und seines Ansehens nicht anders handeln könne, eventuell auch die letzten Konsequenzen ziehen müsse. Wenn die Regierung mit ihrem Standpunkt nicht mehr durchkäme, dann müßte eine andere Regierung an ihre Stelle treten; andernfalls wären wir auch politisch erledigt. Wenn wir nachgeben, würden später alle Leute uns anklagen, daß wir Lebensinteressen des Staates verraten hätten. Für ihn würden sich angesichts der Stellungnahme seiner Parteifreunde Schwierigkeiten ergeben; trotzdem halte er es für seine Pflicht, so zu handeln, wie er vorgeschlagen habe.

Der Herr Reichskanzler führte aus, daß es für ihn feststünde, daß, wenn er eine Bewegung sich abwickeln sehe, die den Gedanken des Staats und seinem Wesen nahetrete, dann die Frage des Rücktritts der Regierung gleichgültig sei, weil dann ein Nichts komme. Die Gefahr sei da, also müsse man handeln. Er stellte daher nach kurzer Erörterung der Fragestellung zur Entscheidung, ob Besprechungen mit den Spitzenverbänden mit besonderer Vertretung der Reichsgewerkschaft eingeleitet werden sollten. Die Abstimmung ergab zwei Stimmen dafür, die übrigen dagegen. Die weitere Frage, ob mit den andern Spitzenverbänden ohne Zuziehung besonderer Vertreter der Reichsgewerkschaft verhandelt werden sollte, wurde von allen bejaht.

Hierauf wurde die Kabinettssitzung geschlossen und die Vertreter der politischen Parteien hereingerufen.

–––––––-

[547] Der Herr Reichskanzler teilte als Kabinettsbeschluß mit, daß die Regierung bereit sei, mit den Spitzenorganisationen eine Besprechung zu eröffnen, aber nur dann, wenn die Vertretung der Reichsgewerkschaft ausschließlich von Vertretern des Deutschen Beamtenbundes wahrgenommen würde. Die Regierung könne also Verhandlungen mit den Spitzenorganisationen einschließlich des Beamtenbundes nicht führen, wenn die Reichsgewerkschaft besonders vertreten sei. Dieser Beschluß habe Geltung, solange der Streik dauere.

Es entspann sich hierauf eine Erörterung darüber, ob der Kabinettsbeschluß so aufzufassen sei, die der Herr Reichskanzler abbrach und feststellte, daß wir Verhandlungen abgelehnt haben, bei denen in irgend einer Form die Reichsgewerkschaft vertreten sei. Er bat die politischen Parteien, hierzu Stellung zu nehmen.

Herr Müller-Franken erklärte eine Stellungnahme für überflüssig. Weitere Vermittlungen würden ihrerseits keinen Zweck haben.

Herr Erkelenz erklärte sich mit dem Beschluß einverstanden; er bat um Veröffentlichung in vorsichtiger Form.

Der Herr Reichskanzler widersprach einer Veröffentlichung.

Herr Wels hielt eine Mitteilung an die Presse für notwendig.

Der Herr Reichskanzler war der Auffassung, daß eine Mitteilung in der Presse des Inhalts, daß die Vermittlungsaktion der MSPD gescheitert wäre, eine Verschärfung bedeuten würde.

Herr Marx stellte eine Unklarheit fest. Seiner Ansicht nach schien es ihm erträglich zu sein, daß in der Vertretung des Beamtenbundes auch Vertreter der Reichsgewerkschaft zusammen mit den Spitzenverbänden mit der Regierung verhandeln könnten, soweit sie im Vorstand des Beamtenbundes seien. Nach längerer Erörterung wurde festgestellt, daß Mitglieder der Reichsgewerkschaft, sofern sie nicht für den Streik gestimmt hätten und nicht am Streik beteiligt seien oder zu ihm angereizt hätten, als Vorstandsmitglieder des Beamtenbundes zu den Verhandlungen zugezogen werden könnten.

Herr Wels meinte, daß Leute, die keinen Einfluß hätten, besser nicht zugezogen würden.

Herr Höfle war der Auffassung, daß man dem Beamtenbunde es nicht verwehren sollte, Leute hinzuzuziehen, die in ihrem Vorstand säßen, der Reichsgewerkschaft zwar angehörten, aber nicht zu den Streikenden gehörten und nicht für den Streik gestimmt hätten. Er nenne hier die Herren Rusch und Bindig, die großen Einfluß hätten.

Die Herren Reichsminister Groener und Hermes hatten hiergegen keine Bedenken.

Der Herr Reichskanzler stellte demnach ohne Widerspruch fest, daß der Beamtenbund auch Mitglieder der Reichsgewerkschaft zuziehen könne, sofern diese nicht für den Streik gestimmt hätten usw.

Herr Koch bezeichnete diesen Beschluß mit dieser Beschränkung für erträglich, er würde darin auch keine Desavouierung der MSPD sehen, da ihre Vertreter ja auch bei ihren Bemühungen auf Ausschluß der Rädelsführer hingewirkt hätten.

[548] Der Herr Reichskanzler stellte darauf folgendes Programm auf: Zu Montag 10 Uhr [6.2.22] sind die Spitzenverbände einzuladen, dazu auch der Beamtenbund mit der oben festgestellten Beschränkung hinsichtlich der zu entsendenden Vertreter7. Er sei bereit, evtl. heute um 5 Uhr Vertreter des Beamtenbundes zu empfangen, falls sie auf den Vorschlag hinsichtlich der Beschränkung nicht eingehen sollten8. Die Herren Minister seien zu der Sitzung sämtlich hierdurch geladen; er würde auch bereit sein, die politischen Parteien dazu zu laden, falls sie nicht darauf verzichteten. Die Vertreter der politischen Parteien verzichteten darauf. Der Herr Reichskanzler bat sie jedoch, um 12 Uhr zu einer Besprechung in die Reichskanzlei zu kommen, um sie über den Gang der Aktion ins Bild zu setzen. Zu der Sitzung um 10 Uhr sollen insbesondere die Herren Hermes und Groener geladen werden.

7

Protokoll einer Besprechung vom 6.2.22, 11 Uhr mit den Vertretern der Spitzenorganisationen in R 43 I /2124 , Bl. 210-212; der Beamtenbund hatte danach u. a. eine Erklärung der RReg. verlangt, daß die Frage der sozialeren Gestaltung der Grundgehälter an erster Stelle behandelt würde. Eine solche Zusage zu geben, hatte der RK abgelehnt. Seine Berichterstattung über diese Verhandlungen siehe Dok. Nr. 202.

8

Eine solche Sitzung hat offenbar nicht stattgefunden. Dagegen empfängt der RK am 6.2.22, 16 Uhr Vertreter der Industrie, die sich über die Gesamtlage informieren wollen und darauf drängen, die RReg. möge nicht nachgeben (R 43 I /2124 , Bl. 205).

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