1.112.1 (mu22p): Finanzlage der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft.

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Kabinett Müller II. Band 2 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

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Finanzlage der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft.

Einleitend bemerkte der Reichsverkehrsminister daß die Reichsregierung an sich den Wunsch habe, die berechtigten Wünsche der Reichsbahn nach Behebung ihrer finanziellen Schwierigkeiten zu erfüllen. Er sehe aber zunächst nur den Weg entweder von Überweisungen aus dem Ertrag der Beförderungssteuer1 oder einer erneuten Tariferhöhung. Beide Wege erscheinen kaum gangbar, ob sich ein dritter Weg finden lasse, sei sehr zweifelhaft.

1

Siehe dazu die Forderungen des RVM auf Überlassung von 150 Mio RM aus der Beförderungssteuer an die RB in der Etatbesprechung am 25.11.29 (Dok. Nr. 363). Dazu hatte jedoch Planck vermerkt: „Die Beratung dieser Angelegenheit wird zweckmäßigerweise erst gemeinsam mit der Verabschiedung der neuen Steuer- und Finanzgesetze vorgenommen werden. Vorläufig ist die Überweisung von 150 Mio RM aus Mitteln des Reichshaushalts an die RB-Gesellschaft – etwa gar ab 1.1.30 – nicht möglich“ (R 43 I /1051 , Bl. 301-304, hier: Bl. 301-304).

[1216] Generaldirektor Dr. Dorpmüller führte aus, daß die Drosselung der Ausgaben für Anlagen und Betrieb der Reichsbahn sich nicht mehr in dem gleichen Maße fortsetzen lasse. Seit dem Jahr 1924 seien jährlich die Aufwendungen für das Personal um 140 Mill. RM gestiegen, während die Ausgaben für die Anlage um jährlich 100 Mill. RM gedrosselt worden seien. Ohne den Fahrzeugpark sei die Reichsbahn mit ihren Ausgaben für die Anlagen um 430 Mill[ionen], mit Einrechnung des Fahrzeugparks um 480 Mill[ionen] RM im Rückstand.

Generaldirektor Dorpmüller berichtete, daß er bei einer Besichtigungsreise, die sich über ¾ Deutschlands ausgedehnt habe, von dem Zustande der Bahnanlagen erschreckende Eindrücke erhalten habe. Er legte Fotografien von verschiedenen festgestellten Schäden vor. Nur auf den Hauptstrecken (großen D-Zugstrecken) seien die Anlagen als normal zu bezeichnen, auf den Nebenstrecken seien die Verhältnisse nicht zu verantworten. Betriebsschuppen, Zugangswege, Gleisanlagen, Stellwerke, Gewölbe, Dämme, Viadukte, Tunnels und Brücken seien im Verfall begriffen. Aus solchen Zuständen erklärten sich die Unfälle von Reichelsbach und Düren. Im Jahre 1924 habe die Reichsbahn 9000 km des Oberbaus im Rückstand vorgefunden. Jetzt seien es noch 7700 km. Auch die Wohnungsverhältnisse seien äußerst schlecht geworden.

Der Reichstag habe ja dementsprechend auch eine Entschließung angenommen, in der Mehrzuwendungen für die Anlagen der Reichsbahn und die Erhöhung ihrer Sicherheit gefördert würden. Da aber für diese Zwecke kein Geld vorhanden sei, stehe die Entschließung nur auf dem Papier.

Der Generaldirektor Dorpmüller betonte, daß er Wert darauf lege, seine Bedenken hiermit zu Protokoll zu bringen, und daß er die Verantwortung für kommende sehr ernste Schwierigkeiten ablehnen müsse, falls nicht der Reichsbahn Mittel zugeführt würden. Zwar bringe der Young-Plan eine Erleichterung um 100 Millionen RM, demgegenüber ständen aber folgende Mehrbelastungen:

An Zinsverlust und Verlust an Gewinn durch Disagio

10 Mill[ionen] RM jährlich,

eine vom Reichsfinanzminister geforderte Erhöhung der Verwaltungszuschüsse an die Gemeinden um

2,5 Mill[ionen] RM jährlich,

eine Erhöhung der Pensionslasten, die jetzt 480 Mill[ionen] RM betrage, um durchschnittlich 8–10 Mill[ionen] RM jährlich, im nächsten Jahre seien es allerdings nur

4 Mill[ionen] RM.

Im ganzen werde voraussichtlich die Pensionslast bis zum Jahre 1946 noch um 150 Millionen RM steigen. Für das Jahr 1930 würden ferner durch den letzten Schiedsspruch

15 Mill[ionen] RM

an Löhnen mehr erforderlich sein. [1217] Die Forderungen der Gewerkschaften nach Abänderung des Manteltarifs würden weitere ausmachen.

16 Mill[ionen] RM

Insgesamt seien das

47,5 Mill[ionen] RM

Der verbleibende Rest werde noch nicht einmal ausreichen für die schon vom laufenden Jahr [an] wieder notwendig werdenden Neuanschaffungen an Lokomotiven. Noch seien 1500 Lokomotiven überzählig. Diese würden aber bald verbraucht sein, und dann müßten jährlich 600 Lokomotiven bestellt werden, das werde durchschnittlich im Jahre 120 Mill. RM erfordern. Der Betriebsetat habe zur Zeit ein Defizit von 100 Mill[ionen] RM. Außerdem sei ein Kreditbedarf von 300 Millionen RM vorhanden. Mit einer derartigen Bilanz seien Auslandsanleihen nicht zu bekommen; denn die amerikanischen Geldgeber verlangten einen Gewinnüberschuß, der 2–3 mal so groß sein müsse als Zinsen und Amortisationen der aufgenommenen Gelder. Inlandsanleihen seien natürlich überhaupt nicht zu erlangen. Generaldirektor Dorpmüller stellte in Zweifel, ob die Reichsbahn überhaupt in der Lage sein werde, 660 Millionen RM für den Young-Plan abzuführen, wenn ihr nicht Mittel aus der Verkehrssteuer überlassen würden.

Wenn keine andere Möglichkeit vorhanden sei, müsse die Reichsbahn trotz aller schwerwiegenden Bedenken doch wieder zum Mittel der Tariferhöhung greifen.

Der Reichsminister der Finanzen bezeichnete eine Tariferhöhung für ganz unzweckmäßig. Die Abzweigung von 150 Millionen RM aus der Verkehrssteuer würde die geplante Finanzreform entscheidend verschlechtern. Zunächst werde es erforderlich sein, die Angaben der Reichsbahngesellschaft in gemeinsamer Arbeit der beteiligten Reichsressorts mit der Reichsbahn gründlich zu prüfen. Vielleicht könne z. B. die Verteilung der Mittel auf Betriebskonto und Anlagekonto noch geändert werden.

Das Wichtigste sei die Pflege der Anleihemöglichkeiten. Die Entscheidung über diese Finanzfragen sei noch nicht so eilig, da bis zum 1. April bei der Bahn keine wesentliche Bautätigkeit möglich sei. Er schlage also vor, bis dahin eine eigene Kommission, bestehend aus Vertretern des Reichsverkehrsministeriums, Reichswirtschaftsministeriums, Reichsfinanzministeriums und der Eisenbahn mit der Beschaffung der notwendigen Unterlagen zu beauftragen.

Der Reichswirtschaftsminister sprach sich im Interesse der Kräftigung der Wirtschaft gegen die Tariferhöhung aus. Anleihemöglichkeiten seien erst im Januar oder Februar zu beurteilen. Die Beauftragung einer Kommission halte er für zweckmäßig.

Auch der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft erklärte, daß zunächst alle frei werdenden Mittel zur Steuersenkung verwendet werden müßten. Nur die gefährlichsten Schäden könnten jetzt bei der Reichsbahn ausgebessert werden. Viele der vorgelegten Bilder und Einzelfälle fielen aber nicht in diese Kategorie. Unter allen Umständen müsse verhindert werden, daß bei Annahme des Young-Planes die aus ihm erzielten Ersparnisse schon wieder so weit verausgabt seien, daß in der Steuerpolitik alles beim alten bleiben müsse.

[1218] Der Reichskanzler bestätigte, daß die Reichsregierung die Sorgen der Reichsbahn-Gesellschaft sehr erst nähme; aber auch bei den anderen Ressorts bestünden solche Schwierigkeiten, er wolle nur an den Wohnungsbau erinnern. Eine Steuersenkung sei nach einheitlicher Meinung der Reichsregierung unbedingt als vordringlich herbeizuführen, und jede anderweitige Inanspruchnahme von Mitteln beeinträchtige dieses Steuerprogramm.

Der Reichskanzler machte darauf aufmerksam, daß bei den Parteien auch sonst manche Bedenken hinsichtlich der Reichsbahn und der Neuregelung des Reichsbahngesetzes durch den Young-Plan geäußert würden. Er verwies auf den Brief des Abgeordneten Haas, der sogar mit der Ablehnung des Young-Planes durch die Demokratische Partei drohe2.

2

Siehe Dok. Nr. 366.

Generaldirektor Dorpmüller gab zu bedenken, daß bis zum 31. März mit der Finanzierung der Reichsbahn nicht gewartet werden dürfe. Wenn man am 1. April mit den Arbeiten an den Anlagen anfangen wolle, müßten die Bestellungen schon jetzt erfolgen.

Dr. von Siemens erklärte, daß die Reichsbahn mit jeder Kontrolle nur einverstanden sein könne; nur dürfe dies nicht zur Verzögerung der notwendigen Maßnahmen führen. Er glaube im übrigen, daß die Zahlen der Reichsbahn Stich halten würden. Was nur irgend möglich sei, habe man schon auf Kapitalkonto geschrieben, und wenn jetzt einige zweifelhafte Posten auf Betriebskonto gebucht seien, käme es eben daher, daß kein neues Kapital zu beschaffen sei. Dies sei aber die Kernfrage. Ursprünglich habe man den Jahresbedarf auf 500 Mio RM geschätzt. Als zumindest notwendig müsse man jetzt 200–250 Millionen RM ansehen. Zur Kapitalbeschaffung sei aber ferner erforderlich, daß die Bilanz der Reichsbahn-Gesellschaft einen günstigen Eindruck mache. Dies werde sich im Zinsfuß der aufgenommenen Anleihe ausdrücken. Er stelle daher zur Erwägung, ob man nicht Zuwendungen aus der Verkehrssteuer, zumindesten nach außen hin, in die Bilanz aufnehmen solle. Einen anderen Weg als Zuwendungen aus der Verkehrssteuer oder Tariferhöhung wisse der Verwaltungsrat nicht. Eine Unterbilanz für 1930 könne er jedenfalls nicht verantworten. Eine Reichsgarantie würde dem Ausland jedenfalls nicht als hinreichende Sicherheit erscheinen. Wenn die Kommission berufen werde, bitte er, daß sie jedenfalls bis Ende Januar mit ihren Arbeiten fertig sein möge, bis dahin müsse der Verwaltungsrat Klarheit haben.

Der Reichsverkehrsminister wies nochmals darauf hin, daß Anleihekapital allein nicht genüge, es seien auch Nachholungen auf Betriebskonto notwendig.

[Generaldirektor Dorpmüller erläuterte auf eine Frage des REM Abschreibungen aus den Jahren 1928 und 1929.]

Der Reichskanzler erklärte sich damit einverstanden, daß die Kommission möglichst rasch ihre Arbeiten beginnen und durchführen solle, wie überhaupt die Reichsregierung den dringenden Wunsch habe, der Reichsbahn-Gesellschaft zu helfen. Als Mitglieder der Kommission sollten baldigst gemäß den oben gemachten Vorschlägen Vertreter des Reichsverkehrsministeriums, Reichswirtchaftsministeriums,[1219] Reichsfinanzministeriums und der Reichsbahn-Gesellschaft inberufen werden.

Die Sitzung wurde hierauf geschlossen3.

3

Die Frage des Bürodirektors Ostertag, ob die Vorlage des RVM durch die Beratungen der Steuer- und Finanzgesetze erledigt sei (6.3.30; R 43 I /1070 ), beantwortete Planck dahin, daß durch das Finanzprogramm über die Vorlage negativ entschieden worden sei. „Die Frage wird aber im RKab. noch einmal bei Beratung über die Wünsche der RB nach Tariferhöhung erörtert werden. Es empfiehlt sich daher, die Vorlage bis zur Kabinettsberatung über die Eisenbahntarife zurückzuhalten“ (7.3.30; R 43 I /1070 ). Ein entsprechender Antrag der RB-Gesellschaft wurde am 10. 5. vom Kabinett Brüning beraten (R 43 I /1070 , Bl. 52-68, hier: Bl. 52-68).

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