1.229.2 (ma32p): 2. Gaskatastrophe in Hamburg.

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2. Gaskatastrophe in Hamburg.

Der Reichskanzler wies darauf hin, daß die zuständigen Ministerien die sich aus der Gaskatastrophe in Hamburg3 ergebenden Arbeiten mit tunlichster Beschleunigung fortführen möchten.

3

„Am Nachmittage des 20. Mai 1928 ist auf der Veddel zu Hamburg auf einem von der Firma Dr. Stoltzenberg gepachteten Lagerplatze am Müggenburger Kanal ein mit Phosgen (Chlorkohlenoxyd, COCl2) gefüllter Kessel geplatzt. Das ausströmende Gas hat bei einer größeren Anzahl von Personen Vergiftungserscheinungen hervorgerufen, an denen 9 Personen gestorben sind.“ So die einleitende Feststellung in einem Bericht des ORegR Quassowski (R 43 I /1430 , Bl. 308–310; siehe auch Dok. Nr. 472, Anm. 15).

Generalleutnant Ludwig machte längere Ausführungen über den Verbleib der Kampfgase nach Abbruch der Kriegshandlungen und über die Betätigung der Firma Stoltzenberg bei der Vernichtung und Verwertung dieser Gase4. Das Heereswaffenamt habe bereits im Frühjahr 1926 die Beziehungen zu der Firma abgebrochen, da sie sich als unzuverlässig erwiesen habe5. Die Mitteilungen,[1463] die die Firma in der Öffentlichkeit über ihr Verhältnis zum Reichswehrministerium gemacht habe, stellten einen Versuch dar, die Aufmerksamkeit von sich abzulenken.

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Hierzu wird in einem geheimen Bericht des GenLt. Ludwig ausgeführt: Das in Hamburg entwichene Phosgengas (siehe Anm. 3) stamme nach den bisherigen Ermittlungen aus Kriegsbeständen. Dr. Stoltzenberg habe seinerzeit einen kleinen Teil der im Breloh-Lager vorhandenen Bestände von der Reichstreuhandgesellschaft übernommen, um sie an chemische Fabriken zu verkaufen. Da sich eine Verkaufsmöglichkeit nicht so bald ergeben habe, habe Stoltzenberg die ihm gehörenden Phosgenflaschen 1923 im Sennelager gestapelt, was ihm auf Grund seiner Beziehungen zum RWeMin. von Gen. Wurtzbacher gestattet worden sei. Im Hinblick auf die Locarno-Verträge sei im Frühjahr 1926 der schleunige Abtransport der Flaschen aus dem Sennelager verlangt worden. Das Phosgen sei dann von der Fa. Stoltzenberg zunächst außerhalb des Lagers untergebracht, schließlich umgefüllt, nach Hamburg transportiert und dort auf einem gemieteten Gelände gelagert worden. Für die Schäden, die jetzt bei dem Unglück entstanden seien, trage „einzig und allein die Firma Sto[ltzenberg] und vielleicht auch die sie beaufsichtigende Hamburgische Gewerbebehörde die Schuld“ („Bericht über die Herkunft des Stoltzenbergschen Phosgens und über die seitherigen Ermittlungen bezgl. Hamburger Gaskatastrophe“, gez. Ludwig, Anlage zum Begleitschreiben des Heereswaffenamts an die Wehrmachtsabteilung im RWeMin. vom 6.6.28, R 43 I /726 , Bl. 110–125).

5

Über die frühere Zusammenarbeit zwischen Stoltzenberg und dem RWeMin. erstattete GenLt. Ludwig den folgenden Geheimbericht: „Im Jahre 1923 wurde unter dem Druck des Ruhreinbruchs zwischen der deutschen und der russischen Regierung ein Abkommen getroffen, demzufolge in Rußland für die russische Regierung eine Rüstungsindustrie aufgebaut werden sollte. Insbesondere handelte es sich dabei um die Einrichtung einer Kampfgasfabrik, für welche die russische Seite eine alte Fabrik mit genügend Gelände und Gebäuden einbrachte, während die deutsche Seite die erforderlichen Geldmittel zur Verfügung stellte. Mit der Durchführung des Projektes wurde die deutsche Gesellschaft ‚Gefu‘ (Gesellschaft zur Förderung gewerblicher Unternehmungen m.b.H.) beauftragt, welche ihrerseits mit dem Chemiker Dr. Stoltzenberg ein Abkommen traf, demzufolge Stoltzenberg sich verpflichtete, die mit den Russen vereinbarte Gasanlage nach seinen eigenen und von Geheimrat Haber zur Verfügung gestellten Geheimverfahren aufzubauen und in Betrieb zu nehmen. Stoltzenberg war dem Rw.Min. [Reichswehrministerium] durch Geheimrat Prof. Dr. Haber empfohlen und ihm das Zeugnis ausgestellt worden, daß er imstande sei, die übernommenen Verpflichtungen zu erfüllen. Die übrige deutsche chemische Industrie, insbesondere die I.G. Farben hatten eine Mitwirkung abgelehnt. Stoltzenberg ist seinen Vertragsverpflichtungen nicht nachgekommen. Die von ihm gebaute Fabrik entsprach nicht den Anforderungen, die die Russen gestellt hatten. Er geriet außerdem in Zahlungsschwierigkeiten, so daß ihm außer den ihm vertraglich zustehenden Beträgen wiederholt weiteres Kapital aus Reichsmitteln zur Verfügung gestellt werden mußte. Als auch diese Mittel nicht mehr ausreichten, Stoltzenberg vor dem völligen Zusammenbruch zu schützen, trat Stoltzenberg erneut an das Rw.Min. heran mit der Bitte um weitere Zuschüsse. Da Stoltzenberg aber, wie schon oben erwähnt, vollständig versagt hatte, lehnte das Rw.Min. die Hergabe weiterer Mittel ab. Stoltzenberg ging darauf unter Geschäftsaufsicht, die einige Monate später dadurch beendigt wurde, daß die Handels- und Industrie-Gesellschaft Müggenburg m.b.H. durch Zurverfügungstellung entsprechender Mittel Stoltzenberg einen Zwangsvergleich mit seinen Gläubigern ermöglichte. Das diesbezügliche Abkommen zwischen der Müggenburggesellschaft und Stoltzenberg wurde in einem Vertrage festgelegt, in welchem Stoltzenberg als Gegenleistung für die zur Abfindung der Gläubiger zur Verfügung gestellten Mittel seinen gesamten Besitz übereignete. Verschiedene Sachwerte wurden Stoltzenberg belassen, über den Verbleib derselben ist dem Rw.Min. nichts bekannt. Weder aus der von Stoltzenberg in Rußland erbauten Fabrik noch von anderer Seite sind aus Rußland jemals Kampfstoffe nach Deutschland geliefert worden. Die Stoltzenbergsche Fabrik konnte ja hierfür auch gar nicht in Frage kommen, da […] die Fabrikation einwandfreier Produkte nicht gelang. Dies ist auch der Anlaß gewesen, daß die gesamten russischen Unternehmungen im Jahre 1926 – ein Jahr nach Aufnahme der Locarno-Politik – abgebaut wurden.“ (Anlage zum Begleitschreiben des Heereswaffenamts an die Wehrmachtsabteilung vom 6.6.28, in R 43 I /726 , Bl. 126–128). Zur früheren Zusammenarbeit zwischen dem RWeMin. und Stoltzenberg vgl. auch Dok. Nr. 138, Anlage 12 sowie die in Anm. 10 zu Dok. Nr. 138 angegebenen Dokumente.

Auf ausdrückliche Frage des Reichsministers der Finanzen erklärte Generalleutnant Ludwig nochmals, daß bestimmt keine Zusammenhänge des Reichswehrministeriums mit der Firma Stoltzenberg vorlägen. Die Stützungsaktion, die seinerzeit vom Reichswehrministerium eingeleitet worden sei, um die Gläubiger der in Not geratenen Firma Stoltzenberg vor übermäßigem Schaden zu bewahren, sei in der Öffentlichkeit bekannt.

Das Reichswehrministerium habe einen Vertreter nach Hamburg geschickt, um in Verbindung mit den dortigen Behörden die Sachlage festzustellen. Aus dessen Bericht ergebe sich einwandfrei, daß das Reichswehrministerium in keiner Weise eine Verantwortung treffe.

Der Reichswirtschaftsminister erklärte, daß keine Verstöße gegen das Kriegsgerätegesetz6 vorlägen. Die Firma Stoltzenberg habe einen erheblichen Teil der seinerzeit übernommenen Vorräte7 nach Amerika verkauft. Der Rest hätte am 31. Mai von dem bisherigen Lagerplatz entfernt werden sollen.

6

„Gesetz über Kriegsgerät“ vom 27.7.27 (RGBl. I, S. 239 ).

7

Vgl. oben Anm. 4.

Er habe wegen seiner Zuständigkeit hinsichtlich des Kriegsgerätegesetzes einen Beamten des Reichswirtschaftsministeriums beauftragt, in Hamburg mit[1464] den zuständigen Stellen den Sachverhalt nochmals klarzulegen. Das Ergebnis der Untersuchung solle veröffentlicht werden. Er halte es für zweckmäßig, das Unglück zum Anlaß zu nehmen, die allgemeine Abrüstung der Nationen hinsichtlich des Gaskrieges in geeigneter Weise zu betreiben8.

8

Auf der internationalen Waffenhandelskonferenz in Genf hatte Deutschland am 17.6.25 ein Protokoll über das Verbot der Verwendung von Giftgas und bakteriologischen Mitteln im Kriege unterzeichnet. Um nun auch die Ratifizierung des Protokolls in die Wege zu leiten, übersandte der RAM dem StSRkei am 28.7.28 den Entwurf eines Gesetzes über das Genfer Protokoll mit einer erläuternden Denkschrift (R 43 I /726 , Bl. 137–140); die RReg. stimmte dem GesEntw. im Umlaufverfahren zu (R 43 I /516 , Bl. 258). Das „Gesetz über das Genfer Protokoll wegen Verbots des Gaskriegs“ wurde am 5.4.29 ausgefertigt (RGBl. II, S. 173 ).

Ministerialdirektor Köpke erklärte das Einverständnis des Auswärtigen Amts mit diesen Ausführungen und verlas den Entwurf einer Notiz über die Maßnahmen der Reichsregierung in der Angelegenheit.

Generalleutnant Ludwig regte an, daß das Reichswirtschaftsministerium den Vertreter des Reichswehrministeriums, der bereits in Hamburg verhandelt habe, zu den weiteren Untersuchungen zuziehen möge.

Der Reichsminister der Justiz wies auf die Unruhe in der Bevölkerung wegen mangelnder Vorkehrungen zum Schutze gegen die Gasgefahr in Deutschland hin.

Staatssekretär Zweigert erklärte darauf, daß der Schutz der Bevölkerung gegen Gasangriffe zum Gegenstand einer Kabinettsvorlage gemacht worden sei, die nach eingehenden Beratungen vom Reichsministerium des Innern vorgelegt werde. Bei der Beratung im Kabinett möchten der Reichsminister des Innern und der Reichswehrminister persönlich anwesend sein9. Es sei ein Organisationsplan aufgestellt. Die erforderlichen Mittel sollten erbeten werden.

9

Gemäß einem Antrag des RIM wurde die Frage des Luftschutzes der Zivilbevölkerung vom Kabinett in der Ministerbesprechung vom 30.5.28 behandelt; siehe Dok. Nr. 472, P. 3.

Staatssekretär Dr. Pünder wies darauf hin, daß vor etwa dreiviertel Jahren eine Ressortbesprechung unter seinem Vorsitz in der Angelegenheit stattgefunden habe, und daß die Federführung hierbei dem Reichsministerium des Innern übertragen worden sei10. Die materiellen Vorarbeiten seien weitgehend gefördert.

10

Eine Ressortbesprechung über Vorarbeiten für den Gasschutz der Zivilbevölkerung unter dem Vorsitz Pünders hatte am 20.11.26 in der Rkei stattgefunden (Besprechungsniederschrift Plancks und weitere Vorgänge hierzu in R 43 I /726 ).

Der Reichskanzler stellte fest, daß das Reichswirtschaftsministerium in engster Verbindung mit dem Reichswehrministerium, dem Auswärtigen Amt und dem Reichsministerium des Innern die wegen des Gasunglücks in Hamburg erforderlichen Maßnahmen mit Beschleunigung treffen wird, und daß das Ergebnis alsbald zur Kenntnis der Öffentlichkeit gebracht werden soll. Die vom Auswärtigen Amt vorgeschlagene Pressenotiz soll von den zuständigen Ressorts nochmals durchberaten werden11.

11

Im beiliegenden WTB-Kommuniqué wird mitgeteilt, daß in der heutigen Kabinettssitzung auch das Hamburger Phosgenunglück zur Sprache gekommen sei. „Neben dem tief bedauerlichen Schicksal der von dem Unglück betroffenen Personen lag für das Kabinett der Anlaß zur Prüfung der Angelegenheit in den Vorschriften, die das bekannte Kriegsgerätegesetz vom Juli 1927 über die Herstellung von Giftgasen und den Handel damit enthält.“ Der RWiM habe über die Untersuchungsmaßnahmen der Hamburger Behörden berichtet und mitgeteilt, daß er Sachverständige seines Ressorts nach Hamburg entsandt habe, um feststellen zu lassen, „woher die Phosgenvorräte der beteiligten Firma stammen und für welche Zwecke sie bestimmt waren. Bei der Erörterung im Kabinett konnte bereits festgestellt werden, daß diese Vorräte nicht für Zwecke oder im Auftrage irgendwelcher militärischen Stellen aufbewahrt worden sind.“ (R 43 I /1430 , Bl. 273). Siehe dazu: ADAP, Serie B, Bd. IX, Dok. Nr. 37. – Zum Fortgang der Kabinettsberatung siehe Dok. Nr. 472, P. 4.

[1465] Hinsichtlich des Schutzes der Bevölkerung gegen die Gasgefahr sollen die Verhandlungen möglichst beschleunigt werden. Hierüber soll noch keine Veröffentlichung erfolgen.

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