2.6 (bru1p): Nr. 6 Gutachten des Ministerialdirektors Dorn zur Frage der Anwendung des Artikels 48 der Reichsverfassung und der Auflösung des Reichstags

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[11] Nr. 6
Gutachten des Ministerialdirektors Dorn zur Frage der Anwendung des Artikels 48 der Reichsverfassung und der Auflösung des Reichstags

R 43 I /1870 , Bl. 107–110 Durchschrift1

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Die Durchschrift des undatierten Gutachtens befindet sich als Anhang zum Protokollauszug des Dok. Nr. 7, P. 1 in R 43 I /1870 , Bl. 107–110.

I. Anwendung des Artikels 48 vor Auflösung des Reichstags.

Verordnungen, die auf Grund des Artikels 48 Abs. 2 der Reichsverfassung2 erlassen werden, sind unverzüglich dem Reichstag zur Kenntnis zu bringen. Die getroffenen Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen. Wenn der Reichstag die Außerkraftsetzung verlangen will, so genügt hierzu ein mit Stimmenmehrheit gefaßter einfacher Beschluß des Plenums. Es findet also nur eine einzige Beschlußfassung statt.

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Art. 48 Abs. 2 RV lautet: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 11, 4, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen“.

Der Beschluß des Reichstags, mit dem die Aufhebung einer auf Grund von Artikel 48 Abs. 2 der Reichsverfassung getroffenen Maßnahme verlangt wird, steht der Reichstagsauflösung nicht entgegen. Nach der Fassung des Artikels 48 Abs. 3 Satz 2 der Reichsverfassung3 wird man jedoch davon ausgehen müssen, daß dem Beschlusse des Reichstags auf Aufhebung der Notverordnung auch dann zu entsprechen ist, wenn der Reichspräsident eben wegen dieses Beschlusses zur Auflösung des Reichstags schreitet. Die Reichsregierung könnte, wenn sie das Verlangen des Reichstags nicht ausführt, nur den Versuch machen, von dem zukünftigen Reichstag Indemnität (Aufhebung des von dem früheren Reichstag gefaßten Beschlusses) zu verlangen. Unter diesen Umständen wird man es, um den Rahmen der Verfassungsmäßigkeit des Vorgehens zu wahren, nicht zu einem Beschluß des Reichstags kommen lassen dürfen, nach der die Notverordnung aufzuheben ist. Die Auflösung wird der Beschlußfassung vorangehen müssen.

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„Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen“ (Art. 48 Abs. 3 Satz 2 RV).

II. Anwendung des Artikel 48 nach Auflösung des Reichstags.

1. Auflösung vor Beschlußfassung über ein Mißtrauensvotum.

Da nach Art. 33 Abs. 3 der Reichsverfassung4 die Reichsregierung jederzeit auch außerhalb der Tagesordnung im Reichstag gehört werden muß, steht zunächst fest, daß die Reichsregierung die Verhandlungen des Reichstags in jedem Zeitpunkt unterbrechen und die Auflösungsorder des Reichspräsidenten[12] verlesen kann. Dadurch ist sie in der Lage, einem Mißtrauensvotum des Reichstags stets zu begegnen. In diesem Falle ist die Ausübung der Verordnungsgewalt unstreitig zulässig.

4

Art. 33 Abs. 4 RV: „Auf ihr Verlangen müssen die Regierungsvertreter während der Beratung, die Vertreter der Reichsregierung auch außerhalb der Tagesordnung gehört werden“.

2. Auflösung nach Annahme eines Mißtrauensvotums.

Zwei Fragen ergeben sich: Kann auch die Reichsregierung, der das Mißtrauensvotum erteilt worden ist, die Auflösungsorder des Reichspräsidenten gegenzeichnen? Kann sie von einer bereits gezeichneten Auflösungsorder durch Bekanntgabe gegenüber dem Reichstag Gebrauch machen? Die erste Frage ist in der Literatur streitig. Walter Jellinek5 und Carl Schmitt6 sind der Meinung, daß auch die Reichsregierung, der ein Mißtrauensvotum erteilt worden ist, die Auflösungsorder des Reichspräsidenten gegenzeichnen und als geschäftsführende Reichsregierung bis nach den Neuwahlen im Amt bleiben kann. Für diese Auffassung spricht der Umstand, daß Reichskanzler und Minister bis zur Entlassung durch den Reichspräsidenten Reichsminister im Sinne der Verfassung bleiben (Artikel 53 RV7, § 13 des Reichsministergesetzes)8, und daß eine irgendwie geartete rechtliche Beschränkung ihrer Funktion für die Zeit nach dem Mißtrauensvotum nicht vorgesehen ist. Der § 12 des Reichsministergesetzes9 stellt umgekehrt fest, daß der Reichspräsident nach Rücktritt der Reichsregierung alle Reichsminister oder einzelne von ihnen mit der Fortführung der Geschäfte betrauen kann, bis die neue Regierung gebildet ist.

5

Jellinek, Verfassung und Verwaltung des Reichs und der Länder (1925), S. 87.

6

Vgl. hierzu: Schmitt, Verfassungslehre (1928), S. 357 f.

7

Art. 53 RV: „Der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister werden vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen“.

8

„Die Reichsminister erhalten eine vom Reichspräsidenten vollzogene und vom Reichskanzler gegengezeichnete Urkunde über ihre Entlassung. Das Amtsverhältnis der Reichsminister endigt mit der Aushändigung der Urkunde; die Aushändigung kann durch amtliche Veröffentlichung der Urkunde ersetzt werden. Die Entlassungsurkunde für den Reichskanzler bedarf der Gegenzeichnung durch den Amtsnachfolger“ (§ 13 RMGes. vom 27.3.30, RGBl. I, S. 97 ).

9

„Tritt die Reichsregierung zurück, so kann der Reichspräsident, wenn er nicht gleichzeitig die Entlassung ausspricht, alle Reichsminister oder einzelne von ihnen mit der Fortführung der Geschäfte betrauen, bis die neue Regierung gebildet ist. Entsprechendes gilt beim Rücktritt einzelner Reichsminister bis zur Ernennung ihrer Nachfolger“ (§ 12 RMGes. vom 27.3.30, RGBl. I, S. 97 ).

Anschütz vertritt den Standpunkt, daß eine Reichsregierung, der ein Mißtrauensvotum erteilt worden sei, die Befugnisorder nicht mehr gegenzeichnen könne10. Auch er bezeichnet allerdings den von Walter Jellinek und Carl Schmitt vertretenen Standpunkt de lege ferenda als wünschenswert. Im gegebenen Falle wird indessen nur die zweite Frage praktisch werden, die Gegenzeichnung der Befugnisorder ist bereits vor dem Mißtrauensvotum erfolgt. In diesem Falle entsteht lediglich die Frage, ob es verfassungsrechtlich zulässig ist, daß die zum Rücktritt gezwungene Reichsregierung vor der Betrauung mit der Geschäftsführung die Auflösungsorder bekannt gibt. Auch Anschütz vertritt grundsätzlich die Anschauung, daß eine „Geschäftsregierung“ hinter einer „normalen“ Regierung in bezug auf den Umfang ihrer Machtbefugnisse nicht[13] zurücksteht (Artikel 54 Anm. 5 Abs. 3)11. Ist daher die Gegenzeichnung der Auflösungsorder vor dem Mißtrauensvotum erfolgt, so wird man es als staatsrechtlich zulässig ansehen dürfen, daß auch nach Ausspruch des Mißtrauensvotums die Reichsregierung noch die Auflösungsorder bekannt gibt und damit den Auflösungswillen des Reichspräsidenten vollzieht. Ob es sich empfiehlt, vorher die Betreuung der mit dem Mißtrauensvotum belegten Regierung mit der Geschäftsführung herbeizuführen, und ob es nicht angesichts der Tragweite des politischen Entschlusses, der durch die Bekanntgabe der Auflösungsorder erst wirksam wird, vorzuziehen ist, dem Mißtrauensvotum durch die Auflösung zuvorzukommen, ist Sache nicht staatsrechtlicher sondern politischer Beurteilung.

10

Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 (141933), S. 198 f.

11

Vgl. Anschütz, a.a.O., S. 324. Art. 54 RV lautet: „Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung das Vertrauen des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht.“

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