1.6 (mu11p): Länder und Grenzgebiete in Ost- und Westdeutschland

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Das Kabinett Müller IHermann Müller Bild 146-1979-122-28APlakat der SPD zur Reichstagswahl 1920Plak 002-020-002Wahlplakat der DNVP Plak 002-029-006Wahlplakat der DDP Plak 002-027-005

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Länder und Grenzgebiete in Ost- und Westdeutschland

Auch in der Übergangsphase der Weimarer Republik von der Nationalversammlung zum Reichstag scheint die Zentralisierung der Innenpolitik in Berlin insbesondere den süddeutschen Ländern, mit denen sich Sachsen verbündete, ein Dorn im Auge gewesen zu sein. Schon in den Tagen des Kapp-Putsches hatten die demokratischen Politiker Schiffer und Koch ein Auseinanderfallen Deutschlands an der Maingrenze befürchtet. Mit Ausnahme Badens vertraten die übrigen süddeutschen Länder unter Führung Bayerns die Ansicht, daß die Bestimmungen der Reichsverfassung eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer Eigenständigkeit bedeute und den Föderalismus gefährde.

Der Widerstand gegen Berlin wird am deutlichsten in den Berichten des preußischen Gesandten in München, Graf Zech, die dieser an das Auswärtige Amt sandte, sichtbar. Er stellte eine erschreckende separatistische Haltung fest, von der auch städtische Gruppen ergriffen worden seien, und die durch Aufrufe des Ordnungsblocks gegen die Reichsregierung199 und gehässige Mäkeleien an den Berliner Entscheidungen gefördert werde. Die Opposition[L] gegen Berlin sei entstanden, weil dort und nicht in München der politische Schwerpunkt liege und da die Berliner Regierungsstellen nach bayerischer Ansicht den Linksradikalen zu weit entgegengekommen seien. Die Tendenz, die politische Vorherrschaft Berlins abzuschütteln, war in Bayern aus dem Gegensatz von Landwirtschaft und Industrie bzw. Stadt erwachsen, der zur Konfrontation von Föderalismus und Zentralismus geworden war200. Stärkste bayerische Partei war die Bayerische Volkspartei (BVP), die sich vor den Reichs- und bayerischen Landtagswahlen gemeinsam mit dem Bauernbund in Beschimpfungen gegen Berlin erging und an eine besondere Mission Bayerns in der Geschichte Deutschlands glaubte201. Unter diesen Umständen erschien es wenig sinnvoll, sich von reichswegen näher mit der Neugliederung der Länder zu befassen. Auf Wunsch des Reichsjustizministers wurde der Vorschlag des Innenministers, eine Zentralstelle für die Länderreform zu schaffen, wie es im Artikel 19 der Reichsverfassung vorgesehen war, bis zur Konstituierung des Reichstags zurückgestellt202.

199

Dok. Nr. 90.

200

Dok. Nr. 18.

201

Dok. Nr. 110.

202

Dok. Nr. 24, P. 11.

Einen wesentlichen Einschnitt in die Hoheitsrechte der Länder stellte die „Verreichlichung“ von Bahnen und Post dar, die für die Eisenbahnen von dem Zentrumsminister Bell eingeleitet worden war, der deshalb bis zur Annahme der Übergangsgesetze im Parlament das Verkehrsressort behielt und danach an Minister Bauer abgab203. Bereits das Protokoll der ersten überlieferten Kabinettssitzung des ersten Kabinetts Müller enthält die Zustimmung der Minister zu den Staatsverträgen mit Bayern und Württemberg über die Verreichlichung des Post- und Telegraphenwesens, die sogar ein Jahr vor dem von der Verfassung festgelegten Termin erfolgte. Die Abfindungskosten von 620 Millionen Mark an Bayern und 250 Millionen Mark an Württemberg und die Übernahme des Bahnpersonals auf das Reich bedeuteten eine derartig hohe finanzielle Belastung, daß das Kabinett dem Finanzminister eine Kreditaufnahme bewilligte, um die Vertragsverpflichtungen und das Eisenbahndefizit abzudecken204. Im Streitfall über Einzelheiten und Durchführung der Verreichlichung sollte der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich zuständig sein205.

203

Dok. Nr. 1.

204

Dok. Nr. 2, P. 24; 102, P. 5.

205

Dok. Nr. 24, P. 9. Diese Bestimmung blieb auch unter der Gesetzgebung des Dawes-Planes bestehen und spielte im Jahr 1927 wie auch im zweiten Kabinett Müller eine Rolle bei Streitfragen, die die Besetzung der Stellen im Reichsbahnverwaltungsrat betrafen.

Die Übernahme der Eisenbahnen stieß auf massive Kritik. Die Wirtschaftsverbände hielten die Verreichlichung für verfehlt und meinten, der Vertrag solle nicht eher in Kraft treten, bis die Öffentlichkeit über seine Einzelheiten unterrichtet worden sei. Auch in den Parlamenten des Reichs und Preußens wurde Opposition laut und selbst in den Reihen der Verfassungsparteien gab es kritische Stimmen, die sich gegen die Verkaufsmodalitäten, d. h. gegen den Preis, das Pfandrecht der Länder, die Verpfändbarkeit der Bahnen, und gegen die Behinderung der Reorganisation durch die Beamtenübernahme richteten.[LI] Diesen Vorwürfen hielt Unterstaatssekretär Stieler im Kabinett entgegen, der Verkaufspreis wiege nur wenig gegenüber dem politischen, finanziellen und verkehrstechnischen Verhängnis, das eine Verzögerung der Übernahme bedeutet hätte206.

206

Dok. Nr. 30, P. 7.

Gefährlicher als die parlamentarische Kritik waren die Drohungen der Eisenbahnbeamten, ihre Arbeit einzuschränken, nachdem ihre Lohnforderungen abgelehnt worden waren. Das Kabinett beschloß jedoch auf Vorschlag des Reichsfinanzministers, es bei einer Gefahrenzulage zu belassen, und verwahrte sich gegen die Form der Vorstellungen, in denen der Reichsjustizminister den strafbaren Tatbestand der Nötigung erfüllt sah207. Das Kabinett beharrte auch auf seinem Beschluß, als die Bahnbeamten erklärten, sie würden nicht in den Reichsdienst übertreten, wenn die Bezahlung nicht aufgebessert werde. Doch als der zuständige Ausschuß der Nationalversammlung, die Lohnforderungen für berechtigt erklärte, setzte sich auch Finanzminister Wirth vor dem Parlament für die bessere Einstufung ein208.

207

Dok. Nr. 55, P. 7.

208

Dok. Nr. 56, P. 2.

Hatten sich auch die Länder der Verfassung gebeugt und der Verreichlichung von Bahn, Post und Telegrafie zugestimmt, so waren sie dennoch nicht gewillt, ihre Besonderheiten aufzugeben und bestanden auf der Institution der Ländergesandtschaften, in denen das Auswärtige Amt eine Gefahr für die Reichseinheit erblickte, da sie der Entente die Möglichkeit bieten würden, eigene diplomatische Vertretungen in die einzelnen deutschen Länder zu entsenden. Der Versuch Frankreichs, in Bayern eine Gesandtschaft einzurichten, erfolgte nach der Ansicht des Außenministers nur, um den Zwiespalt zwischen dem Reich und den Ländern noch zu vertiefen209. Der Innenminister vertrat nun die Meinung, der Kontakt zwischen Reich und Ländern solle durch Vertreter mit beliebiger Bezeichnung verstärkt werden, während der Kanzler ihm entgegenhielt, daß von den süddeutschen Ländern jegliche Beaufsichtigung abgelehnt werde. Wenn Preußen seine Gesandtschaft in Bayern zurückziehe, könne aber ein Reichskommissar in München die Tätigkeit der Ententekommission überwachen. Schließlich machte Minister David darauf aufmerksam, daß durch den Reichsrat eine Vertretung der Länder beim Reich bereits gegeben sei. Über die weisungsgebundene Tätigkeit der Reichsvertreter hinaus müßten jedoch noch regelmäßige Kontakte zwischen dem Reich und den Ländern geschaffen werden. Daraufhin beschloß das Kabinett, mehrmals im Jahr die Ministerpräsidenten zur Beratung nach Berlin zu rufen210.

209

Vgl. Dok. Nr. 33, P. 2.

210

Danach war es dann auch leicht, einen Kabinettsbeschluß herbeizuführen, daß der Innenminister regelmäßig im RR über die Innenpolitik berichten und zugleich Aufschluß über die Länderpolitik verlangen sollte, Dok. Nr. 92, P. 9.

Eine Stufe auf dem Weg zu diesen Besprechungen hin war die Konferenz mit den süddeutschen Länderchefs am 11. Mai 1920. Deutlich erklärten der Kanzler und sein Innenminister bei dieser Gelegenheit, daß die Einzelländer keinen völkerrechtlichen Anspruch auf Gesandtschaften besäßen. Diese könnten[LII] außerdem zum Nukleus eines diplomatischen Korps werden, das der Entente nach den Bedingungen des Versailler Vertrags die Möglichkeit für Eigenvertretungen biete. Das Reich wünsche aber, durch eigene Vertreter die Ressorts über das Eigenleben und die Wünsche der Länder zu informieren. Die Länder beharrten jedoch auf dem Recht auf eigene Gesandtschaften, und trotz früherer gegenteiliger Erklärung stimmte auch Preußen dieser Haltung zu211. Einigkeit kam immerhin darüber zustande, daß man diplomatische Vertreter der Entente in den Einzelländern nicht zulassen wollte212. Nachdrücklich lehnten die Länder die Entsendung von Reichskommissaren ab und verlangten stattdessen die Zusage, daß das Reich Vertreter entsenden werde, die gegebenenfalls diplomatische Qualitäten besäßen. Untereinander sollten die Länder nach dem Vorschlag Außenminister Kösters nicht mehr Gesandte, sondern Bevollmächtigte, insbesondere für Wirtschaftsfragen, austauschen213.

211

Die preußische Gesandtschaft blieb bis 1931 in München bestehen, s. dazu „das Kabinett Brüning“.

212

Zur diplomatischen Vertretang Frankreichs in München s. „das Kabinett Fehrenbach“.

213

Dok. Nr. 91, P. 2.

Diese ausführliche Diskussion zeigt, daß die Zeit der Länderprädominanz durch den Reichsrat, die bereits seit 1917 eingeschränkt worden war, durch die endgültige Parlamentarisierung der Reichspolitik in der Weimarer Republik ihr Ende gefunden hatte und daß im Vergleich zum Kaiserreich nun die Länder nur noch geminderte Rechtspositionen besaßen. Aber noch fiel es den Länderregierungen außerordentlich schwer, auf die ihnen zukommende Stelle im Weimarer Verfassungssystem zurückzutreten. Das galt auch für den Fall, daß das Reichsrecht die Möglichkeiten behinderte, das Landesbudget aufzubessern214.

214

Dok. Nr. 134.

Gemeinsamkeit der Politik zwischen Reich und Ländern war erforderlich bei der Behandlung der Grenzgebiete: Auf Grund des Versailler Vertrags nahm Ostpreußen eine Sonderstellung ein, da es losgelöst vom Reichsgebiet der besonderen Beachtung und Fürsorge bedurfte. Damit der Exklavensituation begegnet werden könne, wollte die Reichsregierung einen Bezirkswirtschaftsrat schaffen, der aber an dem Widerspruch der Sozialpartner, insbesondere der Arbeitgeber, scheiterte215. Ferner erschienen gute Verkehrsverbindungen notwendig, aber im April 1920 wurden die Bahnlinien von der polnischen Regierung unter nichtigem Vorwand unterbrochen. Das führte in Deutschland zu einer innenpolitischen Kontroverse, da das preußische Ministerium für öffentliche Arbeiten gegenüber dem Auswärtigen Amt den Vorwurf erhob, dieses habe seine Noten nicht über dem Obersten Rat der Alliierten zugeleitet und eine falsche Darstellung über die Verhandlungen mit den Polen gegeben216.

215

Dok. Nr. 67, P. 2; 102, P. 3.

216

Dok. Nr. 68.

Das deutsch-polnische Verhältnis war zweifellos eines der schwierigsten Probleme in der außenpolitischen Geschichte der Weimarer Republik. Die polnische Nation, in Deutschland zu Beginn des Jahrhunderts im Sprachenstreit noch diffamiert und verachtet, hatte auf Grund des Versailler Vertrags wieder einen eigenen Staat erhalten. Aber dieser Staat besaß nur ungesicherte Grenzen,[LIII] und die größten Nachbarn, Deutschland und die Sowjetunion, erhoben Territorialansprüche bzw. wandten sich gegen die Gültigkeit und Berechtigung von Plebisziten über die Zugehörigkeit einzelner Landesteile. In Deutschland erschien es vielfach unerträglich, daß die Polen, die als Bergleute an der Ruhr, als Landarbeiter und als politische Opposition in den Parlamenten des Reichs und Preußens bekannt gewesen waren, nun einen eigenen Staat besitzen sollten. In Sorge um die bestehenden Grenzen und beschwingt durch das staatlich gefestigte Nationalbewußtsein gab es in Polen Gruppen, die bereit waren, auch über die im Versailler Vertrag festgelegten Territorien hinaus Land zu gewinnen. In Oberschlesien wirkte die Korfantybewegung, und die Grenzen Ostpreußens und Pommerns wurden von Militärpatrouillen mehrfach überschritten. Gesteigertes Mißtrauen und Bereitschaft zur direkten Konfrontation waren das Ergebnis dieses politischen Fehlverhaltens auf beiden Seiten. Der polnischrussische Krieg ließ in Deutschland die Hoffnung wachsen, daß Polen die ehemals deutschen Gebiete wieder verlieren werde. Außerdem sollten weitere Gebietsverluste, die bei Plebisziten zu erwarten waren, verhindert werden.

Für die Zeit nach der ostpreußischen Volksabstimmung am 11. Juli 1920 wurde eine Krisensituation für diese Provinz befürchtet. Um dem erwarteten polnischen Einfall und Abschnürungsversuch begegnen zu können, schlug das Reichswehrministerium dem Auswärtigen Amt vor, es solle ein Direktorium aus dem Oberpräsidenten der Provinz, dem Reichswehrkommandeur und dem Präsidenten des Provinziallandtags geschaffen werden. An dieses Gremium hätten sich im Notfall die Reichs- und Staatsdienststellen der Provinz zu wenden. Das Auswärtige Amt verwarf diesen Gedanken, sprach sich aber für Vereinbarungen zwischen den drei genannten Amtsträgern aus. Begründet wurde die Ablehnung vom Auswärtigen Amt mit der Ansicht, daß die Bevölkerung nur zivilen Stellen vertraue217. Mit dem gleichen Argument trat Oberpräsident Siehr für eine wesentliche Verstärkung der Sicherheitspolizei ein, die nicht als militärisches Machtmittel betrachtet werde und daher geeignet sei, Sicherheit und Ordnung zu wahren oder auch wiederherzustellen. Auf die Arbeiter wirke die Reichswehr schlecht, die ohnehin für Polizeiaufgaben ungeeignet sei. Siehr schlug darum auch vor, daß bei einer Verteidigungsmacht von 200 000 Mann, die auf der Konferenz von Spa angestrebt werden sollte, 50 Prozent für die Sicherheitspolizei vorzusehen seien218. Auch die Reichswehr trat für eine Vermehrung der Polizei ein, setzte aber dabei voraus, daß davon die eigene Truppenstärke unberührt bleibe.

217

Dok. Nr. 122.

218

Dok. Nr. 136. Im Nachlaß Schiffer  findet sich eine Begründung des OPräs. Siehr für den Antrag auf Verstärkung der Sicherheitspolizei. Dort heißt es: „Wird mit Rücksicht auf eine etwaige Verstärkung der Reichswehr in Ostpreußen die unbedingt erforderliche Verstärkung der Sicherheitspolizei nicht bewilligt oder bei den Verhandlungen in Spa nicht durchgesetzt, dann bin ich nicht in der Lage, bei eintretenden Unruhen oder bei äußeren Verwicklungen, die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Ordnung in Ostpreußen zu gewährleisten und müßte die Verantwortung für die sich daraus ergebenden Folgen ablehnen“ (15.6.20; BA: NL Schiffer 4).

[LIV] Das Truppenamt hatte einräumen müssen, daß seit Beginn der innerpolitischen Auseinandersetzungen in Deutschland die Grenzen gegenüber Polen von Wehrmacht entblößt waren. Zur Beschwichtigung der Bevölkerung, die sich durch geringfügige, aber fortwährende Grenzverletzungen der Polen verunsichert fühlte, sollte Polizei eingesetzt werden. Zwar wurde in einem Schreiben an den Preußischen Ministerpräsidenten behauptet, es sei die Aufgabe der in vereinzelten Garnisonen stationierten Militäreinheiten größere polnische Übergriffe mit Waffengewalt zu verhindern, aber dem stand das Wissen um die Tatsache entgegen, daß die geringen deutschen Truppen nicht in der Lage waren, einen massierten polnischen Angriff aufzuhalten219.

219

Dok. Nr. 61; 80.

In Oberschlesien erblickte das Kabinett Müller I ein wichtiges Pfand für die Erfüllung seiner Reparationsverpflichtungen220 und bemühte sich daher, polnischen Werbungen entgegenzutreten und Absichten des französischen Abstimmungskommissars Le Rond, die eine Herauslösung der Provinz aus dem deutschen Rechtssystem bewirken sollten, abzuwehren221. Die außerordentlich kritische Ernährungslage in Deutschland hatte die Polen veranlaßt, Nahrungsmittel nach Oberschlesien zu senden, um damit den polnischen Wohlstand zu demonstrieren, an dem die Oberschlesier bei einer Entscheidung zugunsten Polens teilhaben könnten. Im Interesse Deutschlands lag es daher, mit einer geschickten Lebensmittelversorgung die polnischen Handlungen zu konterkarieren222. Es kam jedoch über Art und Weise der Gegenpropaganda zu einer kleinlichen Auseinandersetzung zwischen der Reichszentrale für Heimatdienst und dem preußischen Innenministerium, die beide Oberleitung und Entscheidungsbefugnis für sich beanspruchten. Die Reichszentrale wies auf die größere Propagandaerfahrung, die sich bereits während des schleswig-holsteinischen Plebiszits bewährt habe, und machte darauf aufmerksam, daß ihrer Tätigkeit nicht das Attribut „preußisch“ angehängt werden könne223. Beendet wurden diese Querelen erst unter dem Kabinett Fehrenbach kurz vor dem Plebiszit am 10. August 1920, als dem preußischen Landrat Lukaschek die Gesamtpropaganda übertragen wurde224.

220

Anm. 10 zu Dok. Nr. 66.

221

Dok. Nr. 84.

222

Im RKab. wurde beschlossen, in den Abstimmungsgebieten die Brotpreise nicht zu erhöhen, Dok. Nr. 104, P. 2. Zur Lebensmittelbeschaffung für die oberschlesischen Bergleute vgl. Dok. Nr. 111.

223

Dok. Nr. 64; 83; 93.

224

S. dazu „das Kabinett Fehrenbach“.

Schwierigkeiten boten auch die oberschlesischen Autonomiebestrebungen, die sich auf die konfessionelle Struktur der Provinz gründeten. Ihnen wollte der Reichskanzler in der Weise Rechnung tragen, daß kurz vor den Wahlen ein Autonomiegesetz erlassen werden sollte, das die Loslösung Oberschlesiens von Preußen, aber seine Zugehörigkeit zum Inhalt haben mußte. Dafür setzte sich auch der deutsche Kommissar bei der Abstimmungsbehörde Fürst Hatzfeldt ein, der von der Sorge Korfantys vor einer Auswirkung des Autonomiegesetzes auf die Abstimmungsergebnisse berichtete. Jedoch verharrte das preußische[LV] Staatsministerium auf dem Standpunkt, daß Oberschlesien ein Teil Preußens bleiben müsse225.

225

Dok. Nr. 74; 132.

Der Oberpräsident in Breslau befürchtete indessen, daß auch Niederschlesien gefährdet sei. Von Polen und auch Tschechen werde nicht nur der Einmarsch vorbereitet, im Lande selbst seien polnische Kräfte wirksam. Um langfristige Abwehrmaßnahmen vorzubereiten, sei ein gutorganisierter Nachrichtendienst, der bis nach Polen hinein arbeite, erforderlich. Das Reich solle, so schrieb unterstützt vom Reichspräsidenten und Innenminister Koch der Oberpräsident, hierfür 55 000 Mark bereitstellen226. Auch nichtstaatliche Gruppen bereiteten sich auf den befürchteten polnischen Angriff vor. Staatskommissar Weismann warnte vor den Folgen, die die Aktionen und Demonstrationen linker und nationalistischer Verbände in Oberschlesien heraufbeschwören würden. Weismann meinte, es müsse im Reichsinteresse liegen, das Auftreten der Kampforganisationen zu verhindern, weil andernfalls die verärgerten Franzosen weiterhin die Polen begünstigen würden227.

226

Dok. Nr. 89.

227

Dok. Nr. 141.

Nicht nur im Osten hatte die Reichsregierung die territoriale Integrität zu bewahren: Bald nach Kriegsende hatten sich in den besetzten westdeutschen Gebieten und im Ruhrgebiet autonomistische und separatistische Bestrebungen bemerkbar gemacht, die die Aufmerksamkeit der Reichsregierung auf sich zogen228. Wenn sich auch das erste Kabinett Müller vor wichtigere Aufgaben, die sofort gelöst werden mußten, gestellt sah, so durfte es doch nicht die besetzten Gebiete und die von dort nach Berlin dringenden Forderungen ohne Antwort lassen229, zumal sich auch im Ruhrgebiet der Eindruck verbreitete, daß, wie Vertreter der Industrie dem Reichspräsidenten berichteten, die Reichsgewalt kaum in der Lage sei, Schutz zu gewähren230. Insbesondere in den Franzosen, die in dieser Zeit begannen, ihnen unerwünschte Beamte aus ihrer Besatzungszone auszuweisen231, wurden die treibenden Kräfte für die Auflösung und Zergliederung des Reichsgebiets gesehen. Dazu war aus Mainz ein Bericht vorgelegt worden, aus dem hervorging, daß französische Offiziere die Aufgliederung des Reichs in mehrere Bundesrepubliken und einen rheinischen Pufferstaat erörtert hätten und, um dieses Ziel zu erreichen, innerdeutsche Gegensätze ausnutzen wollten232. Auch gegen die Engländer wurde der Vorwurf erhoben, daß sie eine rheinische Republik zu schaffen beabsichtigten und zu diesem Zweck mit linksradikalen Politikern zusammenarbeiteten233. Diese Situation verlieh dem Bericht Minister Davids Bedeutung, der Anfang Mai Darmstadt und Mainz besucht und den Eindruck gewonnen hatte, daß die Bevölkerung sich isoliert fühle. Er schlug vor, daß nach den Reichstagswahlen[LVI] die Minister häufig ins besetzte Gebiet fahren sollten, um die Kontakte zum Rheinland zu pflegen. Gerade in Mainz sei die Lage recht kritisch, da dort eine geschickte französische Propaganda getrieben werde234.

228

Vgl. dazu K. D. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik.

229

Dok. Nr. 24, P. 12.

230

Dok. Nr. 29.

231

Dok. Nr. 117, P. 6.

232

Dok. Nr. 33, P. 2.

233

Dok. Nr. 57.

234

Dok. Nr. 115, außerhalb der TO.

Welcher Verkennung ihrer politischen Möglichkeiten sich aber die Dienststellen des Reichs hingaben, zeigt das Verlangen des Reichskommissars für die besetzten Gebiete, daß in Koblenz ein Brückenoffizier arbeiten solle, der als Verbindungsmann zu den Besatzungsbehörden gedacht war. Seine Aufgabe hatte nach diesen übertriebenen Ansichten des Reichskommissars vornehmlich darin zu bestehen, die Einreise alliierter Soldaten in das unbesetzte Gebiet zu kontrollieren und zu genehmigen. Allerdings erblickte der Reichsschatzmeister in dieser Dienststelle eine Beeinträchtigung seines Ressorts, da der Offizier auch die Verwaltung des Heeresgutes im besetzten Gebiet übernehmen sollte. Anfang Mai gab der Brückenkopfoffizier diese Funktion an die Reichsvermögensverwaltung ab235. Besondere Bedeutung hat er anscheinend danach nicht mehr erlangt.

235

Dok. Nr. 44.

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