2.136.1 (ma31p): Bericht des Reichsministers des Auswärtigen über die auswärtige Lage.

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Bericht des Reichsministers des Auswärtigen über die auswärtige Lage.

Der Reichskanzler verlas einleitend den Brief des Herrn Reichspräsidenten vom 30. November 19262.

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In seinem Schreiben an den RK vom 30.11.26 führte der RPräs. aus: Es sei zu vermuten, „daß unsere Gegner, insbesondere Frankreich, notgedrungen zwar die derzeitige Entwaffnungskontrolle beenden und die Interalliierte Militärkontrollkommission in absehbarer Zeit zurückziehen wollen, dafür aber beabsichtigen, an deren Stelle ein Völkerbundsorgan zu setzen, das nach den Wünschen Frankreichs gestaltet und mit den weitgehenden Befugnissen der Investigationsbeschlüsse des Völkerbundsrats vom 27. September 1924 und 14. März 1925 ausgestattet wäre“. Hierüber müsse bei den Verhandlungen in Genf „eine klare Entscheidung“ herbeigeführt werden. Falls die Beschlüsse des Völkerbundsrats „unverändert bestehen blieben, hätten wir mit der Tatsache zu rechnen, daß beim Völkerbund ein ständiger Untersuchungsausschuß gegen uns mit großem Apparat und nahezu gerichtlichen Untersuchungsbefugnissen besteht, der auf jede Denunziation hin an jedem Orte des Reichs seine Tätigkeit entfalten und auf beliebige Zeit ausdehnen kann, und der außerdem in der Lage ist, im entmilitarisierten Gebiet Deutschlands dauernde Überwachungsorgane zu unterhalten“. Eine zeitweise Fortdauer der IMKK „wäre immer noch erträglicher als die in den Investigationsbeschlüssen des Völkerbundes enthaltenen Bedingungen. Diese Beschlüsse, in willkürlicher Auslegung und Ausdehnung des Versailler Vertrags, ohne unsere Beteiligung oder auch nur Anhörung gefaßt, müssen von uns mit aller Entschiedenheit und über die Ausführungen unserer Note vom 12. Januar 1926 hinaus aus rechtlichen wie politischen Gründen bekämpft werden.“ Am Schluß seines Schreibens sprach der RPräs. die Bitte aus, seine Auffassung der RReg. zur Kenntnis zu bringen und ihm den Standpunkt des RK schriftlich mitzuteilen (R 43 I /421 , Bl. 133–135). Vollständig abgedr. in: ADAP, Serie B, Bd. I,2, Dok. Nr. 219; Hubatsch, Hindenburg und der Staat, Dok. Nr. 48.

In den erwähnten Beschlüssen vom 27.9.24 und 14.3.25 hatte der Völkerbundsrat einen „Organisationsplan für die Ausübung des Investigationsrechts“ sowie die Ausführungsbestimmungen für die Investigationskommissionen angenommen. Dieser „Investigationsplan“ regelte die Ausübung der Entwaffnungskontrolle durch den Völkerbund für den Fall, daß die IMKK zurückgezogen und die Kontrolle auf den Völkerbund übertragen würde. Der Plan legte die Modalitäten des Investigationsverfahrens fest und bestimmte die Zusammensetzung sowie die Kompetenzen der Investigationsausschüsse; nach Art. V des Plans konnten in der entmilitarisierten Zone auch ständige Kontrollelemente („éléments stables“) eingesetzt werden. Die Stellungnahme der RReg. zum Investigationsplan hatte Stresemann mit Note vom 12.1.26 an den Generalsekretär des Völkerbunds, Drummond, mitgeteilt: Die Dt. Reg. sei bereit, gemäß Art. 213 des VV jede Untersuchung zu dulden, die der Völkerbundsrat mit Mehrheitsbeschluß für notwendig erachte. Nach Art. 213 käme jedoch nicht eine ständige oder regelmäßig wiederkehrende Kontrolle in Betracht, sondern nur eine Untersuchung (Investigation) von Fall zu Fall, wenn nämlich bestimmte Umstände vorlägen, die die Annahme einer Verfehlung Deutschlands auf militärischem Gebiet rechtfertigten. Die Errichtung von ständigen Kontrollorganen in der demilitarisierten Rheinlandzone sei mit dem VV nicht vereinbar. – Siehe dazu diese Edition, Die Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 170, P. 7b, Nr. 264; ADAP, Serie B, Bd. I,1, Dok. Nr. 13, 34, 40; Bd. I,2, Dok. Nr. 172, 191, 195, 200, 202.

[394] Hierauf berichtete der Reichsminister des Auswärtigen zunächst über den Verlauf seiner Unterhaltungen mit Herrn Tschitscherin3. Dieser habe die Frage aufgeworfen, ob man an Deutschland bereits mit einem Vorschlag herangetreten sei, der darauf hinziele, daß Polen Danzig und den Korridor an Deutschland zurückgebe und dafür einen Zugang an die Ostsee durch Litauen erhalte. Tschitscherin habe erklärt, er wisse, daß derartige Erwägungen zur Zeit sehr akut seien. Rußland könne der Gefährdung Litauens nicht uninteressiert gegenüberstehen. Vielleicht könnten sich Rußland und Deutschland über eine Garantierung des litauischen Gebietsstandes einigen und Deutschland auch im Völkerbund für Litauen schützend eintreten. Der Reichsminister des Auswärtigen habe demgegenüber erklärt, ihm sei von derartigen Erwägungen, abgesehen von einer französischen Pressenotiz (Sauerwein), überhaupt nichts bekannt. Herrn Tschitscherin beabsichtige er keine Erklärungen darüber zu geben, daß Deutschland Litauen garantieren wolle, ihm aber als Meinung Deutschlands in der Korridorfrage mitzuteilen, daß der Zugang Polens zum[395] Meere ähnlich wie für die Tschechoslowakei auch ohne Zuteilung eines Gebietsstreifens bis zum Meere sichergestellt werden könne4. Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete weiter, daß Litauen ein starkes Interesse zeige, mit Deutschland zu einem Vertrage zu kommen, selbst bis zu einer Zollunion, und dafür auch in der Memelfrage weitgehendste Konzessionen machen wolle5. Er sei der Ansicht, daß vor Bereinigung der Westfragen eine Aufrollung der Probleme im Osten Deutschlands noch nicht an der Zeit sei.

3

Siehe die Aufzeichnung StS Schuberts vom 2.12.26, in: ADAP, Serie B, Bd. II,2, Dok. Nr. 148.

4

Hinsichtlich der Tschechoslowakei bestimmte Art. 363 des VV: „In den Häfen Hamburg und Stettin verpachtet Deutschland der Tschechoslowakei für einen Zeitrum von 99 Jahren Landstücke, die unter die allgemeine Verwaltungsanordnung der Freizonen treten und dem unmittelbaren Durchgangsverkehr der Waren von oder nach diesem Staate gewidmet sind.“

5

Siehe dazu ADAP, Serie B, Bd. II,2, Dok. Nr. 29, 49, 121, 131.

Der Reichskanzler bestätigte, daß Herr Tschitscherin auch ihm die eben besprochene Frage mit einer gewissen Feierlichkeit vorgetragen habe. Er habe als Erklärung für die russischen Besorgnisse geäußert, daß Rußland die Einverleibung Litauens in das Polnische Reich nicht dulden könne, weil Polen dadurch zur Großmacht würde. Er, der Reichskanzler, habe ausweichend geantwortet6.

6

Eine Aufzeichnung über diese Besprechung zwischen dem RK und Tschitscherin konnte nicht ermittelt werden.

Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete endlich, daß Herr Tschitscherin Deutschlands Zurückhaltung gegenüber den jetzt in entscheidender Entwicklung begriffenen Balkanfragen bedauert habe. Er werde Herrn Tschitscherin antworten, daß Deutschland eine Einflußnahme auf die Balkanpolitik zur Zeit nicht für möglich halte7.

7

Siehe die Aufzeichnung Schuberts über die Besprechung zwischen Stresemann und Tschitscherin am 3.12.26, in: ADAP, Serie B, Bd. II,2, Dok. Nr. 149.

Für die bevorstehende Genfer Ratstagung8 sei von Herrn Drummond eine Dauer von mindestens einer Woche angekündigt worden, um den Außenministern der europäischen Großmächte hinreichende Gelegenheit zur Aussprache zu bieten. In Sachen der Militärkontrollkommission könne Deutschland voraussichtlich auf Unterstützung seines Standpunktes durch England, Italien und Belgien rechnen. Er beabsichtige ein festes Datum ohne Vorbedingungen für die Zurückziehung der interalliierten Militärkontrolle zu fordern. An die Beendigung der jetzt schwebenden Verhandlungen9 dürfe die Zurückziehung nicht geknüpft werden, denn es sei sehr möglich, daß einige Fragen, z. B. die der Ein- und Ausfuhr von Kriegsgeräten10, noch längere Zeit hindurch verhandelt werden müßten.

8

Die 43. Tagung des Völkerbundsrats begann am 6.12.26.

9

Gemeint sind die Verhandlungen über die unerledigten Entwaffnungsfragen.

10

Siehe dazu Dok. Nr. 135, P. 1.

In der Investigationsfrage sei der deutsche Standpunkt hinreichend festgelegt. Deutschland habe seine Zustimmung zu den Abmachungen von Locarno von der Interpretation des § 213 des Friedensvertrages von Versailles und der Investigationsbeschlüsse in seinem Sinne abhängig gemacht. Nach anfänglicher Weigerung habe damals Chamberlain zugestanden, daß die Interpretation im[396] Völkerbunde nur mit Deutschland gemeinsam erfolgen solle11. Den Gedanken der ständigen Kontrolle habe England auch jetzt in seiner Presse als abwegig bezeichnet. Stets habe sich die deutsche Außenpolitik ohne Einschränkung gegen die éléments stables in den Rheinlanden ausgesprochen. Es sei irrig, wenn z. B. in einem Artikel der „Germania“ die Festigkeit dieses Standpunktes angezweifelt werde. Gegenüber den Besorgnissen des Herrn Reichspräsidenten glaube er demnach sagen zu können, daß von einer ständigen Kontrollkommission des Völkerbundes wie auch von éléments stables im Rheinlande keine Rede sein könne, eine Kontrolle von Fall zu Fall andererseits sei abzulehnen nicht möglich. Fraglich sei nur, ob die Entscheidung schon in dieser Ratstagung fallen werde. Sollte unter diesen Umständen die Wahl des Vorsitzenden der Investigationskommission wirklich, wie vorgesehen, auf die Tagesordnung kommen, so könne Deutschland sich nicht an dieser Wahl beteiligen.

11

Zu den Erörterungen über die Investigationsfrage auf der Konferenz von Locarno siehe diese Edition, Die Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 185 a/b.

Der Reichswehrminister erklärte, daß es besser sei, die Interalliierte Militärkontrollkommission noch etwas länger zu ertragen, als sich einer ständigen Investigation zu unterziehen.

Staatssekretär Meissner führte aus, daß der Gesandte in Bern, Adolf Müller, den Herrn Reichspräsidenten besonders darauf aufmerksam gemacht habe, daß die Investigationsbeschlüsse des Völkerbundes in Kraft blieben, wenn sie im Laufe dieser Völkerbundstagung nicht abgeändert würden. Der Herr Reichspräsident teile diese Besorgnis.

Ministerialdirektor Gaus führt demgegenüber aus, die Beschlüsse zur Investigationsfrage lägen allerdings vor. Unser Widerspruch gegen sie sei aber durch die Note vom 12. Januar 1926 offiziell angemeldet worden12, ohne daß ein Widerspruch des Völkerbundes dagegen erfolgt sei. Für Deutschland bestehe also keine Bindung gegenüber den Investigationsbeschlüssen, es brauche gegebenenfalls eine gegen den Willen Deutschlands vom Völkerbund entsandte Kontrollkommission nicht über die deutsche Grenze zu lassen. Die Regelung der Investigationsfrage sei viel mehr ein Interesse der anderen Mächte als das unsere.

12

Siehe Anm. 2.

Staatssekretär Meissner entgegnete, daß der nach Absendung der Note vom 12. Januar erfolgte Eintritt Deutschlands in den Völkerbund von übelwollenden Interpreten als nachträgliches Einverständnis ausgelegt werden könne. Es empfehle sich daher, in irgendeiner Form auf die Note vom 12. Januar 1926 zurückzukommen. Jedenfalls müsse dies nach Ansicht des Herrn Reichspräsidenten geschehen, wenn die Investigationsfrage von irgendeiner Seite angeschnitten würde, insbesondere falls dies in offizieller Ratssitzung geschehe.

Der Reichsminister des Auswärtigen sagte dies letztere zu13.

13

Auf das Schreiben des RPräs. vom 30. 11. (Anm. 3) antwortete der RK nach einem Entwurf Stresemanns mit Schreiben vom 2.12.26: Der dt. Standpunkt zu den Investigationsbeschlüssen des Völkerbundsrats sei der Gegenseite bei verschiedenen Gelegenheiten dargelegt worden. Wie in der Ministerbesprechung vom 2. 12. einmütig festgestellt worden sei, werde die RReg. an diesem Standpunkt bei den bevorstehenden Verhandlungen in Genf festhalten und ggf. eine Durchführung der Investigationsbeschlüsse verhindern, soweit sie dem dt. Standpunkt widersprächen. „Deutschland ist hierbei taktisch in keiner ungünstigen Lage. Solange sich der Völkerbundsrat mit uns nicht geeinigt hat, wird er praktisch nicht in der Lage sein, vertragswidrige Investigationen durchzuführen, da wir jede in Deutschland vorzunehmende Maßnahme, die über unsere Auslegung des Artikels 213 des Versailler Vertrages hinausgeht, unter Hinweis auf die Note vom 12. Januar d. Js. ablehnen und verhindern könnten. Es ist also die Gegenseite, die daran interessiert ist, eine Einigung mit Deutschland herbeizuführen, und es ist anzunehmen, daß die bei der bevorstehenden Tagung des Völkerbundsrates in Genf anwesenden Außenminister Englands und Frankreichs in diesem Sinne vorgehen werden. Sollte das nicht geschehen, oder sollte es dabei nicht zu einer Einigung mit Deutschland kommen, so wird die auf die Tagesordnung des Völkerbundsrates gesetzte Wahl des Vorsitzenden der Investigationskommissionen dem deutschen Vertreter Anlaß geben, klarzustellen, daß Deutschland an seinem Standpunkt festhält und darüber hinausgehende Investigationen nicht zulassen kann.“ (R 43 I /421 , Bl. 150–151). Vollständig abgedr. in: ADAP, Serie B, Bd. I,2, Dok. Nr. 231; Hubatsch, Hindenburg und der Staat, Dok. Nr. 51.

[397] Über die deutsch-italienischen Verhandlungen machte der Herr Reichsminister des Auswärtigen die Mitteilung, daß von italienischer Seite angeregt worden sei, ob nicht die Zeichnung des deutsch-italienischen Schiedsvertrages durch Mussolini und den deutschen Außenminister an irgendeinem italienischen Ort vorgenommen werden könne. Er halte dies nicht für empfehlenswert, dagegen eine Konferenz zu viert (Chamberlain-Briand-Stresemann-Mussolini) für unbedenklich14.

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Siehe dazu ADAP, Serie B, Bd. III, Dok. Nr. 208, 210, 219, 230, 242, 249.

Bezüglich der Thoirypolitik wolle er Herrn Briand, der sich in seiner letzten Kammerrede etwas sehr vorsichtig geäußert habe15, erklären, daß Deutschland, falls Frankreich in absehbarer Zeit, etwa bis zum Februar kommenden Jahres, kein weiteres Entgegenkommen zeige, gezwungen sein werde, einen neuen Weg zu suchen, um die dringend erforderlichen Erleichterungen für die besetzten Gebiete zu erlangen. Deutschland werde dann die Räumung auf Grund des Friedensvertrages verlangen und den Gedanken an Kompensationen zugunsten Frankreichs ganz fallen lassen.

15

Zur Rede Briands vor der frz. Abgeordnetenkammer vom 30. 11. siehe Schultheß 1926, S. 296 f.; Stresemann, Vermächtnis, Bd. III, S. 67; ferner den Bericht Hoeschs vom 1. 12. aus Paris, in: ADAP, Serie B, Bd. I,2, Dok. Nr. 220.

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