2.73 (ma31p): Nr. 73 Der Reichsminister für die besetzten Gebiete an den Reichskanzler und den Reichsminister des Auswärtigen. 31. August 1926

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[176] Nr. 73
Der Reichsminister für die besetzten Gebiete an den Reichskanzler und den Reichsminister des Auswärtigen. 31. August 1926

R 43 I /197 , Bl. 174–177 Umdruck

Betrifft: Deutsche Forderungen in Genf für das besetzte Gebiet.

Durch den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund erlangt das Vertragswerk von Locarno endgültige Wirksamkeit. Es ist darum notwendig, daß Deutschland in Genf1 darauf besteht, daß die von den Besatzungsmächten zugesagten Rückwirkungen des Locarno-Werkes auf das besetzte Gebiet nun vollständig durchgeführt werden. Man wird sich dabei auf wenige wichtige Punkte beschränken müssen, da die Erörterung technischer Einzelheiten bei der Gegenseite auf Schwierigkeiten stoßen würde und zudem hierfür der Reichskommissar in Koblenz2 zur Tätigkeit berufen ist. Die Forderungen für das besetzte Gebiet in Genf müssen m. E. folgende Ziele haben:

1

Auf der bevorstehenden VII. Völkerbundsversammlung in Genf sollte die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund vollzogen werden.

2

Langwerth v. Simmern.

1) Herabsetzung der Besatzungsstärke,

2) Beseitigung der Farbigen,

3) möglichste Unsichtbarmachung der Besatzung,

4) Milderung des Besatzungssystems.

Zu 1) Herabsetzung der Besatzungsstärke.

Die Botschafterkonferenz hat in ihrer Note vom 14. November 19253 die Herabsetzung der Besatzungsstärke „annähernd auf normale Stärke“ mit der Folge zugesagt, daß die von der Besatzung beschlagnahmten Grundstücke, Wohnungen usw. teilweise freigegeben würden. Die Deutsche Regierung hat diese Zusage unter stillschweigender Zulassung der Gegenseite in ihrem Amtlichen Kommentar vom 17. November 1925 so ausgelegt, daß die Herabsetzung auf die deutsche Vorkriegsgarnisonstärke (= 50 000 Mann) gemeint sei4. Diese Auslegung wird von der Gegenseite jetzt bestritten. M. E. muß in Genf der Gegenseite eindringlich vorgeführt werden, daß dieses nachträgliche Zurückweichen in der öffentlichen Meinung Deutschlands das Vertrauen auf den Geist von Locarno stark erschüttert. Die Gegenseite hat der Herabsetzung auf 50 000 dem Vernehmen nach entgegengestellt, daß die Sicherheit der Besatzungstruppen eine solche Herabsetzung nicht gestatte. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, daß Bismarck im Herbste 1871 bereits, also bald nach dem Friedensschluß, gegenüber dem vollgerüsteten Frankreich eine Besatzungsstärke von 50 000 Mann freiwillig[177] konzedierte, während wir diese Konzession erst sieben Jahre nach Beendigung der Feindseligkeiten verlangen und zudem entwaffnet sind.

3

Frz. Text der Note in: ADAP, Serie B, Bd. I,1, Dok. Nr. 1, Anm. 3; dt. Übersetzung in: Schultheß 1925, S. 411 f.; Ursachen und Folgen, Bd. VI, Dok. Nr. 1350.

4

Siehe diese Edition, Die Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 224, Anm. 6.

Die Forderung auf Herabsetzung der Besatzungsstärke auf annähernd 50 000 Mann muß m. E. mit größtem Nachdruck festgehalten werden. Es ist jedoch notwendig, diese Forderung noch weiter zu konkretisieren. Sie richtet sich naturgemäß gegen die französische Besatzungsarmee, die zur Zeit immer noch 3 Armeekorps mit je 2 Divisionen, also insgesamt 6 Divisionen, umfaßt mit rund 66 000 Mann. Zu diesen kommen über 7000 Belgier und 8000 Engländer, so daß die gesamte Besatzung ohne die Familienangehörigen rund 81 000 Mann beträgt (ebensoviel wie vor Locarno, damals in der 2. und 3. Zone 80 250). Die französische Division kommt durchschnittlich auf 11 000 Mann. Wenn nun unter Aufrechterhaltung der englischen und belgischen Besatzungsstärke die Gesamtziffer von 50 000 Mann erreicht werden soll, ergibt sich die Forderung, daß Frankreich von seinen 6 Divisionen etwa 3 Divisionen, also 33 000 Mann, zurückzieht. Es behält dann immer noch 33 000 Mann, also je das Vierfache des belgischen und des englischen Besatzungskontingents und mehr als das Doppelte der beiden zusammengerechneten Kontingente von Belgien und England. Eine solche Lösung würde die Zusage der Besatzungsstärke von annähernd 50 000 Mann verwirklichen. Sie würde ferner, da die Stäbe und der dazu gehörige Verwaltungsapparat viele Quartiere benötigen und naturgemäß auch die größeren Einheiten viele Truppenübungsplätze usw. brauchen, wirklich dazu führen, daß die von der Besatzung beschlagnahmten Grundstücke zusagegemäß zu einem nennenswerten Teil freigegeben und neue Beschlagnahmungen vermieden werden könnten.

Zu verlangen ist also die Zurückziehung von 3 französischen Divisionen. Im Gegensatz zu dieser Forderung steht das bisherige französische Verhalten. Angeblich sind seit 1. April d. Js. 4000 Franzosen zurückgezogen und würden bis Ende September weitere 5800 nachfolgen5. Bei der hiernach vorgenommenen Zurückziehung handelt es sich um so kleine Einheiten, daß eine nennenswerte Freigabe von beschlagnahmten Grundstücken, Wohnungen usw. nicht stattfand. Die Fortsetzung dieses Verfahrens muß bekämpft werden durch die oben aufgestellte Forderung der Zurückziehung großer Einheiten, die allein zur Freigabe beschlagnahmter Grundstücke und Wohnungen in beachtlichem Ausmaße führen kann. Es ist auch klar, daß nur durch die Zurückziehung ganzer Divisionen die ewigen Forderungen nach neuen Schießplätzen, Übungsplätzen usw. endlich verschwinden könnten.

5

Vgl. die frz. Note vom 27.8.26 über die Verminderung der Besatzungstruppen, in: ADAP, Serie B, Bd. I,2, Dok. Nr. 68.

Briand soll behauptet haben, daß von den Franzosen 22% der beschlagnahmten Wohnungen zurückgegeben seien6. Demgegenüber ist folgendes festzustellen: Im jetzigen besetzten Gebiet waren vor Locarno beschlagnahmt 9689 Wohnungen. Am 15. Juni d. Js. waren beschlagnahmt 9964 Wohnungen. Anders sind lediglich die Ziffern bezüglich der beschlagnahmten möblierten Einzelzimmer (vor Locarno 4414, am 15. Juni d. J. 2789). Die Briandsche Rechnung hat vergessen, daß in der neuen englischen wie auch teilweise in der neuen[178] belgischen Zone7 die von den Franzosen geräumten Wohnungen an die Engländer und Belgier übergingen.

6

Siehe dazu ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 55.

7

Nach der Räumung der 1. (Kölner) Zone waren die dort stationierten engl. und belg. Besatzungstruppen in die 2. und 3. Zone verlegt worden.

Zu 2) Beseitigung der Farbigen.

Immer noch sind im besetzten Gebiet rund 2500 farbige Besatzungssoldaten, darunter rund 1600 in geschlossenen Formationen (Train-, Radfahrer-, Arbeiter-, Handwerker-, Krankenwärter-, Automobilabteilungen). Die restlose Entfernung der Farbigen ist eine Forderung, auf deren Erfüllung nunmehr nachdrücklich bestanden werden muß. Die Gegenseite hat bestritten, daß solche Farbige noch vorhanden seien. Die angegebenen Ziffern sind jedoch amtlich nachgeprüft.

Zu 3) Möglichste Unsichtbarmachung der Besatzung.

Praktisch bedeutet diese Forderung die Rückkehr zu dem deutschen Garnisonsystem (Dislokationssystem). Es wäre zu fordern, daß die Besatzung sich ungefähr (Ausnahmen, besonders an der Grenze des besetzten Gebietes gegen das unbesetzte Deutschland, könnten bestehen) mit den Garnisonen begnügt, die Deutschland unterhielt. Zur Zeit beansprucht die Besatzung ein Vielfaches dieser Garnisonen. Deutschland hatte im besetzten Gebiet 18 Garnisonen, die Besatzung hat 47 Garnisonen. Die Gesamtzahl der belegten Orte betrug zur deutschen Vorkriegszeit 29, sie beträgt jetzt 137 (vor Locarno: 139). Bei dieser Gesamtzahl sind nicht bloß die eigentlichen Truppengarnisonen, sondern auch die Orte mit sonstigen militärischen Einrichtungen mitgezählt. Das Ergebnis ist, daß die Besatzung drei bis viermal soviel Orte in Anspruch nimmt als Deutschland in der Vorkriegszeit. Seit Locarno hat sich daran nichts geändert. Dieses Garnisonsystem der Besatzung entspricht nicht mehr der politischen Lage. Es ist das Ergebnis des früher bestandenen politischen Durchdringungs- und Überwachungssystems und deswegen überholt. Hauptsächlich sind an der Vielheit der belegten Orte die Gendarmeriestationen der Besatzung beteiligt. Wenn die oben unter Ziffer 1 vertretene Forderung auf Zurückziehung von 3 französischen Divisionen erfüllt würde, wäre die deutsche Vorkriegsstärke erreicht, und es wäre dann auch ein Leichtes, das deutsche Garnisonsystem anzunehmen. Dann könnte man in etwa von unsichtbarer Besatzung sprechen, ein Ergebnis, das auch dem Sinne des Dawes-Planes entsprechen würde.

Zu fordern ist also die grundsätzliche Rückkehr zum deutschen Garnisonsystem, die Ausnahmen nicht ausschließen würde.

Zu 4) Milderung des Besatzungssystems.

Auf diesem Gebiete handelt es sich in der Hauptsache um die Gestaltung und Handhabung des Ordonnanzensystems sowie um die Handhabung der Militärjustiz. Der Reichskommissar in Koblenz verhandelt in diesen Dingen mit[179] der Rheinlandkommission8. Es wird daher in Genf nicht möglich sein, in Einzelheiten einzutreten. Notwendig ist aber, daß auch in Genf versucht wird, von den alliierten Staatsmännern zu erreichen, daß sie neuerdings scharfe Anweisungen an die Vertreter der alliierten Regierungen in der Rheinlandkommission erwirken, damit diese bei den Verhandlungen mit dem Reichskommissar das erforderliche Entgegenkommen zeigen. Um die auf dem Gebiete des Ordonnanzensystems bestehenden Übelstände zu charakterisieren, könnte man beispielsweise darauf hinweisen, daß immer noch Ordonnanzen bestehen, die das Rheinland wie Feindesland behandeln (Ordonnanz 64 über die Zählung der militärischen Hilfsmittel, die sich im Besitze der Zivilbevölkerung befinden) oder die eine überflüssige Einschränkung der politischen Rechte der Bevölkerung darstellen (wie die Bestimmungen über die Anmeldung jeder politischen Versammlung in Garnisonstädten, selbst wenn die Versammlung in geschlossenem Raume stattfindet usw.) oder die die Ausweisung von Einwohnern des besetzten Gebiets ohne strafgerichtliche Verurteilung ermöglichen.

8

Siehe hierzu die Aufzeichnung über eine Ressortbesprechung im RMinbesGeb. betr. Ordonnanzenkodifikation am 8.11.26 (R 43 I /197 , Bl. 300–322).

Besonders aber wird es in Genf am Platze sein, eine liberale Handhabung der Ordonnanzen und der Militärjustiz zu betreiben. Diese Handhabung hat in der letzten Zeit zu wünschen übrig gelassen, beispielsweise wird das Singen des Deutschlandliedes schärfer verfolgt als früher9.

9

Siehe ADAP, Serie B, Bd. I,2, Dok. Nr. 12.

Selbst wenn es nur möglich wäre, mündliche Zusagen der alliierten Staatsmänner auf diesem Gebiete zu erreichen, so wäre damit doch dem Reichskommissar in Koblenz bei seinen Verhandlungen eine weitere Stärkung seiner Stellung gesichert. Es ist bekannt, wie beispielsweise bei den Verhandlungen in Koblenz nach der Londoner Konferenz im Herbste 192410 der Brief des Herrn Reichskanzlers Dr. Marx an den französischen Ministerpräsidenten Herriot, der am Schlußtage der Londoner Konferenz übergeben11 und nur mündlich beantwortet wurde, wiederholt mit Nutzen verwertet werden konnte, um Widerstände der Rheinlandkommission gegen Verbesserungen des Besatzungssystems zu überwinden.

10

Zu diesen Verhandlungen siehe diese Edition, Die Kabinette Marx I/II, Dok. Nr. 291, P. 5 und Nr. 294.

11

Eine Abschrift dieses Briefes von Marx an Herriot vom 16.8.24 in: Nachl. Marx , Nr. 108, Anlage 18.

Zusammenfassung.

Zusammenfassend möchte ich die Forderungen für Genf von meinem Standpunkt aus wie folgt formulieren:

1.

Zurückziehung von 3 französischen Divisionen,

2.

restlose Entfernung der Farbigen,

3.

Rückkehr zu dem deutschen Garnisonsystem,

4.

Erwirkung liberaler Weisungen an die Rheinlandkommission bezüglich der Gestaltung und Handhabung des Ordonnanzensystems und bezüglich der Militärjustiz.

[180] Im Grunde sind diese Forderungen in Locarno ebenfalls geltend gemacht worden. Um so notwendiger wird es sein, in Genf ihre Verwirklichung zu sichern, zumal sich die Gegenseite wohl nicht zu leicht nach Genf auf größeres Entgegenkommen einlassen wird, wenn es ihr gelingt, ohne klare Konzessionen in den Besatzungsfragen Genf zu verlassen.

Ich beabsichtigte, die Angelegenheit in der Sitzung des Reichskabinetts vom 2. September zur Erörterung zu bringen12.

12

Auf dem Begleitschreiben, mit dem der RMbesGeb. das hier abgedruckte Schreiben dem StSRkei übermittelte, befindet sich der Bürovermerk: „Erl[edigt] durch Niederschrift üb[er] d[ie] Min[ister]Besprechung v. 2.9.26, RK. 6883, Punkt 2.“ (R 43 I /197 , Bl. 173). Siehe Dok. Nr. 75, P. 2.

Die übrigen Herren Reichsminister haben Abschrift erhalten.

Dr. Bell

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