2.215.1 (bru1p): Lage im Ruhrgebiet.

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Lage im Ruhrgebiet.

Der Reichsarbeitsminister trug vor, daß sich die Lage im Lohnkonflikt im Ruhrbergbau außerordentlich versteift habe1. Er sei am vergangenen Montag und Dienstag (5. und 6. Januar) persönlich im Ruhrgebiet gewesen, um mit den streitenden Parteien zu verhandeln. Durch seine persönliche Anwesenheit habe er auch zum Ausdruck bringen wollen, daß die Reichsregierung kein Mittel unversucht lasse, das schwebende Schlichtungsverfahren zu einem befriedigenden[772] Abschluß zu führen. Die Schlichtungsverhandlungen seien jedoch am 7. Januar gescheitert, weil sich in der Schlichtungskammer eine Mehrheit für einen Schiedsspruch über die Löhne nicht habe erzielen lassen2, und ein Schiedsspruch mit der Stimme des Vorsitzenden allein mit Rücksicht auf die bekannte Entscheidung des Reichsarbeitsgerichtes im nordwestdeutschen Eisenstreit Anfang 1929 nicht im Frage komme3. Die Vereinigung der Arbeitgeber verharre hartnäckig auf dem Standpunkt, unter keinen Umständen unter eine 8%ige Lohnsenkung herunterzugehen. Der Zechenverband habe auch öffentlich behauptet, daß er von der Reichsregierung bei dem Lohnkonflikt enttäuscht worden sei. Die Bergbauunternehmer hätten nach dem Gange der Verhandlungen über die Preissenkung im Reichswirtschaftsministerium annehmen müssen, daß der Reichsarbeitsminister sich für eine Lohnsenkung von mindestens 8% ab 1. Januar einsetzen würde, und daß er sich dabei im Einverständnis mit dem Gesamtkabinett, insbesondere dem Reichskanzler befände4. Diese Auffassung des Bergbaulichen Vereins sei irrig. Er habe sie in einer Besprechung mit dem Chefredakteur vom WTB, die am heutigen Tage veröffentlicht werde, richtiggestellt (siehe Anl. I5).

1

Die Lohnverhandlungen im Ruhrbergbau waren im Dezember 1930 ergebnislos geblieben. Der Zechenverband hatte, nachdem seine Forderung nach Lohnabbau um 12% von den Gewerkschaften abgelehnt worden war, am 10.12.30 den Schlichter angerufen. Das Schlichtungsverfahren war am 30.12.30 ohne Einigung beendet worden (Schultheß 1930, S. 243, 245). Daraufhin war es im Ruhrrevier zu wilden Streiks gekommen (vgl. DAZ Nr. 5–6 vom 6.1.31).

2

Das am 7. 1. neu eingeleitete Schlichtungsverfahren war wegen der Gegensätze der Tarifpartner vertagt worden; während die Arbeitgeber 8% Lohnabbau verlangt hatten, hatten die Gewerkschaften 4% Lohnkürzung gefordert (DAZ Nr. 9–10 vom 8.1.31).

3

Das Reichsarbeitsgericht hatte in einem Urteil vom 22.1.29 zum Ruhreisenstreit entschieden, daß ein Schiedsspruch, der allein von dem Vorsitzenden einer Schlichtungskammer gefällt werde, nichtig sei: RArbBl. 1929 I, S. 73. Zum Ruhreisenstreit vgl. diese Edition, Das Kabinett Müller II, Dok. Nr. 52; 67; 73; 76; 79, P. 1.

4

Die Erklärung des Zechenverbands war von der DAZ Nr. 6–7 vom 7.1.31 veröffentlicht worden.

5

In dem Interview hatte der RArbM erklärt, daß die Schlichter von Weisungen der RReg. unabhängig seien. Der RArbM könne den Schlichter nicht hinsichtlich des Inhalts der zu fällenden Schiedssprüche festlegen, sondern lediglich darüber befinden, ob er den zustande gekommenen Schiedsspruch für verbindlich erklären wolle oder nicht. Aus der unabhängigen Stellung der Schlichter ergebe sich schon, daß die RReg. dem Bergbaulichen Verein gar keine Zusicherungen wegen einer Lohnkürzung habe machen können (WTB Nr. 51 vom 8.1.31, R 43 I /1448 , Bl. 6).

Übrigens nehme Generaldirektor Vögler, mit dem er sehr lange verhandelt habe, eine entgegenkommendere Haltung als der Bergbauliche Verein ein. Andererseits sei es auch nicht möglich gewesen, die Arbeitnehmer zu einem höheren Zugeständnis als eine 4%ige Lohnsenkung zu bewegen.

Angesichts dieser Lage könne er dreierlei nicht tun:

1.

könne er keinen Schiedsspruch für verbindlich erklären, der auf 8% Lohnabbau laute. Diese Möglichkeit scheide auch schon um deswillen aus, weil der Schlichter für einen derartigen Spruch nicht zu haben sei.

2.

Ebensowenig könne er einen 4%igen Lohnabbau, wie ihn die Bergarbeiter wünschten, für verbindlich erklären.

3.

Er könne es auch schließlich nicht verantworten, daß ein tarifvertragsloser Zustand, der in dieser lebenswichtigen Industrie zu den schwersten Erschütterungen des wirtschaftlichen und politischen Lebens führen müsse, eintrete. Wenn aber nichts geschehe, trete der tarifvertragslose Zustand am 15. Januar ein, und der Ausbruch des Streiks sei von diesem Tage an unvermeidlich. [773] Der alleinige Ausweg aus dieser Situation erscheine ihm daher der Vorschlag an den Herrn Reichspräsidenten, eine Notverordnung zu erlassen, deren Entwurf er habe ausarbeiten lassen (siehe Anl. II)6.

6

Die wesentliche Bestimmung des VOEntw. lautete: „Bestellt der Reichsarbeitsminister in den Fällen § 12 Abs. 3 der Verordnung zur Ausführung der Verordnung über das Schlichtungswesen, vom 29. Dezember 1923 (RGBl. 1924 I, S. 9 ) zur Durchführung eines neuen Schlichtungsverfahrens einen besonderen Schlichter, weil er dies im öffentlichen Interesse für erforderlich hält, so kann er den Schlichter ermächtigen, zur Bildung der Schlichtungskommission außer den Beisitzern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer auch zwei unparteiische Beisitzer zu berufen. Ist bei der Verhandlung oder bei der Abstimmung der Schlichtungskammer die Mitwirkung sämtlicher Beisitzer der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer oder die Stimmenmehrheit nach der Feststellung des Vorsitzenden nicht zu erzielen, so ergeht der Schiedsspruch im Sinne der Vorschriften der Verordnung über das Schlichtungswesen vom 30. Oktober 1923 (RGBl. I, S. 1043 ) mit der Mehrheit der Stimmen des Schlichters und der beiden unparteiischen Beisitzer“ (R 43 I /1448 , Bl. 7–8).

Dieser Entwurf wurde der weiteren Aussprache zugrundegelegt. Erläuternd führte er hierzu aus, daß die Vorschriften der Verordnung sich eng an die Schlichtungsverordnung und die Ausführungsverordnung dazu, die in allen Punkten in Kraft bleibe, anschließe, und diese lediglich ergänzen solle. Im geltenden Recht sei vorgesehen, daß im Falle des Scheiterns eines Schlichtungsverfahrens, wenn es das öffentliche Interesse erfordere, ein neues Schlichtungsverfahren eingeleitet werden könne. Zu diesem Zweck könne der Reichsarbeitsminister auch einen besonderen Schlichter bestellen. Nach der neuen Verordnung könne nun der Reichsarbeitsminister diesen Schlichter anweisen, in die Schlichtungskammer außer den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeisitzern zwei unparteiische Beisitzer zu berufen. Die Kammer verhandele alsdann in der vollen Besetzung. Zeige sich aber bei der Verhandlung oder bei der Abstimmung, daß die Mitwirkung aller Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeisitzer mit den Mitteln des Schlichtungsrechts nicht zu erzielen sei, und daß es deshalb zu einem rechtsgültigen Schiedsspruch nicht kommen würde, oder ergebe die Abstimmung in der vollbesetzten Kammer keine Mehrheit, so schieden nach der Vorschrift der Verordnung die Beisitzer der Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus, und der Schiedsspruch sei lediglich von dem Vorsitzenden und den beiden unparteiischen Beisitzern, und zwar mit Stimmenmehrheit zu erlassen. Hierdurch solle erreicht werden, daß praktisch stets ein Schiedsspruch zustande kommen kann.

Nach dem bisherigen Gang der Verhandlungen sei anzunehmen, daß auf diese Weise ein Schiedsspruch für einen 6%igen Lohnabbau zustande kommen werde.

Der Verordnungsentwurf sei so gefaßt, daß er nicht nur für den Konflikt an der Ruhr gelte, sondern auch auf andere Ausnahmefälle zur Anwendung kommen könne. Die allgemeine Fassung sei erforderlich, weil ähnliche Gefahren wie dort in der augenblicklichen Notzeit nach den Erfahrungen auch an anderen Stellen auftreten können. Immerhin müsse die Geltungsdauer der Verordnung auf eine Krisendauer beschränkt bleiben. Im Entwurf sei der 31. Juli als Endtermin vorgesehen. Er rege jedoch an, statt des 31. Juli den 31. Dezember zu wählen, um damit das Jahr 1931 als Notjahr zu charakterisieren.

[774] Einen weiteren Anwendungsfall der Verordnung sehe er für den Februar voraus, da für Anfang Februar im Buchdruckgewerbe ein umfassenderer Lohnkampf drohe.

Mit Reichskanzler Dr. Brüning habe er am 3. Januar in Freiburg eine Aussprache über die Gesamtsituation gehabt. Schon damals sei die Frage des eventuellen Erlasses einer Notverordnung ventiliert worden. Er habe ihn auch jetzt auf seiner Ostreise angerufen. Der Reichskanzler habe erkennen lassen, daß auch er in einer Situation, die nur die Wahl zwischen dem Erlaß einer Notverordnung und dem Ausbruch eines offenen Lohnkampfes lasse, den Weg der Notverordnung vorziehe. Falls das Kabinett heute zu einer Entscheidung komme, gehe der Wunsch des Reichskanzlers dahin, daß er, Dr. Stegerwald, sich mit Staatssekretär Dr. Trendelenburg und Staatssekretär Zweigert oder Staatssekretär Joël nach Schneidemühl begebe, wo auf der Reise des Reichskanzlers Gelegenheit sei, dessen Entscheidung einzuholen.

Staatssekretär Dr. Trendelenburg legte in eingehenden Ausführungen dar, welche Rolle er im Oktober bei Erörterung der Kohlenpreissenkungsverhandlungen mit den Herren des Zechenverbandes gespielt habe und betonte nachdrücklichst, daß er da eine 8%ige Lohnsenkung nicht zugesagt habe. Andererseits würde er es auch jetzt begrüßen, wenn über einen 6%igen Lohnabbau hinausgegangen werden könne, und wenn dem Kohlenbergbau, der sich nach der Preissenkungsaktion in einer wirklich schwierigen finanziellen Lage befindet, auch sonst irgendwie geholfen werden könne. Gegen den Erlaß einer Verordnung auf Grund des Artikels 48 mit dem vorgeschlagenen Inhalt habe er keine grundsätzlichen Bedenken. Nur halte er es für richtiger, daß die Entscheidung darüber, ob das in der Schlichtungsverordnung nicht vorgesehene besondere Verfahren nach der neuen Verordnung in Kraft gesetzt werde, nicht der Entscheidung des Reichsarbeitsministers, sondern der Entscheidung des Reichskabinetts vorbehalten werde. Außerdem müsse wohl Gewähr dafür bestehen, daß die Verordnung nur in Ausnahmefällen zur Anwendung gelange.

Schließlich äußerte er auch lebhafte Bedenken gegen den Absatz 3 des Entwurfs, da durch ihn die Möglichkeit eröffnet werde, auch andere als Lohnfragen, z. B. die Arbeitszeitfrage in den Schiedsspruch mit einzubeziehen7. Einer derartigen Ausdehnung des neuen Schiedsverfahrens müsse er widersprechen.

7

Abs. 3 des Entw. lautete: „In den Fällen des Abs. 1 kann der Schiedsspruch alle Bestimmungen enthalten, die die Parteien des Schlichtungsverfahrens selbst vereinbaren könnten“ (R 43 I /1448 , Bl. 8).

Der Reichsarbeitsminister erwiderte, daß er mit der von Staatssekretär Trendelenburg angeregten Streichung des Absatzes 3 einverstanden sei. Dagegen bat er, auf die Ersetzung seiner Entscheidung durch einen Beschluß des Reichskabinetts nicht zu bestehen. Er befürchte von der formellen Einschaltung der Reichsregierung für das Schlichtungsverfahren ernste Komplikationen, da hierdurch in das Schlichtungsverfahren eine politische Instanz eingeschaltet werde, die den Charakter des Schlichtungsverfahrens grundlegend verändere. Er sei bereit, ausdrücklich anzuerkennen, daß er von der Verordnung nur in[775] wirklichen Ausnahmefällen Gebrauch machen werde, und er wolle dies, soweit es gewünscht werden sollte, auch gegenüber der Presse erklären. Ferner werde er vor jedem Anwendungsfall dem Reichskabinett von seiner Absicht Kenntnis geben und den Kabinettsmitgliedern Gelegenheit geben, zur Sache Stellung zu nehmen. Einer Abstimmung des Reichskabinetts im Einzelfall könne er sich jedoch nicht unterwerfen.

Staatssekretär Dr. Trendelenburg erwiderte, daß bei seinem Vorschlage eine Ingerenz des Reichskabinetts auf den Inhalt des Schiedsspruches nicht vorliege. Die Entscheidung des Reichskabinetts solle sich nur auf die Frage des Ingangsetzens des neuen Verfahrens beschränken.

Staatssekretär Zweigert und Staatssekretär Joël erklärten, daß vom Standpunkt der Verfassung gegen den Erlaß der Verordnung keinerlei Bedenken beständen. Die Voraussetzungen in dem Artikel 48 seien nach ihrer Auffassung zweifellos gegeben.

Staatssekretär Zweigert regte an, den Entwurf so zu fassen, daß der Schlichter nicht nur ermächtigt wird, die Schlichtungskammer durch zwei weitere unparteiische Beisitzer zu ergänzen, sondern daß der Reichsarbeitsminister den Schlichter zu dieser Ergänzung der Schlichtungskammer anweisen kann. Dieser Anregung wurde entsprochen.

Der den Vorsitz führende stellvertretende Reichskanzler stellte zunächst die Frage zur Abstimmung, ob die Entscheidung über die Ingangsetzung des neuen Verfahrens dem Reichsarbeitsminister oder dem Reichskabinett überlassen werden solle. Die Abstimmung ergab eine Mehrheit von sechs gegen vier Stimmen für den vom Reichsarbeitsminister vorgelegten Entwurf.

Sodann wurde darüber abgestimmt, ob die Verordnung bis zum 31. Juli oder bis zum 31. Dezember 1931 befristet werden solle. Die Entscheidung blieb mit fünf zu fünf Stimmen unentschieden.

Auf Vorschlag von Staatssekretär Trendelenburg behielt der Stellvertreter des Reichskanzlers die endgültige Entscheidung der Entschließung des Reichskanzlers vor.

Schließlich stellte der Vorsitzende fest, daß das Reichskabinett darüber einig sei, daß die Anwendung der neuen Verordnung auf die schwebende Lohnstreitigkeit im Ruhrbergbau im Staatsinteresse dringend erforderlich ist.

Die Herren Reichsminister Dr. Stegerwald, Staatssekretär Dr. Trendelenburg, Staatssekretär Zweigert wurden beauftragt, sich mit dem Verordnungsentwurf am Nachmittage zu dem auf der Ostreise befindlichen Reichskanzler zu begeben und dessen Entscheidung herbeizuführen8.

8

S. Dok. Nr. 216.

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