1.61.1 (ma32p): [Beamtenbesoldungserhöhung, Arbeiterlöhne, Preise.]

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[Beamtenbesoldungserhöhung, Arbeiterlöhne, Preise.]

Herr Stegerwald bezeichnete als Zweck der erbetenen Besprechung, der Reichsregierung gegenüber zum Ausdruck zu bringen, daß in den den christlichen Gewerkschaften nahestehenden Arbeitnehmerkreisen wegen der von der Reichsregierung befolgten Beamtenbesoldungspolitik eine lebhafte Unruhe entstanden sei. Die Beunruhigung soll namentlich im Westen des Reichs, wo die Mehrzahl der Angehörigen der christlichen Gewerkschaften ansässig ist, besonders groß sein. Man wirft der Reichsregierung vor, daß sie Beamten und Arbeitern gegenüber eine verschiedene Politik befolge. Durch die Besoldungsreform werde das Einkommen der unteren Beamten über das Friedensrealeinkommen erhöht, während die Löhne der bestbezahlten Ruhrbergarbeiter die Friedensreallöhne nur knapp erreichten. Der Reichsarbeitsminister verhindere Lohnerhöhungen der Arbeiter. Der Reichswirtschaftsminister tue nichts zur Senkung des Lebenshaltungsindex. Die Reichsregierung behaupte, daß die Wirtschaft eine Lohnerhöhung nicht tragen könne. Während die Reichsregierung der Öffentlichkeit gegenüber den Aufwand für die Beamtenbesoldungserhöhung mit einigen hundert Millionen Mark angebe, betrage der Totalaufwand in Wirklichkeit rund 1,5 Milliarden Mark. Wenn die Wirtschaft diese enorme Summe tragen könne, müsse sie auch eine Lohnerhöhung der Arbeiterschaft ertragen können. Wenn die Regierung durch die Heraufsetzung des Einkommens der unteren Beamten über das Friedensrealeinkommen anerkenne, daß das Existenzminimum gehoben werden müsse, so müsse sie auch das gleiche für die Arbeiter anerkennen. Es komme hinzu, daß im Westen des Reichs, besonders im Ruhrgebiet, die nur für die Beamten geltende Besatzungszulage (gemeint sind die örtlichen Sonderzuschläge) noch immer fortbezahlt würden, obschon hierfür jeder innere Anlaß fehle. Dieser Umstand errege großes Ärgernis.

Von seiten der übrigen Gewerkschaftsvertreter wurden diese Ausführungen noch ergänzt.

Gefordert wurde, daß die Regierung den Arbeitern einen Ausgleich für die Erhöhung der Beamtenbezüge zugestehen solle1.

1

Zur Kritik Stegerwalds und der christlichen Gewerkschaften an der Besoldungs- und Lohnpolitik der RReg. vgl. Heinrich Köhler, Lebenserinnerungen, S. 255 ff.; Stehkämper, Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx, Teil III, S. 339 ff.

[936] Der Reichskanzler erwiderte, daß sich die Reichsregierung bei der Beratung der Besoldungsreform der Gefahr durchaus bewußt gewesen sei, daß sie eine Preissteigerung und eine Lohnbewegung im Gefolge haben könne2. Die Regierung sei jedoch fest entschlossen, dieser Gefahr zu begegnen. Sie sei dabei, die Lage zu prüfen, und werde sich mit dem Problem in nächster Zeit eingehend weiter beschäftigen.

2

Vgl. die diesbezüglichen Ausführungen des RWiM Curtius bei der Beratung des Entwurfs des neuen Besoldungsgesetzes in der Ministerbesprechung vom 10. 9. (Dok. Nr. 291, Ministerbesprechung).

Der Reichsarbeitsminister führte aus, daß eine eingehende Stellungnahme zu den vorgetragenen Wünschen bei der Kompliziertheit des Problems noch nicht möglich sei. Jedenfalls aber müsse er die Darstellung als irrig und bedenklich bezeichnen, daß die Reichsregierung gegenüber den Arbeitern und den Beamten eine verschiedene Politik betreibe. Es dürfe nicht vergessen werden, daß die Beamten seit 1924, abgesehen von einer geringfügigen Erhöhung des Wohnungsgeldzuschusses, keine Gehaltsaufbesserung erfahren hätten, während die Arbeitslöhne in der Zwischenzeit weitergegangen seien. Die Besoldungspolitik und die Entwicklung der Preiskurve seien zwei grundverschiedene Dinge, die ihren selbständigen Entwickelungsgang hätten; jedenfalls entwickele sich die Preispolitik selbständig.

Übrigens sei die Preissteigerung weniger auf die von der Regierung kontrollierten Produktionskosten zurückzuführen wie auf preistreiberische Aufschläge des Handels – nach den Ergebnissen des Enquete-Ausschusses3 –, und man werde zu prüfen haben, ob nicht die öffentliche Meinung gegen dieses Vorgehen des Handels geweckt werden könne.

3

Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft, Verhandlungen und Berichte, Berlin 1927 ff.

Staatssekretär Trendelenburg führte aus, daß das Reichswirtschaftsministerium konsequent den Grundsatz verfolge, das deutsche Preisniveau im Anschluß an die Weltmarktpreise zu halten. Dieser Grundgedanke liege insbesondere der Kohlenpreis- und der Eisenpreispolitik zugrunde. Man könne zur Zeit den Index nicht wesentlich senken, da die in Deutschland bestehende Konjunktur besonderer Natur sei. Deutschland arbeite zur Zeit im großen Maße mit fremdem Geld. Es sei wohl möglich, die Auslandskredite zu sperren und damit den Index zu senken. Die Sperre werde jedoch das Ende der Konjunktur bedeuten und ein Wiederaufleben des Erwerbslosenproblems zur Folge haben.

Im übrigen läge keinerlei Grund zu der Annahme vor, daß die Besoldungsreform eine Erhöhung des Preisniveaus nach sich ziehen werde.

Wesentlich für die Erhaltung des jetzigen Preisniveaus sei, daß das Lohnniveau nicht zu stark nach oben verschoben werde. Eine allgemeine Lohnwelle werde zum Abbruch der jetzigen Konjunktur führen. Erwerbslosigkeit und Verminderung des Beschäftigungsgrades würden die Folgen sein4.

4

In einem Vermerk MinR Feßlers für den RK vom 15.9.27 betr. „Wirtschaftliche Auswirkung der Besoldungsreform“ heißt es: „Staatssekretär Trendelenburg entwickelte in einer Unterredung am 14. 9. folgende Gedankengänge: 1. Die neue Besoldungsregelung bringt die akute Gefahr, daß die Arbeiterschaft Lohnforderungen erhebt, durch die das Lohnniveau in die Höhe getrieben wird. Die Stellung des Reichsarbeitsministers ist schwierig. Ob die Unternehmerschaft Lohnforderungen gegenüber ausreichend fest bleiben wird, ist bei der gegenwärtigen verhältnismäßig günstigen Wirtschaftslage unsicher. Wie sich die Konjunktur weiter gestalten wird, läßt sich gerade jetzt nicht übersehen. Es muß mit einem Rückschlag gerechnet werden. Erhöhung des Lohnniveaus würde das Verhältnis zum Weltmarkt verschieben. Die Ausfuhr würde erschwert, der Wettbewerb ausländischer Waren auf den deutschen Märkten gesteigert werden. Emporschnellen der Arbeitslosenziffer im Winter würde folgen. Die Regierung muß deshalb mit äußerstem Nachdruck auf diese Zusammenhänge hinweisen und Lohnsteigerungen entgegenwirken. Den Arbeitern gegenüber wird sie betonen müssen, daß durch die Besoldungsordnung lediglich der Vorsprung in etwa eingeholt werden soll, den die Löhne der Arbeiter gegenüber den Gehältern der Beamten bereits erreicht haben. 2. Die Steigerung der Bezüge der Beamtenschaft wird zum Teil zur Abdeckung von Schulden und damit volkswirtschaftlich zur Kapitalbildung dienen. Das ist erwünscht. Anschaffungen der Beamten in größerem Maßstabe würden die Kleinhandelspreise steigern. Die Beamten müssen nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß sie zunächst bei Einkäufen zurückhalten. Auf die Kleinhandelsorganisationen wird eingewirkt werden. Sie sollen von Preissteigerungen absehen und sich mit dem zu erwartenden vermehrten Umsatz begnügen. […]“ (R 43 I /1157 , Bl. 17–18).

[937] Ministerialdirektor Lothholz erklärte, daß die Erhöhung der Beamtenbesoldung dem Reiche rund 300 Millionen Mark kosten werde, unter Einschluß der Aufwendungen für die Kriegsbeschädigten. Hinzu komme allerdings, daß auch Post, Bahn, Länder und Gemeinden erhebliche Mehraufwendungen zu leisten haben würden. Indessen sei die von Herrn Stegerwald genannte Zahl von 1,5 Millionen Totalaufwand reichlich hoch gegriffen. Der von den Gewerkschaften gemachte Vergleich zwischen dem Einkommen der Beamten und dem der Arbeiter sei gefährlich. Es komme sehr wesentlich darauf an, welche Vergleichsbasis man wähle (Ledige, Verheiratete und Verheiratete mit Kindern). Bezüglich der örtlichen Sonderzuschläge bemerkte er, daß diese Frage geprüft werde und daß ein Abbau wahrscheinlich sei5.

5

Zum Abbau der örtlichen Sonderzuschläge siehe Dok. Nr. 373, P. 1.

Für den während der Besprechung abberufenen Reichskanzler erklärte der Reichsarbeitsminister in einer Schlußbemerkung, daß es für ihn und die übrigen anwesenden Vertreter der Reichsressorts natürlich unmöglich sei, zu den besprochenen, überaus komplizierten Fragenkomplexen irgendwie abschließend Stellung zu nehmen. Er sicherte den Erschienenen jedoch zu, daß die vorgetragenen Gesichtspunkte bei den demnächstigen Beratungen des Reichskabinetts eingehend geprüft werden und in jeder möglichen Weise Berücksichtigung finden sollten6.

6

Siehe Dok. Nr. 309.

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