1.206.1 (ma32p): Lohntariferhöhungen bei der Reichsbahn.

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Lohntariferhöhungen bei der Reichsbahn.

Den Vorsitz führte wegen Erkrankung des Reichskanzlers der Stellvertreter des Reichskanzlers Reichsminister der Justiz Hergt.

Der Reichsarbeitsminister stellte die Frage der taktischen Behandlung einer Lohnerhöhung für die Arbeiter bei der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft und den übrigen Reichsbetrieben zur Erörterung. Es sei bekannt, daß die Gewerkschaften die laufenden Tarifverträge zum 31. März d.J. gekündigt hätten mit dem Ziele, Lohnerhöhungen durchzusetzen. Ihm sei mitgeteilt worden, daß die in erster Linie beteiligte Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft es abgelehnt habe, mit den Gewerkschaftsvertretern über eine Lohnerhöhung zu verhandeln. Die Folge werde die sein, daß ein Schlichtungsverfahren eingeleitet werden müsse und daß damit letzten Endes die Verantwortung für die ganze Aktion dem Reichsarbeitsministerium zugeschoben werde, weil diesem später die Entscheidung über die Verbindlichkeitserklärung des ergehenden Schiedsspruchs zugemutet werde. Nach seiner Meinung könne die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft unmöglich der Überzeugung sein, daß sie mit ihrem bisherigen negativen Verhalten gegenüber den Forderungen der Arbeiterschaft durchkomme. Bisher sei es üblich gewesen, daß bei Tarifangelegenheiten der fraglichen Art ein Zusammenwirken des Reichsverkehrsministeriums, des Reichspostministeriums und des Reichsministeriums der Finanzen stattgefunden habe. Es müsse innerhalb dieser drei Ressorts auch jetzt wenigstens intern zu einer Einigung über die Einstellung zur Sache kommen. In früheren Fällen sei alsdann die Reichsbahn-Gesellschaft, als die in stärkstem Ausmaße beteiligte Stelle, mit den Verhandlungen mit den Gewerkschaften vorangegangen; die Post sei gefolgt und schließlich habe sich dann auch der Reichsminister der Finanzen dem Verhandlungsergebnis der Reichsbahn und Reichspost für die übrigen Reichsbetriebe angepaßt. Die von der Reichsbahn-Gesellschaft jetzt verfolgte Taktik, die darauf hinauslaufe, die ganze Verantwortung für den weiteren Verlauf der Dinge ausschließlich dem Reichsarbeitsministerium zuzuschieben, könne er angesichts der überaus weittragenden Bedeutung der Sache unmöglich mitmachen, und, wenn die Reichsbahn ihre Taktik nicht ändere, werde er sich unter Umständen gezwungen sehen, den Dingen ihren Lauf zu lassen und die letzte Entscheidung einem Streik zu überlassen, zu dem es nach seinen Informationen sicher kommen werde, wenn die Reichsbahn sich weiter absolut negativ verhalte.

[1372] Der stellvertretende Generaldirektor der Reichsbahn-Gesellschaft [Weirauch] bestätigte die Richtigkeit der Kündigung der laufenden Tarifverträge zum 31. März 1928, bestritt aber, daß die Reichsbahn-Gesellschaft bisher Verhandlungen mit den Gewerkschaften abgelehnt habe; sie habe sogar zweimal verhandelt. Bei diesen Verhandlungen sei von den Gewerkschaften die Richtigkeit der von der Reichsbahn-Gesellschaft berechneten Indexzahlen, die für die Lohnverhältnisse maßgeblich seien, nicht bestritten worden. Die von den Gewerkschaften gestellten Forderungen1 liefen auf eine jährliche Mehrbelastung der Reichsbahn-Gesellschaft von 240–285 Millionen RM hinaus. Diesen Forderungen gegenüber habe sich die Reichsbahn-Gesellschaft allerdings absolut negativ verhalten. Sie könne auch zu keinem anderen Resultat kommen, da ihr Etat keine weitere Belastung des Lohnkontos zulasse. Die Sachausgaben der Reichsbahn-Gesellschaft seien bereits soweit gedrosselt worden, daß die äußerste Grenze dessen, was im Interesse der Betriebssicherheit der Reichsbahn noch verantwortet werden könne, erreicht sei.

1

Nach dem Bericht des Eisenbahnkommissars Leverve vom 1.6.28 (Anlage zum Bericht des Generalagenten für Reparationszahlungen vom 7.6.28, S. 204 ff.; bes. S. 235 f.) forderten die Gewerkschaften eine allgemeine Erhöhung der Löhne um 10 Pfg. je Stunde, eine höhere Entlohnung der Betriebs- und Verkehrsarbeiter sowie eine Erhöhung der Sonderzuschläge für Überzeitarbeit.

Der Reichspostminister bestätigte die Richtigkeit der Darstellung des Reichsarbeitsministers über die taktische Behandlung von Tarifangelegenheiten in früheren Fällen und trat ihm ferner darin bei, daß auch im vorliegenden Falle entsprechend verfahren werden müsse. Entgegen der Auffassung der Reichsbahn-Gesellschaft sei er davon überzeugt, daß grundsätzlich ohne Lohnerhöhung im gegenwärtigen Augenblick nicht durchzukommen sei. Es sei unvermeidbar, daß die Beamtenbesoldungsreform2 sich bei den Arbeiterlöhnen irgedwie auswirke. Man müsse sich nur über die Höhe des möglichen Entgegenkommens einigen.

2

Gemäß Besoldungsgesetz vom 16.12.27 (RGBl. I, S. 349 ).

Der Reichsminister der Finanzen führte aus, daß – was dem Reichsarbeitsminister offenbar bisher nicht bekannt gewesen sei – bereits eine Ressortbesprechung der beteiligten Ministerien, d. i. Reichsverkehrsministerium einschließlich Reichsbahnverwaltung, Reichspostministerium und Reichsministerium der Finanzen stattgefunden habe und in dieser Besprechung das taktische Vorgehen erörtert worden sei. Es sei in Aussicht genommen, eine weitere Ressortbesprechung am 17. März abzuhalten. Hierbei werde zweckmäßigerweise je ein Vertreter der führenden Gewerkschaften zuzuziehen sein, und es werde der Versuch gemacht werden müssen, zunächst eine gemeinsame Unterlage für die weitere sachliche Verhandlung zu gewinnen. Er empfahl, zunächst das Ergebnis dieser weiteren Ressortbesprechung abzuwarten.

Der Stellvertreter des Reichskanzlers gab seine Meinung dahin wieder, daß das Kabinett sich schon bei den Verhandlungen über die Beamtenbesoldungsreform, an denen auch der Generaldirektor der Reichsbahn teilgenommen habe, darüber klar gewesen sei, daß den Arbeitern gegenüber nicht ganz ohne Rückwirkungen auf die Arbeiterlöhne durchzukommen sein werde und daß daher[1373] jetzt wohl im entgegenkommenden Sinne mit den Arbeitern verhandelt werden müsse.

Im übrigen aber stellte er die Meinung des Reichskabinetts dahin fest, daß vor sachlichen Entschließungen der Reichsregierung das Ergebnis der für den 17. März in Aussicht stehenden Ressortbesprechung abzuwarten sei3.

3

Eine Aufzeichnung über diese Ressortbesprechung konnte nicht ermittelt werden. – Im Lohnstreit zwischen der Reichsbahn-Gesellschaft und den Gewerkschaften wurde am 21.3.28 ein Schiedsspruch gefällt, auf dessen Grundlage am 27. 3. ein Tarifabkommen vereinbart wurde, das bis zum 31.1.29 gelten sollte. Es sah vor a) eine allgemeine Erhöhung der Stundenlöhne für die über 24 Jahre alten Arbeiter um 3 bis 6 Pfg. je nach Lohngruppe und Wirtschaftsgebiet, b) eine einheitliche Festsetzung des Sonderzuschlags für Mehrarbeit (ab 49. Wochenstunde) auf 25% des Normallohns, c) eine Erhöhung der Schichtlohnzulage für Betriebsarbeiter von 27 auf 30 Pfg. Siehe den Bericht des Eisenbahnkommissars vom 1.6.28, Anlage zum Bericht des Generalagenten für Reparationszahlungen vom 7.6.28, S. 236.

Die Sitzung wurde hierauf geschlossen.

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