2.71.1 (bru1p): Deckungsvorlagen und politische Lage.

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Deckungsvorlagen und politische Lage.

Der Reichskanzler berichtete, daß die in der Regierung vertretenen Fraktionen zu den ihnen zugegangenen Vorschlägen1 über die Ergänzung des Deckungsprogramms ihre Stellungnahme wie folgt bekanntgegeben haben:

1

S. Dok. Nr. 69, Anm. 2.

[290] Zentrum:

Trotz mancher Bedenken stimmt die Zentrumsfraktion den Ergänzungsvorschlägen der Regierung zu, weil damit die einzige Möglichkeit besteht, die Deckungsvorlage auf parlamentarischem Wege zu erledigen2.

2

Vgl. Morsey, Zentrumsprotokolle, Dok. Nr. 607 und 608.

Deutsche Volkspartei:

Die Fraktion der Deutschen Volkspartei stimmt der von der Reichsregierung vorgeschlagenen Ergänzung und Abänderung der Regierungsvorlage zu, unter der Voraussetzung, daß sie auch von den anderen beteiligten Fraktionen unverändert angenommen wird3.

3

Zur Stellungnahme der DVP stellte das Protokoll der DVP-Fraktionssitzung vom 9.7.30 fest: „Dr. Scholz verliest Entwurf eines Fraktionsbeschlusses, der unveröffentlicht bleiben soll und dem Kanzler mündlich mitgeteilt werden wird. Abstimmung: Ja: 22, Nein: 9, Stimmenenthaltung: 1“ (R 45 II /67 , S. 259; Fraktionsbeschluß: S. 260). Scholz teilte gegen 21 Uhr des gleichen Tages dem StSRkei Pünder den Fraktionsbeschluß mit: „Nicht in Formulierung sondern vertraulich teilte mir dann Herr Scholz noch mit, daß dieser Fraktionsbeschluß keineswegs einstimmig gefaßt sei, Zahlen wolle er einstweilen noch nicht gern nennen, aber er müsse sehr betonen, daß es keineswegs Einstimmigkeit gewesen wäre. Die Widerstände seien nach wie vor sehr stark. Die Volkspartei müsse daher entscheidenden Wert darauf legen, daß nun auch von sonst niemand Abänderungen gewünscht würden. Ein kleines Sandkörnchen könne die ganze Fraktion wieder umschmeißen. Ohne ihm das Ergebnis der Bayerischen Fraktionssitzung mitzuteilen, fragte ich, wie es denn wäre, wenn etwa z. B. die Bayerische Volkspartei eine der beiden Ergänzungen ablehnen würde. Herr Dr. Scholz nahm dieses Eventualbeispiel offensichtlich ruhig auf und meinte, mit den Bayern würde die Regierung, namentlich der Zentrumskanzler, doch wohl noch fertig werden. Das Entscheidende wäre für sie, daß vom Zentrum keinerlei abweichende Wünsche geäußert würden. Die Demokraten und die Wirtschaftspartei scheinen sich ja in ihren wechselseitigen Wünschen gegenseitig aufheben zu wollen“ (Vermerk Pünders vom 9.7.30 in R 43 I /2365 , Bl. 280–281).

Die Deutsche Demokratische Fraktion:

Die Deutsche Demokratische Reichstagsfraktion kann an den weiteren Verhandlungen über das Deckungsprogramm nur teilnehmen, wenn dem jetzigen Programm eine Vorlage über die Alkoholgemeindeverzehrsteuer herbeigeführt wird. Die Demokratische Reichstagsfraktion hält die jetzige Vorlage, im Hinblick auf die Sanierung der Gemeindefinanzen, nicht für ausreichend. Sie kann es aber auch nicht verantworten, eine Kopfsteuer einzuführen, ohne den Alkohol zu belasten.

Die Wirtschaftspartei:

Die Wirtschaftspartei stimmt den Vorschlägen der Reichsregierung über die Bürgerabgabe und die Beschränkung der Darlehenspflicht über Arbeitslosenversicherung zu. Die Einführung einer Schanksteuer, wie sie von den Demokraten gefordert ist, lehnt die Wirtschaftspartei ab.

Bayerische Volkspartei:

a)

Dem Vorschlag betr. Abänderung der Arbeitslosenversicherung tritt die Fraktion bei.

b)

Den Entwurf des Bürgersteuergesetzes lehnt die Fraktion ab4.

4

Auch die von der BVP geführte bayer. Reg. lehnte die Bürgerabgabe ab (Bericht Haniels vom 12.7.30, R 43 I /2365 , Bl. 224–225).

[291] Christlich Nationale Arbeitsgemeinschaft:

Die Christlich Nationale Arbeitsgemeinschaft hat ihre Stellungnahme in dem in der Anlage beiliegenden Schreiben formuliert5.

5

In dem hier nicht abgedruckten Schreiben hatte der Abg. v. Lindeiner-Wildau die Unterstützung seiner Fraktion für das Steuerprogramm zugesichert, doch forderte er, daß alle diejenigen Ledigen von der Ledigensteuer befreit würden, die auf Grund gesetzlicher Unterhaltspflicht einem Angehörigen vollen Unterhalt gewährten. Außerdem trat er bei der Bürgersteuer für eine Staffelung der Steuersätze ein (R 43 I /1445 , Bl. 150–151). Über die Stellungnahmen der Fraktion fertigte ORegR Planck am 9.7.30, 16 Uhr, einen handschriftlichen Vermerk an (R 43 I /2365 , Bl. 223).

An diese Stellungnahme der Fraktionen anknüpfend, bemerkte der Reichskanzler daß für die Reichsregierung zur Stunde noch kein Anlaß vorliege, von dem Art. 48 der Reichsverfassung Gebrauch zu machen, daß es sich aber gleichwohl empfehle, schon jetzt die im weiteren Verlauf der Dinge möglicherweise notwendig werdenden Maßnahmen auf Grund des Art. 48 zu erörtern. An sich glaube er, daß die Reichsregierung es mit Aussicht auf Erfolg wagen könne, ihre Vorlagen im Steuerausschuß zu vertreten.

Der Reichsminister der Finanzen zog aus der Stellungnahme der Fraktionen den Schluß, daß es richtig sei, möglichst nur auf Annahme der Regierungsvorlagen zu dringen, ohne sich regierungsseitig für die Ergänzungen, insbesondere für die Bürgerabgabe einzusetzen. Auch er empfehle zunächst einmal, in den Steuerausschuß zu gehen und abzuwarten, welchen Verlauf die Verhandlungen mit den Parteien dort am kommenden Tage nehmen würden. Bemerken wolle er noch, daß seine Fraktion sich auf das heftigste gegen eine Anwendung des Art. 48 gewehrt habe.

Der Reichsverkehrsminister glaubte feststellen zu müssen, daß die Reichsregierung gegen den gestrigen Tag keinen Schritt weitergekommen sei. Er empfehle daher, daß die Reichsregierung sich energisch auf ihre alte Vorlage zurückziehen und von Verhandlungen über etwaige Ergänzungen dieser Vorlage freimachen solle.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft sprach sich dahin aus, daß die Reichsregierung die Parteien so schnell wie möglich zu ultimativen Entschlüssen zwingen solle. Er meinte, daß die Reichsregierung von den Parteien ein großes und umfassendes Ermächtigungsgesetz fordern müsse.

Der Reichsminister des Innern widerriet eindringlichst, auf eine Lösung auf Grund des Art. 48 auszugehen und befürwortete, daß die Reichsregierung zunächst den Verlauf der Beratungen im Steuerausschuß abwarten möge.

Der Reichskanzler richtete an die Staatssekretäre Joël und Zweigert die Frage, ob im Ausschuß abgelehnte Vorlagen auf Grund des Art. 48 in Kraft gesetzt werden können. Diese Frage wurde bejaht.

Der Reichsverkehrsminister widerriet dem Gedanken eines Ermächtigungsgesetzes, da es für ein solches Gesetz zu spät sei.

Der Reichsarbeitsminister sprach sich im gleichen Sinne aus.

Der Reichskanzler erklärte, daß auch er es für richtig halte, zunächst einmal zu versuchen, im Steuerausschuß weiterzukommen. Er werde im Laufe des morgigen Tages mit den Führern der Bayerischen Volkspartei und der Demokratischen[292] Partei eine sehr deutliche Sprache reden und ihnen klar machen, welche Verantwortung sie dadurch auf sich laden würden, wenn sie das Regierungsprogramm zum Scheitern bringen sollten. Ferner erklärte er, daß er nötigenfalls bereit sei, am übernächsten Tage selbst in den Steuerausschuß zu gehen, um dort den Standpunkt der Reichsregierung autoritativ darzulegen. Wenn trotzdem ein Durchkommen im Steuerausschuß nicht erreicht werden sollte, habe er persönlich starke Bedenken, ob die Reichsregierung es dann noch zur zweiten Lesung der Deckungsvorlagen im Plenum des Reichstags kommen lassen dürfe6. Durch eine Niederlage im Ausschuß werde die Reichsregierung möglicherweise so viel an Autorität einbüßen, daß sie dann klüger daran tue, der zweiten Lesung aus dem Wege zu gehen.

6

Der Steuerausschuß des RT lehnte am 11.7.30 mit den Stimmen der DNVP, SPD und KPD die RegVorlage über die Reichshilfe der Festbesoldeten ab. Daraufhin erklärte der RFM, daß die RReg. an der 2. Lesung der Vorlage kein Interesse mehr habe (Schultheß 1930, S. 167).

Die allgemeine Auffassung ging dahin, daß der Reichsminister der Finanzen am kommenden Tage zunächst einmal versuchen solle, sich im Ausschuß durchzusetzen. Ferner wurde in Aussicht genommen, daß nötigenfalls am übernächsten Tage auch der Reichskanzler sich in die Ausschußberatungen einschalten solle.

Das Kabinett erörterte sodann eingehend die nach einem etwaigen Scheitern der Ausschußverhandlungen möglichen und nötigen Schritte auf Grund des Art. 48 der Reichsverfassung.

Der Reichskanzler betonte nachdrücklichst, daß das gegenwärtige Reichskabinett nicht gebildet sei, um unter allen Umständen nur die normale politische Entwicklung durchzumachen, daß es vielmehr die Aufgabe übernommen habe, mit allen legalen Mitteln die als notwendig erkannten Maßnahmen durchzusetzen. Hierüber müsse sich jedes Kabinettsmitglied klar sein, da die Reichsregierung sonst der sachlichen Schwierigkeiten der Lage nicht Herr werden könne. Wenn auch nur ein einziges Kabinettsmitglied versuchen werde, bei der konsequenten Durchführung der notwendig werdenden Schritte die Gefolgschaft zu versagen, sei das Gesamtkabinett zum Scheitern verurteilt. Aus diesem Grunde müsse er an alle Kabinettsmitglieder – einschließlich des abwesenden Reichspostministers7 den eindringlichen Appell richten, sich bis zum äußersten mit dem gegenwärtigen Kabinett für verbunden zu erklären.

7

StS Pünder unterrichtete den RPM am 10. 7. über die Ministerbesprechung: „Ich erwähnte dann auch, daß das Reichskabinett alle Eventualitäten durchgesprochen habe, insbesondere auch Art und Umfang der etwaigen Anwendung des Artikel 48. In diesem Zusammenhang habe der Herr Reichskanzler mehrfach in betonter Form an alle Kabinettsmitglieder die Frage und den Appell gerichtet, für diese etwaigen Fälle unter keinen Umständen persönliche Konsequenzen zu ziehen; der Herr Reichskanzler habe dies besonders unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des gegenwärtigen Reichskabinetts als eines fraktionell nicht gebundenen und mit dem besonderen Vertrauen des Herrn Reichspräsidenten ausgestatteten Kabinetts begründet. Der Herr Reichskanzler habe in der gestrigen Abendsitzung mit diesem mehrfachen Appell die vollste Zustimmung der sämtlichen anwesenden Reichsminister gefunden, und der Herr Reichskanzler habe sich auch dahin geäußert, daß nach seiner Auffassung der nicht anwesende Herr Reichspostminister diese Auffassung teile. Herr Reichspostminister Dr. Schätzel hat mir heute morgen, mit der Bitte um Weitergabe an den Herrn Reichskanzler, versichert, daß die Auffassung des Herrn Reichskanzlers durchaus zutreffend sei und er bis zum Äußersten sich dem gegenwärtigen Kabinett verbunden fühle und sich in jeder Weise mit seinen Ministerkollegen solidarisch erkläre. Ich nahm diese Erklärung mit Dank entgegen und fügte hinzu, daß sie sehr bedeutsam sei und ich von ihr Gebrauch machen würde, wie wenn sie in der Kabinettssitzung abgegeben worden wäre“ (Vermerk Pünders vom 10.7.30 mit Sichtparaphe des RK in R 43 I /1445 , Bl. 152).

[293] Gegen diese Ausführungen des Reichskanzlers wurde von keiner Seite Widerspruch erhoben. Zur Veröffentlichung durch die Presse wurde der Wortlaut nachstehender Verlautbarung festgesetzt:

„Das Kabinett trat in den späten Abendstunden unter dem Vorsitz des Reichskanzlers Dr. Brüning in der Reichskanzlei zusammen, um die politische Lage zu erörtern, wie sie sich nach den inzwischen bekanntgewordenen Beschlüssen der hinter der Regierung stehenden Reichstagsparteien darstellt. Das Reichskabinett hält nach wie vor an seinen bisherigen Deckungsvorschlägen fest, ist aber bereit, sie im Sinne der gestrigen mit den Parteiführern vereinbarten Vorschläge zu ergänzen.“

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