2.174 (mu21p): Nr. 174 Besprechung über Reparationsfragen. 19. April 1929, 9 Uhr

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Nr. 174
Besprechung über Reparationsfragen. 19. April 1929, 9 Uhr

R 43 I /277 , Bl. 131-134

Anwesend: Müller, Stresemann, Hilferding, Curtius, Wirth; StS Pünder, v. Schubert; MinDir. Zechlin, v. Hagenow, Ritter, Schäffer, Dorn; Protokoll: MinR Vogels.

Reichsminister Dr. Hilferding erklärte, daß von Paris die Berichte über die Vollsitzung der Sachverständigen-Konferenz vom 17. April sowie über die beiden Sitzungen des Revestoke-Ausschusses vom 18. April in der Nacht durch Fernschreiber eingegangen seien und sogleich mitgeteilt werden sollten1. Er habe die Anregung zu dieser, zu so früher Stunde einberufenen Besprechung gegeben, weil in Paris um 12 Uhr die Vollsitzung der Sachverständigen-Kommission wieder beginne, so daß für den Fall, daß die Regierung die Haltung der Sachverständigen zu beeinflussen wünsche, sofort gehandelt werden müsse.

1

Ein Fernschreiberbericht über die Sitzung am 18. 4. in R 2 /2924 , Bl. 259-263. Die Mitteilungen Ruppels über die Sitzung vom 17. 4. vom gleichen Tag (Nr. K. 463) und über die Sitzung des Revelstoke-Ausschusses vom 18. 4. (Nr. K. 471 vom 19. 4.) befinden sich in R 43 I /289 , gefunden in R 43 I /291 , Bl. 102-107, 130-134.

Reichsminister Dr. Hilferding verlas sodann den wesentlichen Inhalt der Berichte. In der Vollsitzung vom 17. d. M. sei das deutsche Memorandum übergeben worden, und anschließend daran habe eine lebhafte Debatte stattgefunden. Das Memorandum sei von allen Seiten, einschließlich von seiten der Amerikaner und des Japaners, lebhaft angegriffen worden, insbesondere der Teil, der die politischen Bedingungen enthalten habe. Der Vorsitzende Young habe erklärt, daß ein Wirtschaftler ein sicheres Urteil über die Zukunft nur für die nächsten 15 Jahre haben könne. Alle Mußmaßungen für spätere Zeiten seien[557] mehr oder weniger Spekulationen. Young habe daher vorgeschlagen, daß ein Unterausschuß sich mit der Frage befassen solle, ob man zu einer Einigung über eine Regelung für die nächsten 15 Jahre kommen könne. Dieser Vorschlag sei angenommen worden. Der Unterausschuß habe zunächst am Vormittag des 18. April unter dem Vorsitz von Lord Revelstoke getagt. In dieser Vormittagssitzung habe Schacht sehr wirkungsvoll den deutschen Standpunkt entwickelt. Der Nachmittagssitzung desselben Ausschusses sei offenbar eine Vorbesprechung der vier Hauptgläubigermächte vorausgegangen. Offenbar auf Grund dieser Vorbesprechung habe Stamp in der Nachmittagssitzung an Schacht die ganz präzise Frage gerichtet, ob die Zahlen des Zahlungsplanes im deutschen Memorandum endgültig seien oder ob er über eine increasing scale der Annuitäten mit sich verhandeln lassen wolle. Schacht habe erwidert, daß er dazu bereit sei, habe jedoch zu verstehen gegeben, daß er dies nur so meine, daß ein etwaiges schnelleres Ansteigen der Jahresannuitäten über den Jahresbetrag von 1650 Millionen hinaus durch ein entsprechendes Absinken unter diese Zahl in späteren Jahren ausgeglichen werden müsse, mit den Worten, daß der Durchschnitt von 1650 Millionen aufrecht erhalten werden müsse. Auf die Frage Stamps, ob Schacht zu weiterem Entgegenkommen nicht bereit sei, habe Schacht erwidert, unter den gegenwärtigen Verhältnissen – nein, es sei denn, daß ihm Möglichkeiten aufgezeigt würden, wie die gegenwärtige deutsche Lage verbessert werden könne. Schacht habe auch um diesbezügliche Anregungen gebeten. Irgendwelche Anregungen seien jedoch nicht erfolgt, so daß es bei der negativen Antwort Schachts sein Bewenden behalten und der Unterausschuß seine Verhandlungen ergebnislos abgebrochen habe. Der Unterausschuß werde in der auf heute mittag 12 Uhr anberaumten Sitzung der Sachverständigenkommission über den negativen Verlauf der Unterausschußsitzung Bericht erstatten. Es sei fraglich, ob in der Vollsitzung alsdann nochmal materiell zur Sache verhandelt werde. Jedenfalls müsse mit der Wahrscheinlichkeit gerechnet werden, daß die Vollsitzung zu dem Beschluß komme, daß sie den Regierungen nur noch über den Verlauf der Verhandlungen einen Bericht erstatten werde. Die Abfassung dieses Berichts werde voraussichtlich fünf Tage in Anspruch nehmen.

Reichsminister Dr. Hilferding fügte ergänzend hinzu, Schacht sehe offenbar keine Möglichkeit, sich mit der Gegenseite zu einigen. Das deutsche Memorandum lasse dies unzweideutig erkennen. Er entnehme dem Wortlaut des Memorandums, seinem mathematischen Inhalt und der Art der Vertretung desselben, daß es auf Abbruch der Verhandlungen abgestellt sei2. Dies sei bei Prüfung der Frage zu berücksichtigen, was die Regierung im gegenwärtigen Augenblick tun könne.

2

Den Wortlaut des deutschen Memorandums hatte Ruppel am 18. 4. nach Berlin telegraphiert (Auskunft 19. 4. um 2.45 Uhr; R 43 I /289 , Bl. 122-126).

Reichsminister Dr. Curtius erklärte, nach seiner Meinung gäbe es noch Möglichkeiten, um ein Scheitern der Verhandlungen zu vermeiden. Zunächst könne man von hier aus erklären, daß von politischen Bedingungen nicht die Rede sein könne. Ferner müsse man sich sagen, daß zwischen den Ziffern des[558] deutschen Memorandums und den Youngschen Zahlen für die ersten zehn Jahre keine unüberbrückbare Differenz zu bestehen scheine. Nach seiner Meinung werde man einen Ausgleich in den Zahlen finden können, und wenn dies gelinge, werde es auch einen Weg geben, über die Einteilung der Annuitäten in geschützte und ungeschützte Teile zu einer Lösung zu kommen. Wenn die Sachverständigen nicht zum Ziele kämen, müßten die Verhandlungen von den Regierungen aufgenommen und fortgesetzt werden3.

3

Briand hatte v. Hoesch schon erklärt, „es müsse einfach eine Lösung gefunden werden und wenn die Sachverständigen dies nicht zustande brächten, so müßten eben die Regierungen die Lösung schaffen, um der Fortführung der Politik der Liquidierung des Krieges die Wege zu öffnen“. v. Hoesch hatte diese Äußerung auch Schacht mitgeteilt (Telegramm Nr. 290 vom 14. 4.; R 43 I /289 , Bl. 102-110, hier: Bl. 105f).

Reichsminister Dr. Stresemann erklärte, es sei fraglich, ob es in der Sachverständigenkommission überhaupt noch zu materiellen Verhandlungen komme. Nach seiner Meinung solle die Delegation jedoch prüfen, ob sie die Frage eines Provisoriums nicht nochmals in die Debatte werfen wolle. Die Idee des Provisoriums müsse den Delegierten daher nochmals von hier aus mitgeteilt werden. Ferner müsse man von den Delegationen zu erfahren suchen, inwiefern sie die Differenz zwischen den Zahlen des deutschen Memorandums und des Youngschen Memorandums für unübersteigbar halten. Auch er war der Meinung, daß die Reparationsverhandlungen selbst nach dem Scheitern der Verhandlungen der Sachverständigenkommission für die Regierungen noch nicht erledigt sein dürften. Einstweilen müsse die Regierung aber alles vermeiden, was so gedeutet werden könne, als wolle die Regierung die Haltung der Sachverständigen entschuldigen. Man könne etwa daran denken, sich in der Pressekonferenz interpellieren zu lassen und darauf zu antworten, daß den Sachverständigen politische Forderungen niemals übermittelt und daß sie auch nicht ermächtigt worden seien, ihrerseits politische Forderungen zu stellen.

Reichsminister Dr. Hilferding schloß sich dem Gedankengange an, daß nichts gesagt werden dürfe, was als Desavouierung der Experten gedeutet werden könne. Er gab ferner nochmals zu bedenken, daß Schacht offenbar keine Einigungsmöglichkeit sehe, und daß unter diesen Umständen alles, was die Regierung tue, unvermeidbar als Desavouierung der Experten ausgelegt werde. Jeder Schritt der Regierung werde unsere Situation daher unnütz verschlechtern. Taktisch sehe er die Lage so, daß die Regierung von den Sachverständigen vor vollendete Tatsachen gestellt sei, daß die Regierung sich mit diesen Tatsachen politisch abfinden müsse.

Der Reichskanzler bat, davon abzusehen, die politischen Bedingungen offiziell zu dementieren, da tatsächlich zwischen der Regierung und den Sachverständigen über die politischen Bedingungen gesprochen worden sei. Nach seiner Meinung müsse die Regierung sich im Augenblick reserviert verhalten; die Sachverständigen hätten die Reichsregierung entgegen der festen Zusage, mit der Reichsregierung vor der letzten Entscheidung ins Benehmen treten zu wollen, vor vollendete Tatsachen gestellt. Vielleicht biete sich in der fünftägigen Frist, die für die Berichterstattung vorgesehen sei, eine Möglichkeit zur Wiederanknüpfung der Verhandlungen.

[559] Reichsminister Dr. Wirth gab zu bedenken, daß der Bruch, wenn es in der heutigen Vollsitzung dazu kommen sollte, nicht wegen der Youngschen Ziffern erfolge, vielmehr wegen der deutschen Ziffern. Er hielt es für richtiger, Schacht zu empfehlen, über ein Provisorium auf Grund der Youngschen Ziffern weiter zu verhandeln. Die bisherige kategorische Ablehnung Schachts sei zweifellos zu scharf gewesen. Am heutigen Tage sei ein Nachgeben leichter als später. Wenn Schacht selbst diesen Vorschlag nicht machen wolle, so könne man ihm vielleicht empfehlen, dies durch Vögler tun zu lassen. Sein Vorschlag gehe also dahin, an Schacht und Vögler gemeinsam das Ansinnen zu stellen, die Frage des Provisoriums in der Konferenz nochmals anzuschneiden.

Reichsminister Dr. Curtius empfahl anschließend an eine Anregung von Reichsminister Stresemann, [die] Mitteilung der deutschen Regierungsauffassung in Paris dem Botschafter von Hoesch zu überlassen. Herr von Hoesch müsse über die Auffassung der Regierung ohnehin unterrichtet sein, um die französische Regierung über die Auffassung der deutschen Regierung zu verständigen, sofern Herr Briand ihn danach fragen sollte. Herr von Hoesch könne sich dann auch mit den deutschen Sachverständigen ins Benehmen setzen.

Reichsminister Dr. Stresemann gab die Anregung, Herrn Schacht zu bitten, für eine Vertagung der Vollsitzung der Sachverständigenkommission einzutreten, und sagte zu, daß er den deutschen Botschafter über die Auffassung der Regierung unterrichten werde zwecks Regelung seiner Sprache gegenüber Briand und auch gegenüber der deutschen Gruppe. Reichsminister Dr. Hilferding riet zunächst, in Paris anzufragen, ob eine Vertagung möglich sei. Schon die Tatsache, daß die Frage von der Regierung gestellt werde, werde der deutschen Delegation zu erkennen geben, daß die Vertagung wünschenswert erscheine.

Der Reichskanzler erklärte, daß er mit dem Vorschlag, den Botschafter von Hoesch ins Bild zu setzen, einverstanden sei, und daß er es auch für richtig halte, daß die Unterrichtung der Sachverständigen durch Herrn von Hoesch erfolge.

Reichsminister Dr. Wirth führte aus, daß sich die Regierung bei der Äußerung des Wunsches nach Vertagung darüber klar sein müsse, daß dies gleichzeitig bedeute, daß die Regierung auch sachlich einlenken wolle.

Reichsminister Dr. Hilferding sagte, daß auch er keine Möglichkeit sehe, die Vertagung anzuregen, ohne daß dabei eine Berufung auf die Regierung erfolge. Die Verantwortung dafür, daß von der Annuität von 1650 Millionen abgewichen werde, trage daher die Regierung. Inzwischen wurde mittels Fernschreibers an Herrn Ruppel in Paris die Frage gerichtet, ob nach Lage der Sache ein Antrag auf Vertagung aussichtsreich sei, zumal da die Gegenseite öfter solche Anträge gestellt habe. – Die Antwort, die Herr Ruppel nach Rückfrage bei Herrn Schacht übermittelte, lautete, daß in der Vollsitzung ein Vertagungsantrag gestellt werden solle, wenn dies ohne Kompromittierung der deutschen Sachverständigen möglich sein werde. – Auf die weitere Frage an Ruppel, ob der Vertagungsantrag in der Sitzung oder vor der Sitzung gestellt werden solle, wurde eine präzise Antwort nicht erteilt. Schacht habe erklärt, daß er sofort nach der Sitzung selbst berichten werde.

[560] Der Reichskanzler erklärte, daß er das Kabinett auf den Nachmittag zu einer Sitzung zusammenberufen werde, um das Gesamtkabinett über die Lage zu informieren4.

4

Siehe Dok. Nr. 175.

Die Sitzung zog sich bis kurz nach 12 Uhr hin und ging auseinander, nachdem von Paris die Mitteilung kam, daß die Vollsitzung der Sachverständigenkommission auf Montag, den 22. April, vormittags 12 Uhr, vertagt worden sei.

Über die Gründe der Vertagung war in der Nachricht aus Paris nichts mitgeteilt worden.

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