1.34.1 (mu22p): [Arbeitslosenversicherung.]

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[Arbeitslosenversicherung.]

Der Staatssekretär in der Reichskanzlei eröffnete und leitete die Besprechung. Er führte u. a. aus, daß das Problem der Reform der Arbeitslosenversicherung zum Angelpunkt der inneren Politik geworden sei. Besonders auch mit Rücksicht auf noch wichtigere politische Probleme, insbesondere die Probleme der Außenpolitik, sei es dringend geboten, auf dem Gebiet der Arbeitslosenversicherung zu einer Einigung zu kommen und eine Krisis des Reichskabinetts zu vermeiden, die gerade jetzt von unheilvollsten Folgen sein müsse.

Er bitte die hier vertretenen Länder um Unterstützung in diesem Bestreben und sei davon überzeugt, daß ein mit möglichst großer Mehrheit gefaßter Beschluß des Reichsrats seinen Eindruck im Reichstag nicht verfehlen werde. Die verteilten Kompromißvorschläge, denen auch der Reichsarbeitsminister zugestimmt habe2, befriedigten völlig niemanden, aber eine in wesentlichen Punkten bessere Lösung, die im Reichstag Aussicht auf Annahme habe, werde schwer zu finden sein. Er bitte die anwesenden Vertreter der Länder, die Vorschläge wohlwollend zu prüfen. Keinesfalls erwarte er sofort eine Zustimmung der Länder, hoffe jedoch, daß diese Zustimmung in der Reichsratssitzung am Montag, den 16. September, erfolgen werde. Selbstverständlich stellten die Vorschläge[929] keinerlei Ultimatum dar, obwohl er nicht verhehlen wolle, daß Abänderungen wesentlicher Art voraussichtlich schwer durchzubringen sein würden. Taktisch solle in der Reichsratssitzung am 16. September so vorgegangen werden, daß3 der Vorsitzende des Reichsrats die Anträge verlese und die Reichsregierung sich dann in der Debatte ausdrücklich auf den Boden der Anträge stelle. Die Preußische Regierung werde gleichfalls erklären, daß sie auf dem Boden des Entwurfs stehe.

2

Siehe im Gegensatz hierzu die Äußerungen des RArbM zum GesEntw. über befristete Änderungen in der ALV in Dok. Nr. 289, P. 1.

3

Danach gestrichen: „der Vorsitzende wahrscheinlich StS Zweigert oder der Berichterstatter.“

Ministerialdirektor Dr. Weigert betonte, daß es sich bei den Vorschlägen nicht um einen Entwurf des Reichsarbeitsministeriums handele. Sicherlich könne der Entwurf restlos niemanden befriedigen.

Ministerialdirektor Weigert erläuterte sodann im einzelnen die Vorschläge des beiliegenden Entwurfs und verhehlte insbesondere nicht, daß gegen die im § 5 vorgesehene Beitragserhöhung für Saisonarbeiter Bedenken bestehen könnten. Er wies ferner darauf hin, daß das Defizit von 47 Millionen RM durch die Vorschläge des beiliegenden Entwurfs um 41 Millionen RM vermindert werde.

Ministerialdirektor Dr. Coßmann (Pr. Handelsministerium) erläuterte das bisherige Verhalten Preußens. Er ging davon aus, daß Preußen wegen seines bisherigen Verhaltens im Reichsrat von vielen Seiten angegriffen worden sei. Diese Angriffe seien jedoch nicht berechtigt, wenn man berücksichtige, daß wichtige Gesichtspunkte allgemeinpolitischer Bedeutung Preußen bisher zur Zurückhaltung genötigt hätten. Die Preußische Staatsregierung habe der Reichsregierung in ihrer schwierigen Situation helfen und eventuelle Abänderungsanträge im Reichsrat nur im Einvernehmen mit der Reichsregierung stellen wollen. Nach äußerst mühseligen Verhandlungen sei es gelungen, sich auf die Kompromißvorschläge zu einigen, die restlos niemanden befriedigen könnten und besonders für die Preußische Staatsregierung ein hohes Opfer bedeuteten.

Der Bayerische Gesandte bedauerte es, daß nur Preußen zu den entscheidenden vorbereitenden Besprechungen vom Reich hinzugezogen worden sei, nicht jedoch die übrigen Länder. Die übrigen Länder würden nunmehr vor eine vollendete Tatsache gestellt. Es werde den Vertretern Bayerns eine Stellungnahme zu den beiliegenden Vorschlägen erst in der Reichsratssitzung am Montag, dem 16. September, möglich sein.

Ministerialdirektor Dr. Poetzsch-Heffter bedauerte es gleichfalls, daß die anderen Länder, außer Preußen, gegen ihren Willen von den entscheidenden Vorbesprechungen ausgeschaltet worden seien. Sachsen werde im Reichsrat Anträge stellen, die voraussichtlich der Ablehnung verfallen würden. Die Sächsiche Regierung werde voraussichtlich gegen den Kompromiß-Entwurf stimmen.

Gesandter Dr. Bosler erklärte, daß er nach seiner bisherigen Instruktion gegen den Entwurf der Reichsregierung stimmen müsse.

Die jetzigen Kompromißvorschläge seien natürlich seiner Regierung nicht bekannt. Er werde in seinem Bericht auf die wichtigen allgemeinpolitischen[930] Gesichtspunkte für ein Zustandekommen der Reform der Arbeitslosenversicherung auf Grundlage der jetzigen Vorschläge besonders hinweisen und sich bemühen, die Zustimmung seiner Regierung zu erreichen. Es entstehe natürlich die Frage, ob Abänderungsanträge Württembergs noch Zweck hätten.

Ministerialdirektor Dr. Widmann äußerte besondere Bedenken dagegen, daß in den Vorschlägen nicht nur die Beitragserhöhung befristet worden sei. Er würde eine endgültige Lösung vorziehen. Der § 2 des Entwurfs stelle einen kümmerlichen Rest der bayerischen Anträge dar. Die Württembergische Regierung werde über eine Beitragserhöhung von 0,5% nicht hinausgehen4.

4

Zur Haltung Württembergs in der Frage der ALV-Reform siehe die Schreiben Widmanns an das Württemb StMin. vom 11. und 14. 9. sowie die Sitzung des StMin. am 16. 9.: W. Besson, Württemberg und die deutsche Staatskrise, S. 373 ff., Anhang Nr. 1–3.

Der Staatssekretär in der Reichskanzlei betonte, daß niemals die Absicht bestanden habe, die Länder auszuschalten. Aus der Einladung zu der heutigen Besprechung bitte er die außerpreußischen Länder, entnehmen zu wollen, daß die Reichsregierung besonderen Wert auf ihre Mitarbeit lege.

Ministerialdirektor Dr. Weigert suchte die Bedenken des Ministerialdirektors Dr. Widmann gegen die befristete Geltung des Entwurfs zu zerstreuen. Er wies darauf hin, daß das Reichsarbeitsministerium nur ungern und nur mit Rücksicht auf die Finanzlage im gegenwärtigen Moment zu Reformen schreite. Es fehle jetzt noch an ausreichenden Erfahrungen. Diese Erfahrungen würden wahrscheinlich in 1½ Jahren in ausreichendem Maße vorliegen.

Im übrigen richtete Ministerialdirektor Dr. Weigert an Ministerialdirektor Dr. Poetzsch-Heffter die Bitte, seine Mitarbeit nicht zu versagen und die Punkte anzuführen, in denen die Sächsische Regierung dem Entwurf nicht zustimmen könne.

Ministerialdirektor Dr. Fecht (Baden) erklärte, die Stellungnahme der Badischen Regierung vorbehalten zu müssen. Voraussichtlich werde seine Regierung bereit sein, auf den Boden der Vorschläge zu treten. Bedenken würden sicherlich gegen die im § 5 vorgesehene Beitragserhöhung bestehen.

Ministerialdirektor Dr. Poetzsch-Heffter richtete an Ministerialdirektor Dr. Weigert die Frage, ob er geneigt sei, den § 2 im Sinne der Anträge Bayerns und Württembergs abzuändern und die im § 5 vorgesehene Beitragserhöhung wieder zu streichen.

Ministerialdirektor Dr. Weigert erwiderte, er sei zu einer Antwort nicht legitimiert. Seine persönliche Ansicht gehe jedoch dahin, daß besonders im § 2 des Entwurfs Abänderungen schwer möglich sein würden.

Der Staatssekretär in der Reichskanzlei pflichtete dieser Auffassung des Ministerialdirektors Dr. Weigert bei.

Ministerialdirektor Schindler (Pr. Handelsministerium) erklärte, gewiß Verständnis für die Situation der anderen Länder zu haben. Er erbitte jedoch, auch Verständnis für die Opfer, die das Preußische Staatsministerium in dieser Angelegenheit gebracht habe. Es sei nunmehr dringend geboten, daß die Reform der Arbeitslosenversicherung beschleunigt von den gesetzgebenden Körperschaften[931] verabschiedet werde. Jeder Tag Verzögerung über den 1. Oktober hinaus koste nach Ansicht des Präsidenten Dr. Syrup ½ Million RM.

Ministerialrat Seyboth (Bayern) führte aus, daß der § 2 des Entwurfs einen gewissen Fortschritt gegenüber der bisherigen Regierungsvorlage darstelle. Er bat jedoch, eine Abänderung des § 2 mit dem Ziele weiterer Ersparnisse zu erwägen, damit die im § 5 vorgesehene Beitragserhöhung nicht in der dort vorgesehenen vollen Höhe notwendig sei.

Staatssekretär Dr. Weismann führte aus, daß in dem Kompromißentwurf von preußischen Wünschen fast keiner erfüllt worden sei. Die drei hinter der Preußischen Regierung stehenden Regierungsparteien seien von dem Entwurf nicht befriedigt. Der Preußische Ministerpräsident habe jedoch seinen Willen, dem Entwurf im preußischen Kabinett zur Annahme zu verhelfen, aus folgenden Gründen durchgesetzt: Eine Krisis der Reichsregierung sei gerade jetzt aus allgemeinpolitischen Gründen untragbar. Die Reichsregierung gebrauche zur Zeit eine Art Hilfsstellung, die das preußische Kabinett leisten könne. Da sowohl die Deutschnationalen als auch die Sozialdemokraten erklärt hätten, daß sie einem etwaigen Reichskabinett der Mitte nicht Hilfsstellung leisten würden, sei jede andere Regierung im Reich als die jetzige undenkbar. Eine Krisis des Reichskabinetts sei auch wegen der schweren innenpolitischen Aufregung unbedingt zu vermeiden. Er wolle in diesem Zusammenhang nur auf die zahllosen Bombenattentate der letzten Zeit hinweisen5 und betonen, daß das Hugenbergsche Volksbegehren die Massen aufs Tiefste errege. Der Reichsrat sei jetzt in der Lage, der Reichsregierung wichtige Dienste zu leisten.

5

Gemeint sind die Anschläge auf Landrats- und Finanzämter in Schleswig-Holstein und der Provinz Hannover und auf den Reichstag, siehe Schultheß 1929, S. 165.

Hinsichtlich der geschäftlichen Behandlung der Anträge erklärte sich MinDir. Widmann bereit, die Anträge einzubringen.

Der Staatssekretär in der Reichskanzlei stellte fest, daß der Zweck der heutigen Besprechung erreicht sei, die in der Sitzung vertretenen Länder über die Absichten der Reichsregierung und die gesamte Lage zu unterrichten.

Die Sitzung wurde sodann geschlossen.

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