1.35.3 (ma12p): 1. [Ratifikation des Washingtoner Abkommens. Ruhrräumung.]

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 8). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Marx I und II, Band 2 Wilhelm Marx Bild 146-1973-011-02Reichskanzler Marx vor seinem Wahllokal Bild 102-00392Hochverratsprozeß gegen die Teilnehmer am PutschDawes und Young Bild 102-00258

Extras:

 

Text

RTF

1. [Ratifikation des Washingtoner Abkommens. Ruhrräumung.]

Der Reichsarbeitsminister machte darauf aufmerksam, daß in der jetzigen Situation die Frage des Achtstundentages von großer Bedeutung sei. Die Angelegenheit stehe morgen im Reichstag im Ausschuß zur Debatte. Möglicherweise werde sie auch in London eine Rolle spielen. Bei der Konferenz in Genf wären ausschließlich Sozialisten zu Wort gekommen11, und es sei schließlich die ganze Aktion eine Art „Scherbengericht“ über Deutschland gewesen. Die Teilnehmer seien alle davon ausgegangen, daß die Annahme des Gutachtens auch die Annahme des Washingtoner Abkommens12 mit einschließe. Es sei klar, daß nicht nur Frankreich, sondern auch England aus Konkurrenzgründen ein großes Interesse daran haben, daß der Achtstundentag in Deutschland streng eingehalten werde. Die französische Regierung habe erklärt, daß sie das Abkommen von Washington anerkenne. Einer besonderen Ratifikation glaube man in Frankreich nicht zu bedürfen, man stütze sich dabei auf ein früheres Arbeitsgesetz und erklärt, daß dieses Gesetz bereits die notwendigen Bestimmungen enthalte. Die deutsche Regierung könnte einen ähnlichen Weg beschreiten und auch ein solches Gesetz, das alle Möglichkeiten offenlasse, einbringen. Es sei aber dabei ein heftiger Widerstand der Sozialdemokraten und der Linksparteien überhaupt zu erwarten.

11

Einige Reden, die auf der Internationalen Arbeitskonferenz in Genf Ende Juni 1924 gehalten wurden, sind wiedergegeben in der Anlage zu einer Kabinettsvorlage des RArbM vom 18. 7. betr. Arbeitszeitdebatte in Genf (R 43 I /2073 , Bl. 208-214). Vgl. hierzu Dok. Nr. 236, P. 1.

12

Washingtoner Abkommen vom Nov. 1919 über den Achtstundentag.

Wenn man das Washingtoner Abkommen annehme, so sei das Gutachten nicht zu erfüllen. Die Regierung müsse sich hierüber klar sein, die Not habe das Deutsche Reich gezwungen, über den Achtstundentag hinauszugehen, und das Gutachten werde in absehbarer Zeit darin keine Änderung eintreten lassen. Er, der Reichsarbeitsminister, sei bereit, dem Kabinett alsbald eine eingehende Vorlage zu machen. Er bäte heute nur um die Zustimmung zu dem von ihm in Genf vertretenen Standpunkt, daß z. Zt. in Deutschland ein schematischer Achtstundentag nicht möglich sei.

[870] Der Reichskanzler regte an, diese Vorlage abzuwarten. Die anwesenden Minister erklärten sich jedoch ohne weiteres mit dem Vorgehen des Reichsarbeitsministers einverstanden und nahmen als feststehend an, daß das Gutachten die Regierung in der Frage des Achtstundentages in keiner Weise binde.

Der Reichsminister der Finanzen wies darauf hin, daß eine deutsche Ratifizierung des Washingtoner Abkommens auf seiten der Alliierten möglicherweise als Sabotage des Gutachtens angesehen werden würde. Er stellte ferner die Frage, ob die Sozialdemokraten und die Deutschnationalen ausreichend über den Lauf der Dinge unterrichtet würden. Er halte dies im Hinblick auf die kommenden Verhandlungen im Reichstage für unbedingt erforderlich.

Der Reichsminister des Auswärtigen erwiderte, er habe alle Parteien zusammen empfangen und informiert13. Er glaube annehmen zu können, daß die Deutschnationalen nicht grundsätzlich das Gutachten ablehnen, sondern die Annahme von gewissen Bedingungen abhängig machen würden. Die Sozialdemokraten seien wohl für Annahme.

13

Das bezieht sich offenbar auf die Besprechung Stresemanns mit den Parteiführern am 5. 7.; vgl. Dok. Nr. 241, Anm. 10.

Der Reichsminister der Finanzen regte eine Erklärung an die Öffentlichkeit an dahingehend, daß eine Annahme der Gesetze nicht zu erwarten sei, wenn die Ruhr nicht geräumt würde.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft möchte dies in die Form gekleidet wissen, daß nunmehr mit Annahme des Gutachtens die Voraussezung für die Ruhrbesetzung weggefallen sei.

Der Reichsminister des Auswärtigen wies auf einen Artikel in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom heutigen Tage hin, in dem die Politik der Reichsregierung kritisiert werde, und zwar unter vollständiger Verdrehung der Tatsachen14. Er verlas den Entwurf einer durch die Presse weiterzugebenden Gegenerklärung15.

14

Unter der Überschrift „Stresemann und die militärische Räumung“ bringt die DAZ vom 9. 7. (Nr. 319) folgenden Eigenbericht aus London: „Seit einigen Tagen sind hier Nachrichten verbreitet worden, daß die dt. Regierung die Durchführung des Berichtes [der Sachverständigen] von gewissen politischen Bedingungen abhängig machen wolle, darunter besonders die militärische Räumung des Ruhrgebietes. In politischen Kreisen verlautet, daß von engl. Seite über diesen Gegenstand in Berlin Erklärungen eingezogen wurden und daß die erhaltene Antwort völlig zufriedenstellend sei. Die dt. Reg. werde zwar grundsätzlich auf der militärischen Räumung bestehen, habe aber nicht die Absicht, praktische Forderungen zu erheben, durch welche der Erfolg der Verhandlungen gefährdet werden könnte. In der gleichen Angelegenheit glaubt der Berliner Vertreter des ‚Daily Telegraph‘ versichern zu können, daß man im Auslande die angeblichen Bedingungen Deutschlands nicht allzu ernst zu nehmen brauche. Deutschland werde den Bericht annehmen, weil eben nichts anderes übrig bleibe. Die in Rede stehenden Äußerungen amtlicher und halbamtlicher dt. Stellen seien nur dazu bestimmt, die dt. Nationalisten zu beruhigen und auf die Alliierten Eindruck zu machen.“

15

Dieser Entwurf konnte in den Akten der Rkei nicht ermittelt werden.

Der Reichswirtschaftsminister und der Reichsernährungsminister äußerten Bedenken gegen die Form dieser Erklärung. Schließlich wurde beschlossen, daß die Darstellung der Deutschen Allgemeinen Zeitung als gänzlich unwahr und frei erfunden bezeichnet werden solle16.

16

„Die Zeit“ vom 11. 7. druckt folgende halbamtliche Stellungnahme des WTB ab: „Die DAZ veröffentlicht ein Telegramm ihres Londoner Berichterstatters, wonach Erklärungen der Berliner Regierung in London abgegeben worden seien, daß die dt. Reg. zwar grundsätzlich auf der militärischen Räumung der nicht vertragsmäßig besetzten Gebiete bestehen werde, aber nicht die Absicht habe, praktische Forderungen zu erheben. Diese Darstellung der DAZ ist gänzlich unwahr und frei erfunden.“

[871] Der Reichsminister der Finanzen beantragte einen ausdrücklichen Kabinettsbeschluß, den auswärtigen Diplomaten zu eröffnen, <daß, falls nicht feste Zusicherungen über die Räumung der Ruhr gegeben würden, an eine Annahme der Gesetze nicht zu denken sei und daß auch die Regierung dann ihre Mitwirkung bei der Durchführung solcher Gesetze versagen müsse17.

17

S. hierzu die Aufzeichnung Stresemanns über seine Unterredung mit D’Abernon vom 11. 7. in: Stresemann, Vermächtnis I, S. 454 ff.; ferner das Schreiben Stresemanns an Hoesch vom 13. 7., ebd., S. 457 ff.

Dieser Auffassung der Dinge stimmte das Kabinett zu. Ein Beschluß auf Bekanntgabe dieser Auffassung wurde nicht gefaßt18.>

18

<…> von MinDir. Kempner hschr. geändert aus: „daß im Falle der Nichträumung der Ruhr an eine Annahme der Gesetze nicht zu denken sei und daß die Regierung bei der Durchführung solcher Gesetze ihre Mitwirkung versagen müsse. Diesem Antrage stimmte das Kabinett zu, er solle in vorsichtiger Weise durch die Presse bekanntgegeben werden.“

Extras (Fußzeile):