2.77.1 (mu11p): 1. Behandlung der Denkschrift.

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1. Behandlung der Denkschrift.

Reichskanzler Müller: Es handele sich heute vorwiegend um die Frage, ob die Denkschrift vor den Verhandlungen in Spa herausgegeben werden solle und ob positive Vorschläge über die Höhe der zu zahlenden Entschädigung zweckmäßig gemacht würden2 Käme man zu einer Bejahung dieser Frage, so stände die weitere zur Erörterung, ob solch Vorschlag in die Denkschrift aufzunehmen oder erst bei der Verhandlung in Spa zu machen sei.

2

Zur Vorgeschichte s. Dok. Nr. 70.

Unterstaatssekretär Schröder teilt mit, daß die Denkschrift der Sachverständigen umgearbeitet würde unter Berücksichtigung der Vorschläge von Wiedfeldt. Die Denkschrift des Professors Bonn würde in kürzester Zeit fertiggestellt, ihre Übersetzung und Drucklegung aber würde noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Im ganzen würde es möglich sein, die Denkschrift 8 Tage vor der Verhandlung in Spa zu überreichen.

Unterstaatssekretär Boyé hält es für wünschenswert, die Frist vom 10. Mai durch eine Ankündigung der Denkschrift zu wahren. Er hält es für nötig, die Denkschrift selbst etwa am 15. Mai zu überreichen, damit die Entente die Möglichkeit habe, vor dem Beginn der Verhandlungen die Denkschrift zu prüfen.

[182] Reichskanzler Müller hält es nicht für zweckmäßig, schon in der Denkschrift einen positiven Vorschlag zu machen.

Reichsminister der Finanzen Dr. Wirth hat Zweifel, ob es zweckmäßig sei, die Denkschrift vor dem Beginn der Verhandlungen zu überreichen.

Reichsverkehrsminister Bauer empfiehlt, entsprechend dem früher gefaßten Beschluß, in der Denkschrift einen konkreten Vorschlag zu machen und diese vor den Verhandlungen zu überreichen3.

3

Damit bezieht sich Bauer auf den unter seiner Kanzlerschaft in der Chefbesprechung am 3.3.20 gefaßten Beschluß, eine Denkschrift über die deutschen Reparationsleistungen zu erstellen (R 43 I /13 , Bl. 340-342).

Reichskanzler Müller weist darauf hin, daß die Lage seit Fassung jenes Beschlusses durch die bevorstehende Konferenz in Spa völlig geändert sei. Er hält es für nötig, sich auch auf Eventualvorschläge einzustellen. Die Entente erwarte im übrigen positive Vorschläge erst in Spa, nicht schon am 10. Mai.

Unterstaatssekretär Müller und Reichsminister Koch schließen sich der Ansicht des Reichskanzlers an. Reichsminister Koch hält es für erwägenswert, ob man sich nicht statt auf eine bestimmte Summe Geldes lieber auf eine bestimmte Summe zu liefernder Waren einigen solle.

Reichsminister Dr. Köster hält es für unmöglich, konkrete Vorschläge schon vor der Konferenz zu machen. Beide Denkschriften aber müßten mit größter Beschleunigung herausgebracht werden.

Unterstaatssekretär Boyé macht darauf aufmerksam, daß in der Ära Loucheur über die Wiederaufbaufrage Frankreichs eingehend verhandelt worden sei4. Die Verhandlungen seien jedoch an dem Verhalten Frankreichs gescheitert5. Es sei von Bedeutung, daß die anderen Ententemächte hiervon Kenntnis erhielten.

4

Loucheur war als Minister für den industriellen Wiederaufbau und als Vorsitzender des Wiedergutmachungsausschusses mit dem Kabinett Clemenceau am 18.1.20 zurückgetreten. Sein Nachfolger als Vorsitzender des französischen und des interalliierten Wiedergutmachungsausschusses war kurzfristig Senator Jonnart, dem am 20. 2. Poincaré im Amt gefolgt war.

5

Dazu heißt es in der Sachverständigendenkschrift über die deutsche Leistungsfähigkeit: „Es ist von seiten der deutschen Regierung wiederholt die Bereitwilligkeit ausgesprochen worden, an dem Wiederaufbau Frankreichs nicht nur durch den Export von Sachgütern, sondern durch schaffende Arbeit an den Stätten der Zerstörung teilzunehmen. Es muß namentlich auch aus volkswirtschaftlichen Erwägungen heraus lebhaft beklagt werden, daß die mannigfachen Anregungen, welche Deutschland seit Unterzeichnung des Vertrages Frankreich vorgelegt hat, einen Erfolg noch nicht erbracht haben. – Die Logik der wirtschaftlichen Gesetze ist zwingender und undurchbrechbarer, als irgendeine Bestimmung willkürlicher Vertragsverhandlungen unter Menschen. Soll Deutschland als Vorbedingung irgendwelcher Leistungen Zahlungsbilanz und Wirtschaftsapparat wieder ins Gleichgewicht bringen, so kann es dies nur, wenn der innere Bevölkerungsdruck, der Kampf um den Nahrungsspielraum gemildert wird, der die Revolution der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu einem Dauerzustand zu machen droht. – Da es Deutschland an Rohstoffen aus dem Ausland und an Kohlen im Inlande mangelt, um seinen Verpflichtungen nur durch den Export von Waren nachkommen zu können, so ist es erforderlich, einen Teil seiner lebenden Kräfte ins Ausland zu senden, um so durch werbende Arbeit einen weiteren Betrag aus ausländischen Zahlungsmitteln zur Abgeltung seiner Wiedergutmachungsschuld zu erhalten. Auch diese Einkünfte würde Deutschland in erster Linie für den genannten Zweck sicherzustellen haben. – Die Sachverständigen halten es, solange andere Betätigungsmöglichkeiten größerer Bevölkerungsmassen im Ausland dem Deutschen durch Kolonien nicht gewährt werden [dieser Nebensatz nur in der endgültigen Fassung der Denkschrift], für unerläßlich, daß die Verhandlungen über solche Arbeitsbeteiligung in Frankreich mit allem Nachdruck fortgesetzt und einem greifbaren Ergebnis zugeführt werden, da sie sich unter den heutigen Wirtschaftsverhältnissen nicht vorzustellen vermögen, wie die Lasten aus dem Friedensvertrag allein mit Hilfe der volkswirtschaftlichen Bilanz aus Einfuhr und Ausfuhr von Waren bestritten werden können.“ (R 43 I /401 , Bl. 116-190, weiteres Material in R 43 I /403 ). S. hierzu auch C. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 33 f.

[183] Reichsminister Dr. Hermes ist gleichfalls der Ansicht, daß positive Vorschläge erst in Spa zu machen seien. Er hält es für erforderlich, bei den Verhandlungen auf die Notwendigkeit hinzuweisen, die Ernährung Deutschlands auf eine breitere Basis zu stellen, als es bisher möglich war6.

6

Der REM übersandte dem RK am 10.5.20 eine Denkschrift „über die Notwendigkeit, unsere Ernährungsbasis zu verbreitern“, und bezog sich dabei auf Äußerungen Lloyd Georges, wonach die alliierten Regierungen die Überzeugung gewonnen hätten, „daß Deutschland zur Erfüllung der ihm im Friedensvertrag auferlegten Verpflichtungen nur dann im Stande sein wird, wenn der deutschen Bevölkerung durch eine entsprechende Ernährung sowie durch Beschaffung von Rohstoffen die Arbeitsfähigkeit und die Arbeitsmöglichkeit zurückgegeben werden.“ Hermes wies darauf hin, daß der Bedarf der Bevölkerung pro Kopf am Tag 2750 Kalorien betrage, jedoch nur 1296 Kalorien „darzureichen“ seien. Ferner verlangte er, daß seine Denkschrift in Spa vorgelegt und er an der Konferenz beteiligt werde. Dazu notierte Müller, daß die Entscheidung über die Beteiligung des REM beim neuen Kabinett liegen werde. Kempner notierte am 29. 6., daß die Beteiligung des REM beschlossen worden sei (R 43 I /401 , 403, Bl. 95-100, hier: Bl. 100). Vgl. zur Ernährungslage DBFP 1st ser. vol. IX, pp. 475 sq.

Ministerialdirektor von Jonquières betont, daß in Spa ein positiver Vorschlag unter allen Umständen gemacht werden müsse. Dieser würde aber nur den Ausgangspunkt zu weiteren Verhandlungen bilden.

Professor Bonn warnt davor, schon in der Denkschrift positive Vorschläge zu machen, denn alle Vorschläge, die wir machen könnten, seien an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Dies dürfe man aber in der Denkschrift noch nicht aussprechen, weil diese Voraussetzungen sonst den Charakter von Bedingungen annehmen würden.

Unterstaatssekretär Joël teilt auf Anfrage mit, daß der Oberreichsanwalt erklärt habe, die Verfolgung der auf der Auslieferungsliste befindlichen Personen7 sei auf einem toten Punkt angekommen. Es fehle jegliches sachliches Material, so daß der Oberreichsanwalt auch nicht in einem einzigen Falle die Eröffnung der Voruntersuchung beantragen könne. Es würde sich empfehlen, von der Entente die Einreichung von Material zu erbitten.

7

Zur Frage der Auslieferung von den Alliierten wegen Kriegsverbrechen beschuldigter Deutscher s. Dok. Nr. 45; 98, P. 2.

Was die Beleidigung von Mitgliedern der Entente-Kommissionen, insbesondere im Baltikum betreffe, so läge auch hier kein ausreichendes Material vor. Es würde nötig sein, die angeblich Geschädigten eidlich vernehmen zu lassen8.

8

In Noten vom 24. 3. und 15.4.20 hatte sich General Nollet „wegen verschiedener Beleidigungen oder Angriffen gegen Angehörige der Interalliierten Ausschüsse durch deutsche Soldaten oder Zivilisten“ an den RAM gewandt (RAM an Nollet, 12.6.20, R 43 I /14 , Bl. 144-148). Am 12. 4. hatte der deutsche Geschäftsträger in London, Sthamer, über ein Gespräch mit dem britischen UStS Sir Eyre Crowe mitgeteilt, dieser habe ihm erklärt, „daß starke Mißstimmung und großes Mißtrauen gegen Deutschland, namentlich bei dem englischen Militär, aus dem Grunde bestehe, daß notorische Verbrecher seit Jahren unverfolgt geblieben seien und anscheinend nicht verfolgt werden sollten.“ Sthamer hatte aus Crowes Ausführungen den Eindruck gewonnen, daß die Frage demnächst von der britischen Regierung wieder aufgenommen werde. „Wenn es möglich sein sollte, dieser Aktion zuvorzukommen, so dürfte das wesentlich dazu beitragen, hier eine günstigere Atmosphäre zu schaffen.“ (R 43 I /49 , Bl. 198 f.). Auf Grund dieser Mitteilung hatte der RK am 30. 4. den RWeM, den RJM und den PrJM um Aufstellungen gebeten, aus denen hervorgehe, wann und wo Anschläge auf Mitglieder alliierter Missionen erfolgt und welche Maßnahmen danach unternommen worden seien, „insbesondere ob eine Entschuldigung seitens deutscher Behörden ausgesprochen, eine Entschädigung gezahlt und ein gerichtliches Verfahren eingeleitet worden ist, gegebenenfalls, welchen Ausgang dies Verfahren genommen hat“ (R 43 I /406 , Bl. 4). Der RWeM legte am 5. 5. eine summarische Übersicht über 28 Zwischenfälle vor, in die deutsche Soldaten und Angehörige interalliierter Kommissionen verwickelt waren (R 43 I /406 , Bl. 14-24). Am 1. 5. wandte sich der RK erneut an den RWeM, den RJM und den PrJM und verlangte eine beschleunigte Untersuchung der Vorfälle, die sich bereits im November 1919 ereignet hätten: „Die immer neue Verzögerung dieser Angelegenheit wird bei der Entente, namentlich auch in Frankreich, aufmerksam verfolgt. Sie wird als Zeichen dafür verwertet, daß die Deutsche Regierung ihrerseits zwar guten Willen zeigen möge, aber nicht in der Lage sei, sich gegenüber dem, was die Entente als Militarismus bezeichnet, durchzusetzen. Die Fälle haben umsomehr eine hochpolitische Bedeutung bekommen, als gerade in Frankreich zur Zeit zwei Strömungen entscheidend miteinander kämpfen, nämlich die Anschauung derjenigen, die aus den eben angeführten Gründen alles Vertrauen auf die Deutsche Regierung für zwecklos halten und die einzige Hilfe für Frankreich in einer völligen Zerstörung Deutschlands sehen, und die Anschauung derjenigen, die diese Ansicht bekämpfen. Bei den hierüber stattfindenden Diskussionen ist, wie zuverlässig berichtet wird, die Frage der Bestrafung der Baltikum-Schuldigen und das Schicksal der Bemühungen in dieser Hinsicht wiederholt zur Sprache gebracht worden“ (R 43 I /14 , gefunden in R 43 I /49 , Bl. 193 f.).

[184] Reichsminister Dr. Köster rät davon ab, in der jetzigen Zeit Material für das Strafverfahren von der Entente anzufordern. Dies würde die Atmosphäre von Spa ungünstig beeinflussen.

Reichsminister Koch hält ein Ersuchen an die Entente, die Geschädigten eidlich zu vernehmen, für empfehlenswert.

Unterstaatssekretär Joël erklärt gegenüber den Ausführungen des Reichsministers Dr. Köster, daß die Entente selbst Kommissionen eingesetzt hätte zur Ergänzung des Listenmaterials. Hieraus gehe hervor, daß die Entente selbst ihr Material für unzureichend halte. Bei den Baltikumern sei das Verfahren durch die Militärgerichtsbarkeit in falsche Bahnen gekommen9. Die Entente könne es nur als Entgegenkommen ansehen, wenn wir um eidliche Vernehmung der Geschädigten bitten10.

9

Der RK hatte in seinem Schreiben vom 1. 5. (s. Anm. 8) berichtet, daß die Alliierten seinerzeit mehrere Offiziere wegen Ausschreitungen gegen alliierte Kontrollorgane namentlich benannt hätten. Vom Chef der Heeresleitung sei dem RK Bauer erklärt worden, gegen zwei der Beschuldigten sei Schutzhaft verhängt worden. Diese Zusage sei aber fälschlich gegeben worden; die Offiziere habe man nicht in Schutzhaft genommen, sie seien jetzt vielmehr flüchtig. „Diese Situation ist umso peinlicher, als vorher die Gerichte den Haftbefehl ‚mangels Fluchtverdacht‘ abgelehnt hatten und dies der Entente mitgeteilt war. Die Flüchtigen zu finden ist monatelang in erstaunlicher Weise nicht geglückt, obwohl Ortsangaben über ihren Aufenthalt wiederholt beigebracht werden konnten. Zum Teil sind sie noch nicht gefunden. Die Erlassung von Steckbriefen scheiterte, weil angeblich kein Signalement von den Truppenteilen zu bekommen war. Es ist ferner bis jetzt in keinem der schweren Fälle eine Hauptverhandlung möglich gewesen. Im Januar ist ferner der Entente zugesichert worden, daß durch Versetzung nach Berlin sämtliche Beschuldigten einem Berliner Militärgericht einheitlich zugeführt werden sollen. Es hat sich herausgestellt, daß inzwischen mehrere Beschuldigte infolge ihrer Entlassung aus dem Dienst dem Militärgericht nicht mehr unterstehen.“

10

Der RJM konnte dem RK am 15.5.20 mitteilen, der „Reichskommissar für die Verfahren gegen Angehörige der Baltikumtruppen wegen der Angriffe auf Mitglieder von Ententekommissionen“ habe auf diplomatischem Wege Schreiben an Gerichte der Entente gerichtet mit der Bitte um Vernehmung der im Ausland lebenden Zeugen. Der Reichskommissar sei außerdem angewiesen, die Fortsetzung der Verfahren im Inland zu überwachen. „Die Möglichkeit, noch vor den Verhandlungen in Spa Hauptverhandlungen stattfinden zu lassen, ist indessen bei dem derzeitigen Stand der Ermittlungen ausgeschlossen. Ich glaube auch, daß von Hauptverhandlungen in nicht genügend aufgeklärten Sachen, insbesondere in solchen, in denen die Verletzten keine Gelegenheit hatten, zu Worte zu kommen, keine günstige Wirkung in außenpolitischer Beziehung erwartet werden kann, da die Gefahr nahe liegt, daß die Hauptverhandlungen zu Freisprechungen führen, die auf die mangelhafte Vorbereitung der Strafsachen zurückzuführen wären. Ich möchte annehmen, daß die Ersuchen an die Gerichte der Entente um Vernehmung von Zeugen sowie die Haftbefehle als Zeichen dafür gewertet werden müssen, daß der ernste Wille besteht, die Schuldigen nunmehr mit größter Beschleunigung der Strafe zuzuführen.“ Der beauftragte Reichskommissar war Staatsanwalt Dobring (R 43 I /49 , Bl. 212). Die Noten General Nollets vom März und April wurden am 12. 6. ausführlich vom RAM beantwortet, der darauf hinwies, daß in sechs von Nollet angeführten Fällen eine Strafverfolgung der Täter stattgefunden habe oder angeordnet sei und das Reich in zwei Fällen Entschuldigungen bei der Entente ausgesprochen habe (R 43 I /14 , Bl. 144-148).

[185] Reichskanzler Müller stellt fest, daß die Mehrheit des Kabinetts sich dahin ausgesprochen habe, in der Denkschrift keine positiven Vorschläge zu machen. Die Denkschrift müsse aber so gehalten sein, daß spätere Vorschläge sich ihr organisch anfügten.

Unterstaatssekretär Albert bittet um strengste Vertraulichkeit in der Behandlung dieser Angelegenheit11.

11

Zum Fortgang s. Dok. Nr. 94.

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