1 (mu21p): Einleitung.

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 243). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Kabinett Müller II. Band 1 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

Extras:

 

Text

[VII] Einleitung*.

*

Meiner Frau, die nicht nur große Teile der Reinschrift dieser Edition angefertigt, sondern mich auch wesentlich beim Lesen der Korrekturen unterstützt hat, sage ich meinen besonderen Dank. M. V.

In der Geschichte der Weimarer Republik nimmt das zweite Kabinett Hermann Müller an der Wende von den Parteienkabinetten zu den Präsidialkabinetten einen besonderen Platz ein. Hier hatte sich erstmals wieder seit dem Jahr 1923 eine Große Koalition zu gemeinsamer Regierungsverantwortung zusammengefunden. In den 21 Monaten seiner Amtsdauer, einem Zeitraum, den bisher keine deutsche Regierung seit dem Weltkrieg erlebt hatte, sah sich das Kabinett vor eine Vielfalt von Aufgaben gestellt: Es bemühte sich um eine Änderung des seit 1924 bestehenden Reparationsabkommens; es versuchte ein Finanzprogramm zu gestalten, mit dessen Hilfe die zunehmenden Zahlungsschwierigkeiten des Reichs überwunden werden sollten; es war bestrebt, die wirtschaftliche Lage zu stabilisieren, da sich bereits im Sommer 1928 abzuzeichnen begann, daß die Konjunktur der vorangegangenen Jahre ihren Scheitelpunkt überschritten hatte – ein Umstand, der besonders auch in der Sozialpolitik berücksichtigt werden mußte. Aber der Regierungsarbeit war letztlich kein Erfolg beschieden; denn die Phase der Konsolidierung, die im Jahre 1924 nach dem Ende der Inflation und der Regelung der Reparationsbestimmungen durch den Dawesplan begonnen hatte, hatte ihren Abschluß gefunden. Die politischen Gegensätze verhinderten, daß das Kabinett ausreichend von den Koalitionsparteien unterstützt wurde. Sie, die eigentlich staatstragenden Parteien, verloren sich ohne Rücksicht auf ihre Verantwortung für die demokratische Ordnung in ihren ideologischen Kontroversen, die mehrfach durch außerparlamentarische Interessengruppen geschürt wurden. In diese Auseinandersetzungen wurden auch die Kabinettsmitglieder hineingezogen. So trafen die Gegner des Weimarer Staates, als es zur wirtschaftlichen Krise kam, auf kein festgefügtes Defensivbündnis der demokratischen Parteien; sie konnten sogar deren Zerrissenheit ihrer eigenen Agitation erfolgreich zu nutze machen. – Aus der Konfrontation des Kabinetts mit den Koalitionsparteien erwuchs die „Krise des Parteienstaates“, die mehrfach (Bracher, Conze, Helga Timm u. a.) untersucht worden ist. In diesen Untersuchungen sind vornehmlich Aspekte der allgemeinen politischen Geschichte behandelt worden, während den Schwerpunkt der vorliegenden Edition „das Kabinett in Aktion“ bilden soll1.

1

Die Akten der Rkei vermögen nur eine, wenn auch wesentliche, Teilansicht der politischen Landschaft der Weimarer Republik zu vermitteln. Wichtige Ergänzungen bilden neben den Stenographischen Berichten des Reichstags, Zeitungen und Ressortakten die Aufzeichnungen und Memoiren führender Politiker der Zeit. Zur Kommentierung und Ergänzung des Aktenmaterials der Rkei erwiesen sich für das „Kabinett Müller II“ als besonders nützlich die Nachlässe Hermann Müller, Hermann Pünder und Hans Schäffer.

[VIII] Diese Einleitung kann und soll nicht eine monographische Darstellung der Kabinettsgeschichte ersetzen; es ist vielmehr ihre Aufgabe, in Ergänzung zur chronologischen Abfolge der wiedergegebenen Dokumente Hinweise auf Schwerpunkte der Regierungsarbeit im thematischen Zusammenhang zu geben. Ausgangspunkt ist eine Charakterisierung der Kabinettsmitglieder innerhalb einer Skizze der Regierungsgeschichte; daran schließen sich Angaben über außen-, wirtschafts- und innenpolitische Arbeitsbereiche des Kabinetts an. Den Abschluß bilden die eng miteinander verflochtenen Probleme der Finanz- und Sozialpolitik, die zum Prüfstein der Koalition wurden und an denen das Kabinett scheiterte.

Die Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 brachten den Parteien der Linken einen erheblichen Stimmengewinn, dagegen den Koalitionsparteien des vierten Kabinetts Marx (Zentrum, BVP, DVP und DNVP) sowie der DDP und der radikalen Rechte starke Verluste. Es konnte daher kein Zweifel daran bestehen, daß die siegreichen Sozialdemokraten in die Regierungsverantwortung zurückkehren würden, aus der sie im Herbst 1923 ausgeschieden waren. Schon im März 1928, nachdem die Koalition des letzten Kabinetts Marx auseinandergebrochen war, hatten zwischen der DVP und der SPD richtungsweisende Gespräche über eine künftige Große Koalition stattgefunden. Damals hatte der Eindruck vorgeherrscht, nach den Wahlen werde der preußische Ministerpräsident Otto Braun das Amt des Reichskanzlers übernehmen; doch an seiner Stelle wurde im Juni der Parteivorsitzende und Führer der SPD-Reichstagsfraktion Hermann Müller-Franken, der im Jahr 1920 schon einmal die Regierungsgeschäfte geleitet hatte, vom Parteiausschuß als Kanzlerkandidat benannt und daraufhin vom Reichspräsidenten mit der Regierungsbildung beauftragt. Mit dieser Regierungsbildung, zu der die Akten der Reichskanzlei nur wenig enthalten2, begannen auch schon die Schwierigkeiten, die das Kabinett bis zur Demission am 27. März 1930 begleitet haben.

2

Neben Ausschnitten von Presseberichten und -kommentaren bildet die als Dok. Nr. 1 dieser Edition abgedruckte Aufzeichnung die einzige Unterlage über die Regierungsbildung in den Akten der Rkei.

Obwohl der Kreis der Parteien, die Vertreter in das neue Kabinett entsenden sollten, bald feststand, zogen sich die Verhandlungen über die Ressortverteilung mehrere Wochen lang hin und waren mehrmals vom Abbruch bedroht. Zu Komplikationen bot einmal die Forderung der DVP Anlaß, daß auch in Preußen wieder eine Große Koalition gebildet werden und damit die DVP wieder in das Staatsministerium eintreten sollte, das sie 1925 verlassen hatte. Ministerpräsident Braun, der ein Übereinstimmen der Regierungsparteien im Reich und in Preußen nicht für notwendig erachtete, wandte sich entschieden gegen die Verbindung der preußischen mit der Reichspolitik. Obgleich diese Frage, die für die DVP die erste Voraussetzung zur Regierungsbeteiligung im Reich gebildet hatte, nicht gelöst wurde, zwang Ende Juni der DVP-Vorsitzende Stresemann – möglicherweise aus außenpolitischen Überlegungen3 – seine[IX] Parteifreunde, der Entsendung zweier Minister in die Reichsregierung zuzustimmen4. Weitere Schwierigkeiten entstanden bei der Kabinettsbildung durch das Zentrum, das vergeblich neben dem Arbeitsministerium den Posten eines Vizekanzlers oder ein politisches Ressort beanspruchte. Um seine Bedingungen für den Eintritt in die neue Regierung zu unterstreichen, zog das Zentrum sogar den bisherigen Arbeitsminister Brauns, der dieses Ressort nach Müllers Willen hatte weiterführen sollen, zurück. Schließlich entsandte die Partei als „Beobachter“ den bisherigen Fraktionsvorsitzenden von Guérard in das Kabinett, betonte aber zugleich, daß sie sich nicht an diese Regierung gebunden fühle5. Eine gleiche Einstellung bekundeten auch die DVP und die BVP. Hermann Müller gelang es also im Juni 1928 nicht, ein Kabinett auf der Basis einer tragfähigen Koalition zu bilden. Er brachte ein sogenanntes „Kabinett der Köpfe“ zustande, von dem es in der Öffentlichkeit hieß, seine Demission werde schon im Herbst 1928 erfolgen. Unter diesen Voraussetzungen verzichtete die Regierung entgegen Stresemanns ausdrücklichem, außenpolitisch begründetem Wunsch auf ein Vertrauensvotum und begnügte sich mit der Billigung der Regierungserklärung durch das Parlament6.

3

Stresemann hatte Anfang Juni 1928 auf Initiative Hermann Müllers die Aufzeichnung einer Unterredung des frz. MinPräs. Poincaré mit dem „Vorwärts“-Redakteur V. Schiff vom April erhalten, aus der hervorging, daß Poincaré eher mit einer Linksregierung in Deutschland verhandeln werde als mit einem Kabinett unter Einschluß der DNVP (Nachlaß Stresemann  67).

4

Einzelheiten hierzu in den Fraktionsakten der DVP (BA: R 45 II /66  und 67) und im Nachlaß Stresemann  67 und 101; vgl. ferner Stresemann, Vermächtnis III, S. 298 ff.

5

Die Politik des Zentrums wird jetzt verdeutlicht durch die „Protokolle der Reichstagsfraktion und des Vorstandes der Deutschen Zentrumspartei 1926–1933“ bearb. v. R. Morsey (1969). Die Zentrumsprotokolle erschienen erst nach Beginn der Drucklegung dieser Edition und konnten daher zum Kommentar der Dokumente nicht mehr berücksichtigt werden.

6

Dok. Nr. 2, P. 2; 3, P. 1; 4, P. 3.

Wer gehörte diesem Kabinett am Tag der ersten Ministerbesprechung, die am 29. Juni stattfand, an? Der Reichskanzler Hermann Müller-Franken war bereits vor dem Weltkrieg Mitglied des Parteivorstandes der SPD gewesen und nach der Revolution Parteivorsitzender und Führer der Reichstagsfraktion geworden. Als Außenminister des Kabinetts Bauer hatte er 1919 den Versailler Vertrag unterzeichnet, und 1920 war von ihm nach dem Kapp-Putsch erstmals ein Kabinett gebildet worden, das nach den Reichstagswahlen im Juni des gleichen Jahres zurücktrat. Als Angehöriger der Reichstagsausschüsse für Auswärtige Angelegenheiten und für den Haushalt hatte er Kontakte auch zu den anderen demokratischen Parteien gefunden, bei denen er Achtung genoß, da er es verstand, sich von engen ideologischen Bindungen freizuhalten. So versuchte er auch, losgelöst von Parteiinteressen und auf Ausgleich bedacht, vom 28. Juni 1928 bis zum 27. März 1930 ein zweitesmal die Regierungsgeschäfte zu leiten. Als seine wesentlichen Aufgaben sah Müller in dieser Zeit die Klärung des Reparationsproblems und die Lösung der Finanzkrise an; dabei blieb er frei von Illusionen. An den Fraktionsvorsitzenden der SPD, Breitscheid, schrieb der Reichskanzler im Juli 1929 über die politischen Aufgaben und die Zukunft des Kabinetts: „Was nach Erledigung des Youngplans wird, steht dahin. Ob die jetzt in der Regierung vertretenen Parteien in den Wirtschafts-, Finanz- und sozialpolitischen Fragen (besonders Erwerbslosenfürsorge) die zum Regieren[X] notwendige Kompromißlinie finden werden, läßt sich heute schwer voraussagen. Die Zeiger dürften eher auf Nein als auf Ja deuten. Doch das darf meines Erachtens nicht abhalten, das Menschenmögliche für die Räumung zu tun.“7 Aus dieser Pflichtauffassung heraus blieb Müller auch im Amt, als ihm seine Ärzte im zweiten Halbjahr 1929 wegen eines schweren Gallenleidens, dem er später erlag, den Rücktritt nahelegten8. Müller war eine pragmatische Natur ohne charismatische Ausstrahlung. Zu einer bedeutenderen Wirkung als Parteiführer und Staatsmann konnte er bei seinem völligen Mangel an rhetorischer Brillianz nicht gelangen9.

7

Müller an Breitscheid, 10.7.29 (SPD: Nachlaß Müller  O I).

8

Dok. Nr. 391.

9

Zur Charakteristik Müllers s. auch W. Zechlin, Pressechef bei Ebert, Hindenburg und Kopf (1952), S. 68 ff.

Außenminister Gustav Stresemann hatte 1923 selbst für drei Monate ein Kabinett geführt und seither der deutschen Außenpolitik die Richtung gewiesen. Seine Eigenwilligkeit, die von früheren Kabinetten bisweilen kritisiert und in seiner eigenen Partei, der DVP, oft Anstoß erregt hatte, kam im zweiten Kabinett Müller nicht mehr zur Geltung, einmal, weil Stresemann schwer krank war, dann aber auch, weil er die Notwendigkeit erkannt hatte, die widerstrebenden Parteikräfte an die Regierung zu binden. Kurz vor seinem Tod Anfang Oktober 1929 hatte Stresemann das wichtigste Ziel seiner Außenpolitik erreicht, nämlich die bindende Zusage des französischen Außenministers (und damaligen Ministerpräsidenten) Briand, daß das besetzte Rheinland von den Besatzungstruppen geräumt werde. Soweit Stresemann in den Besprechungen des Kabinetts zu finanz- und wirtschaftspolitischen Problemen Stellung nahm, vertrat er die rechtsliberalen Ansichten der von Arbeitgeberinteressen geprägten DVP. Durch Stresemanns Tod verlor die Große Koalition einen ihrer wichtigsten Fürsprecher10, was sich auch in der Haltung der DVP niederschlug, deren rechter Flügel nunmehr die Parteilinie bestimmte und nachdrücklich eine Lösung von der Sozialdemokratie anstrebte.

10

Einen Eindruck von Stresemanns Haltung zu dieser Regierung und von den Arbeiten des Ministers in seinem letzten Lebensjahr vermittelt der dritte Band des „Vermächtnis“.

Als Innenminister wurde Carl Severing berufen, der bereits in kaiserlicher Zeit Funktionär der SPD gewesen war. Nach dem Krieg hatte er als Reichs- und Staatskommissar für das rheinisch-westfälische Industriegebiet Ansehen erworben und war unter Otto Braun 1920–1926 Innenminister in Preußen gewesen. Auf ausdrücklichen Wunsch Hermann Müllers übernahm Severing 1928 das Innenressort im Reich. Die Achtung, die Severing auch in der SPD fernstehenden Gruppen besaß, ermöglichte im Herbst 1928 seine Berufung als Vermittler im Arbeitskampf in der westdeutschen Eisenindustrie. Als besondere Aufgabe seines Ministeriums erkannte Severing den Schutz der Verfassung gegen radikale Kräfte; daher setzte er sich nachdrücklich für die Verabschiedung des neuen Republikschutzgesetzes ein und führte in vorderster Linie den Kampf gegen die demagogischen Gegner des Youngplanes. In den für dieses Kabinett kritischen Fragen der Sozialpolitik stand Severing dem Arbeitsminister Wissell[XI] nahe, versuchte aber, in dessen Auseinandersetzungen mit dem Finanzressort ausgleichend zu wirken11.

11

Zu Severings Tätigkeit als RIM s. seine eigene Darstellung in „Mein Lebensweg“ II (1950).

Das dritte klassische Ressort, das Finanzministerium, lag ebenfalls in den Händen eines Sozialdemokraten: Rudolf Hilferding war aus dem österreichischen Sozialismus hervorgegangen. Nach seiner Promotion in Kinderheilkunde hatte er sich der Parteiarbeit zugewandt und durch ein Buch über „Das Finanzkapital“ den Ruf eines der bedeutendsten Theoretiker des Marxismus erlangt; in der praktischen Regierungsarbeit konnte er sich jedoch nur schwer zu Entschlüssen durchringen. Das hatte sich bereits gezeigt, als er im Kabinett Stresemann Finanzminister war, und wiederholte sich, als er unter Müller den gleichen Posten im Jahr 1928 erhielt. Eine Kämpfernatur scheint Hilferding nicht gewesen zu sein, wie besonders sein Verhalten in der Auseinandersetzung mit dem Reichsbankpräsidenten Schacht im Dezember 1929 erweist. Dafür zeichnete ihn Toleranz aus, die ihm erlaubte, Mitarbeiter zu gewinnen, die anderen politischen Anschauungen, als er selber hatte, nahestanden12. Das mag erklären, weshalb zwei weltanschaulich derart verschieden orientierte Persönlichkeiten wie Hilferding und sein Staatssekretär Popitz ihr Ressort in den Kabinettsbesprechungen ohne Widersprüche vertraten. Doch kann hier auch eine Rolle gespielt haben, daß Hilferding „aus dem Einfluß seines Staatssekretärs nicht loszulösen“ gewesen sein soll, „der ihn mit einer ihm gefügigen Kamarilla und einer chinesischen Mauer umgeben“ habe13. Vielleicht ist hierin der Grund für die wachsenden Spannungen im Kabinett bei finanzpolitischen Fragen und für die tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten mit dem Arbeitsminister über die Notwendigkeit sozialpolitischer Ausgaben zu sehen. Für den mangelnden politischen Kontakt Hilferdings zu seiner eigenen Partei ist es schließlich bezeichnend, daß das Finanzreformprogramm, das er im Dezember 1929 vorlegte, eher den Forderungen der DVP als der SPD Rechnung trug.

12

Schwerin-Krosigk, Es geschah in Deutschland, S. 80.

13

MinDirig. Wachsmann an StS Pünder, 22.12.29 (BA: Nachlaß Pünder  657).

Julius Curtius, der Wirtschaftsminister, gehörte dem Reichstag als Abgeordneter der DVP seit 1920 an. Im Jahr 1926 war er Minister geworden und hatte seither das Wirtschaftsressort geleitet. Den Sozialdemokraten stand er distanzierter als Stresemann gegenüber, obwohl gerade er im März 1928 Koalitionsgespräche mit Vertretern der SPD geführt hatte. Wirtschafts- und sozialpolitisch war Curtius den rechtsliberalen Anschauungen seiner Partei eng verbunden und besonders denen ihres Industrieflügels. Aus dieser Einstellung erwuchs seine Kritik an Finanzminister Hilferding, dessen Demission er gemeinsam mit seinem Parteifreund Moldenhauer im Dezember 1929 betrieb. Curtius’ Stellung innerhalb des Kabinetts wurde dadurch gekennzeichnet, daß er der Sachwalter Stresemanns war, den er im Falle der Abwesenheit – von den Besprechungen in Genf im September 1928 abgesehen – in außenpolitischen Fragen vertrat und zu dessen Nachfolger er im Herbst 1929 ernannt wurde. Beharrlich setzte er sich in Fortsetzung der Außenpolitik Stresemanns für die Ratifizierung des Youngplans[XII] und die Annahme des deutsch-polnischen Liquidationsabkommens ein. Der im Kabinett Brüning wesentlich von Curtius betriebene Plan einer deutsch-österreichischen Zollunion wurde in der Endphase des Kabinetts Müller vorbereitet14.

14

Curtius schildert seine Arbeit im Kabinett Müller II in: Sechs Jahre Minister der deutschen Republik (1948); Der Young-Plan (1950); Bemühungen um Österreich (1947).

Dem Arbeitsminister Rudolf Wissell fehlte die nüchterne Ausgeglichenheit des Wirtschaftsministers. Aus der Gewerkschaftsbewegung hervorgegangen, war er nach dem Ausscheiden der USPD in den Rat der Volksbeauftragten berufen worden und hatte im Kabinett Scheidemann zeitweilig das Wirtschaftsministerium geleitet. In den folgenden Jahren hatte er sich nicht allein auf parlamentarische Tätigkeit beschränkt; seine Qualifikation für das Arbeitsministerium leitete sich ab von seiner Mitarbeit am Internationalen Arbeitsamt in Genf und von seiner Position als Schlichter im Arbeitsbezirk Groß-Berlin. Wissell setzte sich im Kabinett Müller II besonders für eine gerechte Arbeitslosenunterstützung und eine Aufbesserung der Renten ein. Sein Kampf für diese sozialpolitischen Ziele brachte ihn schließlich in Gegensatz zu seinem Parteifreund Hilferding. Der Reichskanzler soll sich sogar in einer bestimmten Phase der sozialpolitischen Auseinandersetzung veranlaßt gesehen haben, Wissell zu drohen, er werde dem Reichspräsidenten seine Entlassung vorschlagen, falls er seine Forderungen nicht auf ein politisch erträgliches Maß reduziere15. Mit Hilferdings Nachfolger Moldenhauer geriet Wissell gleichfalls in Auseinandersetzungen. In seinen Lebenserinnerungen schildert der DVP-Politiker, wie schwierig Diskussionen mit Wissell gewesen seien, „der zwar als Charakter ein sehr anständiger Mensch ist, eine anima candida, wie man zu sagen pflegt, aber außerordentlich stur in seiner politischen Haltung. Er kam über seine gewerkschaftlichen Ideen nicht hinaus und konnte die Fragen nicht in größerem Zusammenhang sehen. Er hatte sich ein Dogma zurecht gelegt, daß er unter keinen Umständen etwas von dem preisgeben dürfe, was sein Vorgänger, der Arbeitsminister Brauns [Zentrum], aufgebaut habe. Unglücklicherweise hatte Wirth in einer Rede einmal triumphierend erklärt, daß Brauns aufbaue, während Wissell die Errungenschaften der Arbeiter nicht genügend verteidige16.“ Neben seiner politischen Arbeit betätigte sich Wissell auch literarisch. Im Jahr 1929 legte er die ersten beiden Bände seiner großen Arbeit über „Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit“ vor, wofür ihm die Universität Kiel im gleichen Jahr anläßlich seines 60. Geburtstags die Ehrendoktorwürde verlieh; außerdem veröffentlichte Wissell in dieser Zeit einen Aufsatz „Zur Geschichte der utopischen Staatsideen“ (Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Bd. 13).

15

Hans Schäffer: Carl Melchior (BA: Nachlaß Dietrich  303). In den Akten der Rkei konnten zu diesem Zwischenfall keine Unterlagen ermittelt werden.

16

BA: Nachlaß Moldenhauer  3.

Das Justizministerium lag bis zur Kabinettsumbildung im April 1929 in den Händen Erich Koch-Wesers, der aus der preußischen Kommunalverwaltung hervorgegangen war. Von 1919–1921 war er, der der DDP angehörte, Reichsinnenminister[XIII] gewesen und seit 1924 Vorsitzender des Parteiausschusses und Führer der Reichstagsfraktion. Wie Müller und Stresemann war Koch-Weser ein überzeugter Befürworter der Großen Koalition und willigte deshalb auch darin ein, sein Portefeuille zur Verfügung zu stellen, wenn das Kabinett durch Angehörige des Zentrums erweitert werden sollte. Als jedoch dieser Zeitpunkt kam, fiel es ihm schwer, sein Amt niederzulegen, da ihm wesentlich erscheinende Probleme der Justizreform, wie das Ehescheidungsrecht, noch nicht gelöst waren. Die Kritik, die Koch-Weser an den politischen Ereignissen übte, wird aus seinen Tagebuchaufzeichnungen deutlich17. Zweifellos stand er nach seinen liberalen Anschauungen der DVP näher als der SPD, und es ist bezeichnend, daß er im Frühsommer 1930 aus der DDP austrat, nachdem der von ihm betriebene Zusammenschluß mit der DVP zu einer einzigen liberalen Partei mißlungen war. Während der Agitation gegen den Youngplan befürchtete Koch-Weser, daß die Regierung ihre Abwehr allzu einseitig durch den Innenminister Severing vortragen lasse18. Doch hier und auch im Dezember 1929 während der Auseinandersetzungen des Kabinetts mit dem Reichsbankpräsidenten hat der Parteivorsitzende der DDP noch loyal zur Großen Koalition gestanden. Ende Februar 1930 gehörte er dann aber auch zu jenen Parlamentariern, die über die Bildung einer neuen Regierung unter Ausschluß der SPD verhandelten19.

17

BA: Nachlaß Koch-Weser  37–39.

18

Dok. Nr. 322; 325 und 326.

19

R. Morsey, Neue Quellen zur Vorgeschichte der Reichskanzlerschaft Brünings.

Im Gegensatz zu den bisher genannten Kabinettsmitgliedern war der Reichswehrminister Wilhelm Groener parteilos und gehörte dem Reichstag nicht an. Groener war in der Schlußphase des ersten Weltkriegs als Ludendorffs Nachfolger Generalquartiermeister und damit einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Kabinettserfahrungen hatte er von 1920 bis 1923 als Verkehrsminister in der Reichsregierung sammeln können. Im Januar 1928 war er als Nachfolger Geßlers ins Wehrministerium berufen worden. Groener sah es als seine Aufgabe an, die Reichswehr von den Vorwürfen zu reinigen, die gegen sie in den Jahren 1926 und 1927 auf Grund der Verbindungen zur Roten Armee und wegen der Phoebus-Affäre, d. h. wegen finanzieller Transaktionen zur geheimen Aufrüstung und Nachrichtenbeschaffung, erhoben worden waren20. Groener sorgte dafür, daß das gesamte Kabinett über wesentliche Grundzüge der Reichswehrpolitik unterrichtet wurde und zwar auch dort, wo diese im Widerspruch zu den Bedingungen des Versailler Vertrags standen. Mit Nachdruck setzte er sich für eine ausreichende Finanzierung der Reichswehr ein und scheute sich nicht, zur Unterstreichung seiner Bemühungen mit der Demission zu drohen. Ein großer Redner ist Groener nicht gewesen; selbst in den Kabinettsbesprechungen zog er es vor, seine Erklärungen zu problematischen Fragen der Reichswehrpolitik abzulesen21. In seinen politischen Anschauungen war der Reichswehrminister weitgehend von seinem „cardinal in politicis“, dem Generalmajor[XIV] von Schleicher, abhängig, den er im Frühjahr 1929 an die Spitze des neugeschaffenen Ministeramts im Reichswehrministerium stellte22. Wenn auch der Reichswehrminister dem Kanzler eine gewisse Wehrfreundlichkeit zugestand, so dürfte schon seit der erbitterten Diskussion um den Panzerkreuzer A Groener einer Rechtsregierung den Vorzug gegenüber diesem Kabinett gegeben haben. Wenn sich Groener und insbesondere Schleicher gegen Müller für die Berufung Brünings zum neuen Reichskanzler Ende des Jahres 1929 und zu Beginn des Jahres 1930 einsetzten, so geben die Akten der Reichskanzlei hierüber keine Auskunft23.

20

S. hierzu O. E. Schüddekopf, Heer und Republik (1955), S. 214 ff.; IMT Bd. XXXIV (1948), S. 551 ff.

21

Als Beispiel sei hingewiesen auf Dok. Nr. 15, P. 2.

22

Dok. Nr. 137, P. 3.

23

S. hierzu Th. Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP (1962), Dok. Nr. 5, S. 414 f.; Pünder, Politik in der Reichskanzlei, S. 46; Documents on British Foreign Policy, 2nd ser., vol. I, p. 473.

Reichspostminister Georg Schätzel war der zweite Nichtparlamentarier des Kabinetts, doch gehörte er der BVP an. Er war seit 1923 Staatssekretär in der Abteilung München des Reichspostministeriums gewesen und von dort aus in das vierte Kabinett Marx als Postminister berufen worden. Im Kabinett Müller gewann er Profil als Verfechter der besonderen bayerischen Interessen, sei es nun in der Frage der Reichsreform oder in der der Erhöhung der Biersteuer. In dieser Hinsicht ist er wohl als das Sprachrohr des BVP-Vorsitzenden, Ministerpräsident Heldt, anzusehen, doch scheint es, daß Schätzel auf Grund der Erfahrungen als Reichsminister in seinen Ansichten maßvoller und in seinen Äußerungen zurückhaltender gewesen ist als seine Münchener Parteifreunde. Soweit erkennbar neigte der Postminister dazu, bei Abstimmungen im Kabinett wie die Vertreter des Zentrums zu votieren, sofern nicht spezifisch bayerische Interessen berührt wurden oder die BVP eigene politische Konzeptionen besaß.

Der Verkehrsminister Theodor von Guérard hatte zu Beginn seiner Karriere im preußischen Verwaltungsdienst als Landrat von Monschau und beim Oberpräsidium in Koblenz gearbeitet. Dem Zentrum und zwar dessem konservativen Flügel hatte er sich erst nach dem Weltkrieg angeschlossen. Seit 1920 war er Reichstagsabgeordneter und 1927 wurde er Fraktionsführer. Da im Zentrum die Tendenz bestand, in ein rechtsgerichtetes Kabinett zum Ausgleich Vertreter des linken Parteiflügels und in ein linksgerichtetes solche des rechten zu entsenden, wird verständlich, weshalb gerade von Guérard ausersehen wurde, als „Beobachter“ des Zentrums dem Kabinett anzugehören. Neben der Leitung des Verkehrsministeriums war von Guérard auch mit der Geschäftsführung des Ministeriums für die besetzten Gebiete betraut, ein Ressort, zu dessen Leitung er als Rheinländer besonders berufen schien. Der Reparations- und Räumungspolitik Stresemanns und Curtius’ stand er zurückhaltend gegenüber, da er befürchtete, sie werde für Deutschland unerträgliche Belastungen bringen. Nach der Regierungskrise im Frühjahr 1929, die durch das Ausscheiden von Guérards aus dem Kabinett ausgelöst wurde, trat er in dieses nach der Umbildung im April 1929 in der Nachfolge Koch-Wesers als Justizminister wieder ein. Auf diesem Posten widersetzte sich von Guérard in strikter Anlehnung an die Grundsätze der Zentrumspartei einer Reform des Ehescheidungsrechts24.

24

Dok. Nr. 343.

[XV] Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft Hermann Dietrich war zunächst in der Kommunalpolitik Badens tätig gewesen und hatte nach dem Weltkrieg kurz als badischer Minister und dann im Reichstag gewirkt, dem er als Abgeordneter der DDP angehörte. Allmählich hatte er dort den Ruf eines gründlichen Kenners der Finanz-, vor allem aber auch der Agrarpolitik gewonnen. Im Kabinett Müller II trat Dietrich mit politischen Aussagen, die über seinen Ressortbereich hinausgingen, erst stärker hervor, als Koch-Weser ausgeschieden war und er nun allein die Interessen der DDP wahrnahm. Als Reichsminister setzte sich Dietrich, der im Schwarzwald einen Hof besaß, nachdrücklich für die Belange der Landwirtschaft ein, was ihn besonders bei der Behandlung der Zollgesetzgebung und von Handelsverträgen leicht in Gegensatz zu den Ministern des Auswärtigen, der Finanzen und der Wirtschaft brachte. Immerhin war Dietrich beweglich genug, seine Agrarpolitik den politischen Erfordernissen des Kabinetts anzupassen. Bei Besprechungen mit den landwirtschaftlichen Interessenverbänden vertrat der Ernährungsminister bei allem Verständnis für ihre Sorgen den Standpunkt des Kabinetts. Dietrich, der auf dem rechten Flügel seiner Partei stand, neigte auf den Gebieten der Finanz- und Sozialpolitik zur Zusammenarbeit mit seinen Ministerkollegen von der DVP. Während der Pariser Sachverständigenverhandlungen erschien es Dietrich durchaus zweifelhaft, ob Deutschland die ihm gestellten Bedingungen werde erfüllen können; denn er meinte, „daß die Ersparnisse, die wir in diesem Jahr durch Minderzahlungen machen werden, alsbald durch neue innenpolitische Forderungen aufgezehrt würden“. Doch ließ er sich von der Notwendigkeit überzeugen, den neuen Reparationsregelungen zuzustimmen25.

25

Tagebuch Koch-Weser, 3.5.29 (BA: Nachlaß Koch-Weser  37).

Neben den Ministern gehörte zu den ständigen Teilnehmern an Besprechungen des Kabinetts der Staatssekretär in der Reichskanzlei. Hermann Pünder nahm diesen Posten pflichteifrig unter den Kanzlern Marx, Müller und Brüning wahr. Eine eigene Politik scheint er zumindest während der Kanzlerschaft Müllers nicht getrieben zu haben. Die persönliche Bindung Pünders an das Zentrum erwies sich in den Monaten der Kabinettskrise vom Februar bis April 1929 als vorteilhaft für den Fortbestand der Beziehungen zwischen Regierung und Partei26.

26

Einen Eindruck von Pünders Tätigkeit in der Reichskanzlei ab Oktober 1929 vermitteln seine veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen: Politik in der Reichskanzlei (1961).

Von den genannten Ministern der ersten Kabinettsphase hatten vier, nämlich Stresemann, Curtius, Schätzel und Groener bereits dem vorhergehenden Kabinett Marx IV angehört. Mit Ausnahme von Guérards hatten die Kabinettsmitglieder zuvor schon im Reich oder in Ländern Ministerien verwaltet, so daß die Feststellung berechtigt ist, daß das Kabinett aus fachlich versierten Politikern gebildet worden ist.

Die Erwartung des Reichskanzlers, aus dem „Kabinett der Köpfe“ bereits im Herbst 1928 eine Koalitionsregierung bilden zu können, erfüllte sich nicht, da das Preußische Staatsministerium wie im Juni eine Erweiterung durch die DVP ablehnte. Im Reich gefährdeten der Parteienstreit um den Bau des Panzerkreuzers[XVI] A und um den Arbeitskampf in der nordwestdeutschen Eisenindustrie den Zusammenhalt des Kabinetts, das daher nicht auch noch mit Verhandlungen über seine Umgestaltung belastet werden konnte27. Ungeachtet dieser politischen Zwangslage forderte das Zentrum auch weiterhin, daß es in der Reichsregierung stärker vertreten sein müsse, und es sah in dem fortbestehenden Verlangen der DVP auf gleichzeitige und gleichartige Koalitionsbildungen im Reich und in Preußen eine derartige Behinderung seiner eigenen Parteiinteressen, daß trotz der schwebenden politischen Entscheidungen, der Pariser Sachverständigenkonferenz über die Reparationen und der Verhandlungen für den Haushalt 1929 der Zentrums„beobachter“ von Guérard aus Protest zurückgezogen wurde28. Durch Staatssekretär Pünder blieb jedoch in den folgenden Krisenwochen eine Verbindung zwischen Regierung und Zentrum bestehen. Und bei den Haushaltsberatungen zeigte sich, daß das Zentrum eher als die DVP bereit war, die Steuerpolitik Hilferdings mitzuverantworten29. Nach zweimonatigen Besprechungen konnte Anfang April über den Etat 1929, auf den sich schließlich die Koalitionsgespräche konzentriert hatten, eine Einigung gefunden und eine Koalitionsformel von den beteiligten Parteien gebilligt werden, obgleich die Erweiterung des Preußischen Staatsministeriums wiederum nicht zustande kam30.

27

Damit ist die Pause in den Koalitionsverhandlungen von Ende November 1928 (Dok. Nr. 72) bis zum Januar 1929 (Dok. Nr. 116, 117) zu erklären.

28

Dok. Nr. 121, 122.

29

Daß das Zentrum mit dieser Einstellung auch eine gewisse politische Pression ausüben konnte, ergibt Dok. Nr. 159.

30

Dok. Nr. 165169.

Das Kabinett wurde umgebildet. An die Stelle Koch-Wesers trat von Guérard als Justizminister. Neuer Verkehrsminister wurde Adam Stegerwald, der vor dem Weltkrieg ein führendes Mitglied der christlichen Gewerkschaftsbewegung gewesen war und von 1919–1929 den deutschen Gesamtverband christlicher Gewerkschaften geleitet hatte. In Preußen war Stegerwald zeitweilig Wohlfahrtsminister und kurzfristig Ministerpräsident gewesen. Nach dem Rücktritt des früheren Reichskanzlers Marx als Vorsitzender der Zentrumspartei war bei der Neuwahl im Dezember 1928 der auf dem rechten Parteiflügel stehende Stegerwald dem konservativen Trierer Prälaten Kaas unterlegen. Als Verkehrsminister trat Stegerwald politisch nicht besonders hervor. Er setzte sich anläßlich der Reparationsverhandlungen dafür ein, daß die Reichsbahn wieder der Kontrolle des Reichs unterliegen solle31, und legte im Februar 1930 eine eigene Vorlage zur Sanierung der Reichsfinanzen vor. Bei Abstimmungen im Kabinett votierte er stets wie seine Parteifreunde von Guérard und Wirth.

31

z. B. Dok. Nr. 246.

Mit Joseph Wirth erhielt das Ministerium für die besetzten Gebiete erstmals seit dem Jahr 1923 wieder einen hauptamtlichen Minister. Wirth war ehemals badischer Gymnasiallehrer gewesen und hatte, nachdem er das badische Finanzressort geleitet hatte, von 1920–1922 zunächst als Reichsfinanzminister, dann als Reichskanzler Regierungsverantwortung getragen. Auf Grund seiner politischen Anschauungen hatte Wirth immer auf dem äußersten linken Flügel[XVII] des Zentrums gestanden und war in seinen Ansichten derart mit der Parteilinie kollidiert, daß er während der dritten Legislaturperiode sogar aus der Fraktion ausgeschlossen worden war. Während seiner Zugehörigkeit zum Kabinett Müller II sind bei Wirth jedoch keine Züge einer individuellen politischen Linie erkennbar, vielmehr paßte er sich bei Kabinettsabstimmungen seinen beiden Parteifreunden an. Wie von Guérard nahm Wirth aus persönlicher Kenntnis der Situation im westdeutschen Grenzgebiet die Interessen des Rheinlandes wahr und griff darüber hinaus auf den beiden Konferenzen im Haag (August/September 1929 und Januar 1930) an der Seite der Außenminister Stresemann und Curtius mit nationalpolitischen Argumenten in die Debatte um das besetzte Gebiet ein. Seine Ambitionen, im Juni 1928 Vizekanzler und im Herbst 1929 Nachfolger Stresemanns als Außenminister zu werden, scheiterten 1928 an Stresemann und 1929 am Reichspräsidenten.

Nach der Kabinettsumbildung im April 1929 entstanden für den Zusammenhalt der Regierung neue Gefahren vornehmlich durch die Auseinandersetzungen über die Reform der Arbeitslosenversicherung, nachdem die vom sozialdemokratischen Arbeitsminister beantragte Beitragserhöhung auf den entschiedenen Widerspruch der DVP gestoßen war32. Vor der entscheidenden Abstimmung über die Gesetzesvorlage im Reichstag gelang es Stresemann, seine Parteifreunde mit dem Hinweis auf die außenpolitischen Auswirkungen einer Demission der Regierung zum Stimmenthalt zu überreden, der die Annahme des Gesetzes sicherte. Diese Anstrengung verzehrte die letzten Kräfte des kranken Ministers, der am 3. Oktober 1929 einem Schlaganfall erlag33. Seinen Posten übernahm zunächst geschäftsführend, dann offiziell Julius Curtius, da sich der Reichskanzler aus gesundheitlichen Gründen der Anregung des Reichspräsidenten entzog, selbst das Auswärtige Amt zu leiten34. Neu in die Regierung trat der DVP-Abgeordnete Moldenhauer ein, neben von Guérard das einzige Kabinettsmitglied ohne frühere Erfahrung als Minister.

32

Dok. Nr. 229, P. 3.

33

Dok. Nr. 310.

34

Dok. Nr. 316, P. 1.

Paul Moldenhauer, Professor für Versicherungswissenschaft an der Kölner Universität, gehörte dem Reichstag seit 1920 an, ohne dort eine auffallende Rolle gespielt zu haben. Von seiner Berufung ins Kabinett war er seinen eigenen Angaben nach überrascht35. Die Nominierung für den Posten des Wirtschaftsministers dürfte auf das Betreiben der Industriellengruppe in der DVP, der er durch seine Verbindungen zum IG-Farben-Konzern nahestand, zurückgehen. Voll Skepsis betrachtete Moldenhauer die Finanzpolitik Hilferdings und war auch während der Finanzkrise im Dezember 1929 eine der treibenden Kräfte für dessen Rücktritt36. Auf Drängen des Reichskanzlers übernahm Moldenhauer dann selbst das Finanzministerium und brachte sich als neuen Staatssekretär aus dem Wirtschaftsministerium den bisherigen Ministerialdirektor[XVIII] Hans Schäffer mit37. Es ist bemerkenswert, daß Moldenhauer der einzige Minister dieses Kabinetts gewesen zu sein scheint, der den rechten Ton fand, um den politischen Extratouren des Reichsbankpräsidenten zu begegnen38. Das trat besonders deutlich im Januar 1930 während der zweiten Haager Reparationskonferenz hervor. Auf dieser Konferenz widersprach Moldenhauer aber auch nachdrücklich allen neuen Wünschen zur Änderung des Reparationsplans, die von den Gläubigerstaaten in finanzieller Hinsicht vorgetragen wurden. Gegenüber dem Reichswehrminister gelang es Moldenhauer, eine neuerliche Verminderung des Wehretats durchzusetzen, was Hilferding nicht vermocht hatte39. In der Frage der Arbeitslosenversicherung löste sich Moldenhauer von der starren Parteilinie der DVP und neigte zeitweilig – wohl aus der Überlegung heraus, daß höhere Beiträge die Beteiligten zu einer Reform des gesamten Bereichs der Arbeitslosenversicherung veranlassen werde – einem Kompromiß zu40. Andererseits bemerkte der Minister zwei Tage vor der Demission des Kabinetts zu seinem Staatssekretär, daß über die umstrittene Beitragshöhe zur Arbeitslosenversicherung zwischen den Parteien des Kabinetts keine Einigung zustande kommen werde, „weil die Volkspartei erfahren hat, daß der Reichspräsident dieser Regierung weder die Ermächtigung aus Art. 48 noch das Recht zur Auflösung [des Reichstags] gibt41.“ Da der Finanzminister eine Schlüsselstellung in der Reichsregierung einnahm, trug nicht zuletzt Moldenhauers Rücktrittsabsicht, die aus der Verärgerung erwachsen war, daß im Reichstag der Nachtragshaushalt 1929 unerwünschte Veränderungen erfahren hatte, dazu bei, daß am 27. März 1930 die parteipolitischen Gegensätze im Kabinett über den Gedanken einer „Notgemeinschaft“ triumphierten.

35

BA: Nachlaß Moldenhauer  2. Dieser Nachlaß enthält die bisher unveröffentlichten Lebenserinnerungen des ehem. RM.

36

BA: Nachlaß Moldenhauer  3.

37

Dok. Nr. 399, P. 4; 402, P. 2.

38

BA: Nachlaß Moldenhauer  3.

39

Dok. Nr. 350; 353; 412; 433; 449, P. 4.

40

Aufzeichnungen Schäffers vom 8.3.30 (Institut für Zeitgeschichte: Nachlaß Schäffer  ED 93).

41

Aufzeichnung Schäffers vom 25.3.30 (Institut für Zeitgeschichte: Nachlaß Schäffer  ED 93).

Nachdem Moldenhauer das Finanzressort übernommen hatte, trat an seinen Platz im Wirtschaftsministerium Robert Schmidt, der schon vor der Revolution als SPD-Abgeordneter im Reichstag gesessen hatte und langjähriger Gewerkschaftsfunktionär gewesen war. Den Kabinetten Scheidemann und Bauer hatte er zunächst als Ernährungs-, dann als Wirtschaftsminister angehört, den gleichen Posten nahm er auch in den Kabinetten Müller I und Wirth wahr. Unter Stresemann war er im Jahr 1923 bis zum Ausscheiden der SPD Vizekanzler und Wiederaufbauminister gewesen. Schmidt, wie Moldenhauer ein Kölner, gehörte dem rechten Flügel der SPD an. Seine Tätigkeit im zweiten Kabinett Müller läßt kein Urteil über ein eigenes wirtschaftspolitisches Konzept zu. In einem Schreiben von der zweiten Haager Konferenz betont Pünder die Sachlichkeit des Wirtschaftsministers42. Hierfür spricht auch ein Brief Schmidts an den Reichskanzler aus der gleichen Zeit, in dem er zu den Angriffen, die damals gerade von der SPD gegen den Reichsbankpräsidenten gerichtet worden waren, Stellung nahm[XIX] und darauf aufmerksam machte, auch ein neuer Reichsbankpräsident werde und müsse versuchen, die Reichsbank unabhängig von der Finanzpolitik der Reichsregierung zu halten, damit die Währung stabil bleibe43.

42

Dok. Nr. 411.

43

Schmidt an Müller, 10.1.30 (SPD: Nachlaß Müller  O III).

Nach der letzten Umformung der Regierung im Dezember 1929 ließ sich die Brüchigkeit der Koalition, die nur noch durch den Zwang zusammengehalten wurde, die Reparationsverhandlungen außen- und innenpolitisch zu Ende zu führen, nicht mehr verschleiern. Kontakte der Parteien rechts der SPD zeitigten den Plan, eine Regierung unter Ausschluß der Sozialdemokraten zu bilden44. In gleiche Richtung zielten offensichtlich auch die Absichten des beim Reichspräsidenten einflußreichen Generalmajors von Schleicher, der Hindenburg auf den neuen Fraktionsvorsitzenden des Zentrums, Brüning, als zukünftigen Kanzler aufmerksam machte45. Die seit dem Sommer 1929 schwelenden Streitigkeiten zwischen den Parteien über die Finanzierung und die Leistungen der Arbeitslosenversicherung führten am 27. März 1930 zum Rücktritt des Kabinetts Müller.

44

Anm. 6 zu Dok. Nr. 458.

45

Vgl. hierzu o. bei Anm. 23. Der Kontakt zwischen Schleicher und Brüning entstand wahrscheinlich im Herbst 1929 während der Diskussion um den Weiterbau der Panzerkreuzer, s. Dok. Nr. 362; außerdem Schleicher an Brüning, 14.12.29 (BA: Nachlaß Schleicher  76).

Die politische Aktivität des Reichspräsidenten, das bedeutet hier besonders das Verhalten des ehemaligen kaiserlichen Generalfeldmarschalls zu der unter einem sozialdemokratischen Kanzler stehenden Reichsregierung46, läßt sich ohne Kenntnis der Unterlagen aus dem Präsidialamt47 kaum aufzeigen. So viel erscheint aber doch sicher, daß sich Hindenburg nicht allein auf die Unterzeichnung der vom Reichstag gebilligten Gesetze beschränkt hat; sondern daß er das politische Geschehen verfolgt und sogar gelegentlich zugunsten des Kabinetts Müller interveniert hat: Nachdem es im Dezember 1928 zu einer Kontroverse zwischen dem Vorsitzenden des Staatsgerichtshofs Simons und der Reichsregierung gekommen war, trat der Reichspräsident dem Standpunkt des Kabinetts bei und versuchte außerdem, den Reichsgerichtspräsidenten von seinem Demissionsgesuch abzubringen, was freilich mißlang48. Im Dezember 1929 bemühte sich Hindenburg während der Finanzkrise um eine Vermittlung in den Auseinandersetzungen zwischen der Reichsregierung und dem Reichsbankpräsidenten und griff sogar mit der Autorität seiner Position ein, damit in den Vereinigten Staaten eine Reichsanleihe aufgenommen werden könne49. Als nach Abschluß der Youngplankonferenzen das Zentrum aus etatspolitischen Überlegungen zögerte, für das Reparationsabkommen einzutreten, gewann das Staatsoberhaupt den Fraktionsvorsitzenden Brüning für die Zustimmung50, wobei freilich[XX] von Hindenburg Zusicherungen gegeben wurden, die – wie die weitere politische Entwicklung vermuten läßt – bereits für die künftige Kanzlerschaft des Zentrumspolitikers und nicht für das derzeitige Kabinett gedacht waren51. In diese Krisensituation fiel auch der ergebnislose Versuch des Reichspräsidenten, die DVP für ein Notopfer der Festbesoldeten zu gewinnen, mit dem die Leistungsfähigkeit der Arbeitslosenversicherung erhalten werden sollte52. Die abweisende Haltung der DVP muß Hindenburg als eine Niederlage empfunden haben, da er in diesem Notopfer „den Gedanken der Volksgemeinschaft“ manifestiert gesehen hatte53. Um seine Loyalität gegenüber dem schon schwankenden Kabinett zu beweisen, teilte Hindenburg im Februar 1930 mit, daß er den DNVP-Vorsitzenden Hugenberg auf dessen Gesuch zu einer politischen Aussprache empfangen habe; gleichzeitig ließ der Reichspräsident wissen, daß er Brüning zu sich gebeten habe, den er als neuen Fraktionsführer des Zentrums habe kennenlernen wollen54. Diese Begegnung, die von Schleicher angeregt worden war, schuf die Voraussetzungen für die spätere Berufung Brünings zum Reichskanzler.

46

Über Müller soll Hindenburg gesagt haben, er „sei der beste Kanzler, den er je gehabt habe, und es sei schade, daß er Sozi sei“ (zit. aus dem Nachlaß Groener  bei Th. Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP, S. 65).

47

Dieser Bestand wird im Deutschen Zentralarchiv Potsdam verwahrt.

48

Es handelte sich um den Streit über die Prozeßführung in der Auseinandersetzung zwischen Reich und Ländern wegen der Besetzung des Reichsbahnverwaltungsrats. Zu Hindenburgs Verhalten s. Dok. Nr. 92, 97.

49

Dok. Nr. 387; 390.

50

Dok. Nr. 426, P. 2; 471. Siehe auch H. Pünder, Politik in der Reichskanzlei, S. 41 ff.; R. Morsey, Protokolle … der Deutschen Zentrumspartei, S. 377, 380, 413.

51

Siehe die Äußerung des StS Meissner in der Ministerbesprechung vom 27.3.20 (Dok. Nr. 489, P. 2); vgl. dazu auch die oben angeführte Äußerung Moldenhauers.

52

Anm. 2 zur Dok. Nr. 458; s. auch Pünder, Politik in der Reichskanzlei, S. 40 f.

53

Dok. Nr. 457, P. 1.

54

Dok. Nr. 445. Schon während der Regierungskrise im Frühjahr 1929 hatte der RPräs. mit Graf Westarp, dem Fraktionsführer der DNVP, die politische Lage besprochen; doch hatte ihm dieser keine Alternative zur Großen Koalition nennen können.

Neben sachlichen Momenten haben auch starke persönliche Motive die Haltung Hindenburgs zum Kabinett Müller II bestimmt. Das gilt zunächst einmal für die Unterstützung und Zustimmung zu wehrpolitischen Forderungen des Reichswehrministers. Während des Streits um den Panzerkreuzerbau im Jahr 1928 und anläßlich der Auseinandersetzungen um den Wehretat für das Jahr 1930 drohte Hindenburg sogar mit dem Rücktritt, falls Groeners Ansichten nicht die Billigung des Kabinetts fänden55. Besondere Aufmerksamkeit schenkte der Präsident ferner den Problemen der Landwirtschaft und den Verhältnissen in Ostpreußen, wobei er sich formal zwar auf Empfehlungen beschränkte; doch gewannen diese für das Kabinett, da die Interessen des Staatsoberhaupts und seine Beziehungen zu ostpreußischen Agrariern zu Tage lagen, ein erhebliches Gewicht56.

55

Dok. Nr. 64; 65; 445.

56

Dok. Nr. 157; 331; 385; 480; 482. Es ist bezeichnend, daß Müller einmal geklagt haben soll, „während der Präsident über alles andere verständig rede, werde er unsachlich, wenn von der ostelbischen Landwirtschaft gesprochen werde“ (R. Olden, Hindenburg – 1948 –, S. 222).

Mit verfassungsrechtlichen Bedenken begründete Hindenburg die Verzögerung seiner Unterschrift für ein Sperrgesetz, das die vermögensrechtlichen Verfahren mediatisierter Fürsten gegen den Staat einschränkte57, und für das Gesetz, durch das das Liquidationsabkommen mit Polen in Kraft treten sollte58.[XXI] In beiden Fällen ließ sich Hindenburg jedoch durch juristische Gutachten zur Unterzeichnung bestimmen. Die Verhandlungen über den Youngplan verfolgte der Reichspräsident mit Aufmerksamkeit und ließ Anfang August 1929 die deutsche Regierungsdelegation auf die Möglichkeit aufmerksam machen, daß er sein Amt zur Verfügung stelle, falls ihm die Anforderungen der Gläubigerstaaten und die politischen Bedingungen unerträglich erscheinen sollten. Doch Staatssekretär Pünder konnte nachweisen, daß die politischen Vorstellungen des Reichspräsidenten und die Bestrebungen des Kabinetts in den Fragen der Reparationspolitik und der Räumungsforderungen übereinstimmten59. Da Hindenburg zu vermeiden suchte, in den Sog der parteipolitischen Auseinandersetzungen zu geraten, legte er ausdrücklich Wert darauf, daß seine Person aus der Agitation für und wider den Youngplan herausgelassen werde60. Allerdings erhob er keinen Einwand, als der „Stahlhelm“ sich mit der Bitte um Hilfe an ihn wandte, als dessen westfälischer Landesverband verboten wurde61. Die politische Unruhe und wachsende Radikalität dürften schließlich dazu beigetragen haben, daß der Reichspräsident unter dem Einfluß Schleichers sich von der Großen Koalition distanzierte und erwartete, daß eine Regierung ohne Beteiligung der Sozialdemokraten die anstehenden Probleme in seinem Sinne lösen werde.

57

Dok. Nr. 240, P. 1. Wie weit hier auch die unbestrittene monarchistische Grundeinstellung Hindenburgs eine Rolle gespielt haben wird, läßt sich im Rahmen einer Edition nicht verfolgen. Das gilt gleichfalls für seine Haltung zum Republikschutzgesetz (Anm. 1 zu Dok. Nr. 215).

58

Dok. Nr. 475; 478, P. 3.

59

Dok. Nr. 260, 269. Über Hindenburgs Ansichten zur 2. Haager Konferenz s. Dok. Nr. 408. Es ist nicht uninteressant, daß der Reichspräsident von der Argumentation Schachts beeindruckt worden ist (s. Dok. Nr. 466), dann aber die Youngplan-Gesetze trotz aller Anfeindungen unterschrieb, als sie im RT eine starke Mehrheit gefunden hatten.

60

Dok. Nr. 321.

61

Dok. Nr. 333. Zu Beginn des Jahres 1929 hatte der RPräs., der dem Stahlhelm als Ehrenmitglied angehörte, noch versucht, gleichzeitig den RIM über diese Organisation zu beruhigen und auf den verfassungsfeindlichen Verband selbst mäßigend einzuwirken (Dok. Nr. 136).

Das Scheitern des Kabinetts Müller im März 1930 darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Regierung während ihrer Amtszeit auch Erfolge verzeichnen konnte und zwar dort, wo zwischen den Parteien der Großen Koalition im wesentlichen Übereinstimmung herrschte, d. h. im Bereich der Außenpolitik, der auch in diesem Kabinett das Primat zukam. Die Voraussetzungen für diese Außenpolitik, die hier nur in dem Umfang skizziert werden soll, in dem sie für die Gesamtpolitik des Kabinetts relevant geworden ist, mußte günstig erscheinen. Die mittlere Phase der Weimarer Republik war primär durch die von den demokratischen Kräften getragene Außenpolitik Stresemanns, mit der er die völlige Wiederherstellung der deutschen Souveränität erlangen wollte, bestimmt worden. Die Schiedsabkommen von Locarno und die Zugehörigkeit Deutschlands zum Völkerbund, die der Außenminister in jener Zeit erreicht hatte, bildeten den Ausgangspunkt und die Grundlage für weiterführende Verhandlungen; denn noch war das Rheinland besetzt, was im doppelten Interesse Frankreichs lag, das einmal ein wiedererstarktes Deutschland als potentiellen militärischen Gegner fürchtete und zugleich in der Besetzung eine Garantie für die deutschen Reparationsleistungen erblickte62.

62

Siehe hierzu wie überhaupt zur Reparations- und Räumungsfrage „Die Entstehung des Youngplans“ (Schriftenreihe des Bundesarchivs, Bd. 15).

[XXII] Der erste außenpolitische Akt des Kabinetts Müller erschien geeignet, wenigstens die militärischen Besorgnisse in Frankreich zu beschwichtigen. Das Kabinett beschloß Anfang Juli 1928 endgültig die Unterzeichnung des Kriegsächtungspaktes, der seit dem Jahr 1927 von dem französischen Außenminister Briand und dem amerikanischen Staatssekretär Kellogg vorbereitet worden war63. Zur Leistung der Unterschrift reiste Außenminister Stresemann im August nach Paris und benutzte den Aufenthalt in der französischen Hauptstadt, um mit Ministerpräsident Poincaré und Außenminister Briand den vorzeitigen Abzug der Besatzungstruppen und die Lösung des Reparationsproblems zu erörtern64. Während die deutsche Seite den Standpunkt vertrat, daß die Räumung des besetzten Gebietes und die Lösung des Reparationsproblems zwei getrennt zu behandelnde Themen seien, herrschte in Frankreich die Meinung vor, daß über sie nur gemeinsam verhandelt werden dürfe. Obwohl dieser Standpunkt der französischen Regierung dem deutschen Kabinett bekannt war, beschloß es noch vor der Parisreise des Außenministers, der Reichskanzler solle in Genf, wo er den kranken Außenminister zu vertreten hatte, am Rande der Völkerbundstagung vornehmlich auf die Räumung des Rheinlandes hinarbeiten65.

63

Dok. Nr. 7, P. 2.

64

Siehe Stresemann, Vermächtnis III, S. 354 ff.

65

Dok. Nr. 18, P. 1.

Die Niederschriften der wichtigsten Besprechungen des Reichskanzlers in Genf zeigen, wie sich der Gegensatz der Anschauungen zwischen Müller und den Vertretern der anderen Mächte (Belgien, Frankreich, Großbritannien, Italien und Japan) verhärtete. Mit der gleichen Intensität, mit der Müller Räumung und Reparationen als zwei getrennte Komplexe zu behandeln versuchte, beharrten seine Gesprächspartner auf deren Zusammengehörigkeit66. Das Kabinett in Berlin konnte sich nicht der Erkenntnis entziehen, daß ohne Lösung des Reparationsproblems an eine vorzeitige Räumung des Rheinlandes nicht zu denken sei. Außerdem ließ sich die Forderung Briands nicht umgehen, zu gegebener Zeit über die Einsetzung einer Feststellungs- und Versöhnungskommission zu verhandeln, die nach dem Abzug der Besatzungstruppen die entmilitarisierte Zone überwachen und Streitfragen ohne Einschaltung des Völkerbundes regeln sollte67.

66

Dok. Nr. 20; 21, 23; 28.

67

Dok. Nr. 25; 26; 30; 31.

Ein weiteres Problem, das sich bereits während der Genfer Besprechungen abzeichnete und bei den weiteren Verhandlungen immer größere Bedeutung erhielt, war die Verflechtung der deutschen Wiedergutmachungsleistungen mit den alliierten Schulden68. Sowohl der französische wie der belgische Außenminister stellten in Genf gegenüber dem Reichskanzler fest, die jährlichen Reparationsleistungen Deutschlands müßten in einer Höhe, die die Zahlungsverpflichtungen beider Länder gegenüber Großbritannien und den Vereinigten Staaten decke, aufgebracht werden69.

68

Dok. Nr. 29.

69

Dok. Nr. 23.

[XXIII] Von Oktober bis Dezember 1928 war es die vornehmste außenpolitische Aufgabe des deutschen Kabinetts, die Einberufung der in Genf beschlossenen Konferenz von Wirtschaftsexperten zu betreiben, durch die ein Gutachten zur Lösung des Reparationsproblems den Regierungen unterbreitet werden sollte70. Bei diesen Besprechungen des Kabinetts erwies sich die Zusammenarbeit mit dem Reparationsagenten Parker Gilbert als notwendig, der vermittelnd in die Erörterungen zwischen Deutschland und den Gläubigerstaaten eingriff, die im voraus finanzielle Zusicherungen von der Reichsregierung erwarteten. Zudem wollte Frankreich die Sachverständigen von politischen Weisungen abhängig machen71. In Großbritannien dagegen stand das Schatzamt auf dem Standpunkt, eine Abänderung des Dawesplanes sei nicht erforderlich72. Die Washingtoner Regierung schließlich lehnte jede Einmischung in innereuropäische Angelegenheiten ab, so daß die Sachverständigen aus den Vereinigten Staaten nur als „Privatpersonen“ herangezogen werden konnten73.

70

Dok. Nr. 35; 36; 38; 45; 49; 51; 55, P. 1; 74; 79, P. 3; 80.

71

Dok. Nr. 35; 39; 51; 55; 68, P. 1; 79, P. 3; 80.

72

Dok. Nr. 35; 38; 45; 49; 51; 68, P. 1; 79, P. 3.

73

Dok. Nr. 49; 51; 71; 80; 81, P. 2.

Nach langwierigen Verhandlungen über die Stellung der Sachverständigen zu ihren Regierungen sowie über die Aufgabenstellung („terms of reference“) für die Konferenz erzielte die deutsche Regierung Mitte Dezember eine Einigung mit den Regierungen in Paris und London74. Anfang Januar berief das Kabinett Müller die deutschen Sachverständigen für die Besprechungen75, die am 9. Februar unter Vorsitz des Amerikaners Owen Young eröffnet und am 7. Juni mit der Unterzeichnung des Neuen Plans, der unter dem Namen des Konferenzvorsitzenden bekannt wurde, ihren Abschluß fanden76.

74

Dok. Nr. 91.

75

Dok. Nr. 99.

76

Für die reparationspolitische Situation zum Zeitpunkt der Unterzeichnung s. Dok. Nr. 210; 212; 217; 222; 224; 225.

Die Reichsregierung verzichtete zunächst darauf, den deutschen Delegierten (Schacht, Vögler, Kastl und Melchior) Weisungen für die Verhandlungen zu erteilen, da die Sachverständigen völlig unabhängig arbeiten sollten. Das Kabinett sah sich allerdings genötigt, seine Zurückhaltung aufzugeben und der deutschen Delegation die Stellungnahme der Regierung mitzuteilen, als die deutschen Sachverständigen im Widerspruch zu ihrer Aufgabe mit den wirtschaftlichen auch rein politische Fragen verknüpften und die Rückgabe des polnischen Korridors und deutscher Kolonien forderten77. Aus Rücksichtnahme auf die innerpolitischen Erfordernisse war die Regierung auch eher als die Delegation dazu bereit, auf den Zahlungsplan der Gegenseite einzugehen78. Anfang Mai beschloß dann das Kabinett auf Grund der angespannten Haushaltslage, den deutschen Delegierten die Annahme der Zahlungsvorschläge, die Owen Young erarbeitet hatte, nahezulegen, wobei die letzte Entscheidung den deutschen Sachverständigen belassen wurde – ein Entschluß, der bis zum Ende der Sachverständigenkonferenz trotz weiterer regierungsinterner Beratungen und Empfehlungen an[XXIV] die Delegation aufrecht erhalten wurde79. In dieser Phase der reparationspolitischen Entwicklung trat der Delegierte Vögler zurück, da ihm die für die Unterzeichnung notwendigen deutschen Verpflichtungen untragbar und die Revisionsmöglichkeiten des Plans zu gering erschienen. Zu diesem Entschluß trugen auch Äußerungen aus dem Vorstand des Reichsverbands der deutschen Industrie bei, in denen die alliierten Reparationsvorstellungen zurückgewiesen wurden. Um eine Krise der Konferenz zu verhindern, ernannte das Kabinett als neuen Hauptdelegierten Vöglers bisherigen Stellvertreter Kastl80.

77

Dok. Nr. 139; 173175189.

78

Dok. Nr. 152; 160; 161; 164; 173175177; 185.

79

Dok. Nr. 190192; 194196; 197, P. 2; 198200205; 206; 210; 211; 217; 222.

80

Dok. Nr. 177; 203; 205; 206. Einer der wesentlichen Sprecher gegen das Reparationsabkommen im RdI war der Industrielle Fritz Thyssen, der sich vom Juni 1929 an aktiv im Reichsausschuß für das Volksbegehren gegen den Youngplan beteiligte (s. auch Dok. Nr. 253).

Noch vor dem Ausscheiden Vöglers war es zu Spannungen zwischen dem Kabinett und dem Reichsbankpräsidenten Schacht gekommen, der der Behauptung der Gläubigervertreter Glauben zu schenken schien, daß das deutsche Kabinett noch vor Konferenzbeginn sich zu Zahlungen in Höhe von 2 Milliarden RM jährlich bereiterklärt habe. Die Regierung und besonders Außenminister Stresemann, gegen den sich Schachts Vorwürfe hauptsächlich richteten, wiesen alle derartigen Äußerungen als unwahr zurück81.

81

Zur Vorgeschichte und zum Verlauf s. Dok. Nr. 45; 50; 70, P. 1; 130; 184; 185; 188; 190. Diese Auseinandersetzung leitete den folgenschweren Konflikt zwischen Reichsregierung und Reichsbankpräsidenten ein (s. auch Dok. Nr. 199).

In die Zeit der Sachverständigenverhandlungen fallen auch die Auseinandersetzungen zwischen Belgien und Deutschland über die Regelung der Markfrage, d. h. über die Einlösung des von der deutschen Besatzung während des Krieges in Belgien ausgegebenen Geldes, und über die Rückgabe der Kreise Eupen und Malmedy. In Deutschland wurde die Ansicht vertreten, daß nach dem Londoner Abkommen von 1924 Belgien keine finanziellen Zugeständnisse erwarten dürfe. Doch schon während der Genfer Sechsmächtebesprechungen hatte Außenminister Hymans gefordert, daß die Markfrage parallel zur Sachverständigenkonferenz behandelt werde82. In Paris drängte im Frühjahr 1929 der belgische Delegierte Francqui den Reichsbankpräsidenten zu Besprechungen, so daß sich dieser vom Auswärtigen Amt Verhandlungsvollmacht erteilen ließ83. Die Gespräche blieben aber ergebnislos, da der belgische Vertreter die Ausgangsposition Schachts verwarf, der als Gegenleistung für eine Markentschädigung die Rückgabe Eupen-Malmedys forderte. Schließlich drohte die belgische Delegation, sie werde das Sachverständigengutachten nur dann unterzeichnen, wenn in der Markfrage eine Einigung erzielt worden sei. In Übereinstimmung mit der Reichsregierung gab Schacht daraufhin seine Verhandlungsvollmacht zurück, und da das Kabinett erkannt hatte, eine Auslösung Eupen-Malmedys werde nicht gelingen, ließ es vom Auswärtigen Amt die weiteren Verhandlungen führen, die sich auf das finanzielle Problem beschränkten. Daraufhin war die belgische Delegation zur Unterzeichnung des Sachverständigenplans bereit84. Im Juli 1929 wurde ein Abkommen über die Entschädigung getroffen und gleichzeitig eine Vereinbarung[XXV] über die Beendigung der Liquidationen deutschen Eigentums in Belgien85. Dieses Liquidationsabkommen wurde für die deutsche Regierung zur Grundlage entsprechender Verhandlungen mit anderen Staaten in den folgenden Monaten.

82

Dok. Nr. 18, P. 1; Anm. 2 zu Dok. Nr. 49.

83

Dok. Nr. 145; 152.

84

Dok. Nr. 161; 203; 206; 209212; 214, P. 1.

85

Dok. Nr. 222; 235; 248, P. 2; 255.

Der Eupen-Malmedy-Komplex tauchte nach der ersten Haager Reparationskonferenz noch einmal im Oktober und November 1929 auf anläßlich der Kommissionssitzungen in Baden-Baden zur Gründung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Wenn die beiden Grenzkreise nicht an Deutschland zurückgegeben würden, könne Brüssel auch nicht Sitz der Bank werden, erklärte eigenmächtig der Reichsbankpräsident. Trotz der Verärgerung der belgischen Delegation, daß tatsächlich Basel anstatt Brüssel zum Sitz der Internationalen Bank gemacht wurde, konnten aber die Baden-Badener Verhandlungen zum Abschluß gebracht werden86.

86

Dok. Nr. 335; 337; 345; 346.

Auf die Unterzeichnung des Pariser Sachverständigengutachtens am 7. Juni 1929 folgten im August 1929 und im Januar 1930 im Haag zwei Konferenzen, auf denen von Regierungsdelegationen die wirtschaftlichen Ergebnisse des Youngplans mit den Forderungen der Gläubigerstaaten und den Interessen Deutschlands in Übereinstimmung gebracht werden sollte87. Obwohl die Regierungen nach zähen Verhandlungen im Spätsommer 1929 grundsätzlich der Annahme des Sachverständigenplans zustimmten, kam noch keine endgültige Einigung zustande, da von den Gläubigerstaaten finanzielle Forderungen erhoben wurden, die in ihrem Umfang und durch Verschiebungen innerhalb des Zahlungsschemas vom ursprünglichen Youngplan abwichen. Reichsbankpräsident Schacht, der in den Pariser Ergebnissen die äußerste Belastung der deutschen Leistungsfähigkeit erblickte, riet daraufhin, die Verhandlungen abzubrechen. Doch diesen Entschluß vermochte die deutsche Delegation nicht zu fassen, einmal aus finanzpolitischen Erwägungen, dann aber auch weil sie befürchtete, daß dadurch die erstrebte Räumung des Rheinlandes durch die Besatzungstruppen verhindert werde88. Und in dem Zugeständnis der vorzeitigen Räumung lag der eigentliche Erfolg der ersten Haager Konferenz. Nachdem Großbritannien und Belgien ihre Bereitschaft zum Truppenabzug erklärt hatten, erreichte Außenminister Stresemann, daß auch Briand schließlich einen verbindlichen Termin nannte, zu dem die Franzosen das Rheinland verlassen sollten89. Außerdem gelang es Stresemann, die französische Regierung für Verhandlungen über eine Rückgliederung des Saargebiets vor dem Jahr 1935 zu gewinnen90; allerdings endeten[XXVI] diese Verhandlungen im Jahr 1930 ergebnislos91. Praktisch schloß die erste Haager Konferenz das außenpolitische Werk Stresemanns ab, da er in diplomatischen Verhandlungen ein wesentliches Ziel seiner Arbeit, die Befreiung des Rheinlandes, erreicht hatte.

87

Zum Abschluß der Pariser Verhandlungen s. Dok. Nr. 225; 226; 228; 230; 256 und zur Vorbereitung der ersten politischen Konferenz im Haag Dok. Nr. 231; 233; 237; 244247; 248, P. 2; 249; 251, P. 1.; 252; 257260.

88

Zu Schachts Bedenken s. Dok. Nr. 279, ferner zum Ablauf der Konferenz Dok. Nr. 269; 281; 311. Überschattet wurden die Haager Verhandlungen von der Krise im Kabinett und zwischen den Koalitionsparteien, die aus der beabsichtigten Reform der ALV erwachsen war.

89

Siehe Anm. 1 zu Dok. Nr. 281; vgl. hierzu auch „Die Entstehung des Youngplans“, Teil III (Schriftenreihe des Bundesarchivs, Bd. 15). Die Sorgen, daß sich die Verschiebung der zweiten Haager Konferenz auf den Räumungstermin auswirken würde (Dok. Nr. 355, P. 1), erwiesen sich nachträglich als unberechtigt.

90

Dok. Nr. 269; 275.

91

Die Verhandlungen waren spezifisch wirtschaftspolitisch ausgerichtet, dabei zeigte sich, daß die Ansichten der RReg. und deutscher Industrieller divergierten (Dok. Nr. 293; 294, P. 1; 360; 430, P. 1).

Zur Vorbereitung der noch ungelösten Probleme für die zweite Verhandlungsrunde und zur „Liquidierung der Vergangenheit“ wurden mehrere Unterausschüsse gebildet, deren Arbeit sich wider Erwarten lang, nämlich bis in den Dezember 1929, hinzog92. Das deutsche Kabinett hatte an die Lösung der Reparationsfrage finanzpolitische Erwartungen geknüpft und vor allem eine Entlastung des Haushalts für das laufende Rechnungsjahr erwartet. Diese Hoffnungen mußten nun reduziert bzw. zurückgestellt werden93. Die Verknüpfung der Reparations- mit der Finanzpolitik erschwerte den innenpolitischen Standpunkt des Kabinetts, das sich scharfen Angriffen der rechten und linken Opposition ausgesetzt sah, zugleich aber auch erkennen mußte, daß die Empfehlungen des Youngplans von den Verhandlungspartnern nur auf Grund deutscher Zugeständnisse gebilligt werden würden. Am deutlichsten zeigte sich das an den Überschüssen, die von Großbritannien bei der Liquidation deutschen Eigentums erzielt worden waren. Während die Reichsregierung die Forderung erhob, diese die Reparationsverpflichtungen übersteigenden Gewinne Deutschland zu überlassen, lehnte die britische Regierung jede Verhandlung über diesen Komplex ab und drohte mit Konsequenzen für die zweite Haager Konferenz, falls die deutsche Seite ihr Anliegen weiterhin verfolge94.

92

Dok. Nr. 294, P. 5; 306, P. 3; 330, P. 2; 332; 335; 340; 344, P. 1; 345; 346; 361, P. 1; 366.

93

Dok. Nr. 355, P. 1.

94

Dok. Nr. 306, P. 3; 361, P. 4; 365, P. 9.

Mittlerweile hatten die Reparationsverhandlungen in Deutschland eine vom Kabinett in dieser Heftigkeit wohl kaum erwartete kritische Resonanz gefunden. Begonnen hatte die Kritik bereits Ende Mai 1929, als noch vor dem Ende der Sachverständigenkonferenz die deutschnationale „Kreuzzeitung“ den Ministern Stresemann und Hilferding vorgeworfen hatte, von ihnen seien Presseangriffe gegen das ausgeschiedene Delegationsmitglied Vögler lanciert worden. Dann schlossen sich DNVP, Stahlhelm und NSDAP zusammen, um durch Volksbegehren und -entscheid den Youngplan zu Fall zu bringen; aber auch Wirtschaftsverbände, Studentenschaften und Jugendgruppen protestierten gegen den Sachverständigenplan und seine politische Verwirklichung95. Durch einen frühzeitigen Pressefeldzug hätte die Reichsregierung möglicherweise die Angriffe auf den Youngplan auffangen und kanalisieren können, aber auf die Vorstellungen der deutschen Sachverständigen hin hatte das Kabinett nach den Pariser Verhandlungen davon abgesehen, deren Ergebnisse zu verteidigen, damit die Gläubigerstaaten nicht aus einer positiven Reaktion des Kabinetts den Schluß ziehen sollten, Deutschland sei zu höheren finanziellen Leistungen, als im Youngplan[XXVII] vorgesehen, fähig96. Damit war den Gegnern des Youngplans zunächst die Möglichkeit zu ungehinderter Agitation gegeben.

95

Dok. Nr. 208, P. 3; 238; 242; 243; 253; 319; 320.

96

Dok. Nr. 225. Überhaupt vertrat das RKab. den Standpunkt, daß auch eine parlamentarische Behandlung des Youngplans, solange die Verhandlungen andauerten, ausgeschlossen sei (Dok. Nr. 214, P. 3; 228; 238, P. 2; 342, P. 1).

Die rechtsradikalen Gegner des Sachverständigengutachtens verbanden publikumswirksam ihre Kritik mit dem Kriegsschuldartikel, den sie ebenso ablehnten wie die hieraus abgeleitete Reparationsverpflichtung; sie forderten die Zuchthausstrafe für deutsche Politiker, die sich für die Annahme des Youngplans oder ähnlicher Regelungen einsetzen würden. Propagandistisch geschickt wurde in die Agitation gegen den Youngplan die wirtschaftliche Rezession einbezogen, so daß Außen- und Innenpolitik fest ineinander verflochten erschienen; und Innenminister Severing wies darauf hin, daß insbesondere die Nationalsozialisten sich nicht nur gegen den Youngplan wendeten, sondern darüber hinaus das Verfassungssystem untergraben wollten97. Obwohl die Regierung mehrere Wochen der radikalen Agitation das Feld überließ, konnte sie durch die umstrittene Rührigkeit Severings und die von ihm angeregte Propagandakampagne doch noch erreichen, daß sich die Masse der Bevölkerung vom Volksbegehren fernhielt und danach auch den Volksentscheid ohne Beachtung ließ, so daß er zu einem negativen Resultat für seine Initiatoren führte98. Das Bewußtsein der Regierungsparteien, daß nach den gleichzeitigen Kämpfen um die Arbeitslosenversicherung in diesen Krisenwochen keine spektakulären Auseinandersetzungen der Koalition zusätzlich vor die Öffentlichkeit gebracht werden dürften, trug dazu bei, daß die Gegensätze, die zu diesem Zeitpunkt über die Behandlung der Reform der Ehescheidung im Strafrechtsausschuß mit dem Zentrum entstanden waren, dennoch nicht zu einer Bedrohung für den Bestand des Kabinetts wurden99.

97

Dok. Nr. 253; 340; 361, P. 1.

98

Dok. Nr. 299; 317; 322; 325; 326; 352; 372, P. 2; 407; 410. Nicht unwesentlich dürfte sich auf das Ergebnis von Volksbegehren und -entscheid der Beschluß ausgewirkt haben, daß Beamte, die sich an diesen Plebisziten beteiligen würden, disziplinarische Maßnahmen zu gewärtigen hätten (Dok. Nr. 327; 328; 465).

99

Dok. Nr. 342, P. 4; 343.

Ohne direkte Auswirkung auf den Volksentscheid blieb eine Aktion des Reichsbankpräsidenten, der sich durch den Gang der Verhandlungen über den Youngplan in seinen Erwartungen getäuscht sah und – für das Kabinett völlig unerwartet100 – in einer Denkschrift seine von der Regierungspolitik abweichende Stellungnahme mit scharfen Angriffen auf die Entwicklung seit der Unterzeichnung des Sachverständigenberichts begründete101. Trotz seiner fundamentalen Kritik beharrte die Regierung auf einem Übereinkommen mit den Gläubigerstaaten und lehnte die Rückkehr bzw. Beibehaltung des Dawesplanes[XXVIII] von 1924 ab, da sie auf Grund der finanz- und wirtschaftspolitischen Situation gezwungen war, die Erleichterungen die der Youngplan gerade für die Anfangsjahre bot, wahrzunehmen. Auch nachdem es vorübergehend wieder zu einem Gespräch zwischen Reichsregierung und Reichsbankpräsident gekommen war, blieben die Differenzen in den reparationspolitischen Anschauungen unverrückbar bestehen, und Schacht ließ sich bei den Vorbereitungen zur 2. Haager Konferenz nicht dazu bewegen, als einer der Hauptdelegierten aufzutreten102.

100

Das Verhältnis zwischen RbkPräs. Schacht und der RReg. hatte sich – auch bedingt durch die Finanzpolitik Hilferdings – seit den Pariser Verhandlungen in zunehmendem Maße verschlechtert; dennoch hatte die RReg. nicht erwartet, daß sie von Schacht desavouiert werde, da er noch im November auf seine Teilnahme an der 2. Haager Konferenz gedrängt hatte (Dok. Nr. 346; 367, 370).

101

Dok. Nr. 369 (in den Anmerkungen die Entgegnungen durch Schachts Delegationskollegen Kastl und Melchior sowie durch MinDir. Schäffer); Dok. Nr. 371, P. 1; 372, P. 1.

102

Dok. Nr. 369; 371; 372; 400402404.

Die zweite Haager Konferenz stand im Zeichen der vergeblichen Versuche der Gläubigerstaaten, erhöhte Zahlungen von Deutschland zu erlangen und eine Revision des Vertrages auszuschließen. Dann aber wirkte sich auch der Kampf der rechtsradikalen deutschen Gruppen gegen den Youngplan dahin aus, daß für den Fall der Ungültigkeitserklärung des Abkommens durch eine deutsche Regierung die Gläubigerstaaten Handlungsfreiheit gewannen, allerdings dahin eingeschränkt, daß diese nur in Übereinstimmung mit dem Kellogg-Pakt und dem Völkerbund anzuwenden war103. Erschwert wurden die Verhandlungen für die deutsche Delegation durch den Reichsbankpräsidenten, der alles daran setzte – auch über die zweite Haager Konferenz hinaus –, seine eigenen Vorstellungen der Reparationslösung durchzusetzen, aber damit scheiterte, so daß er schließlich, wegen seiner politischen Eigenwilligkeit ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, sein Amt mit der Begründung niederlegte, daß er die Geschäfte der Reichsbank unter den neuen Reparationsbestimmungen nicht mehr verantwortlich weiterzuführen vermöge104.

103

Dok. Nr. 408; 411; 415; 417, P. 1; 419; 424; 426, P. 1.

104

Dok. Nr. 406; 416; 417, P. 1; 418; 420; 421; 425; 427; 431; 460, P. 1; 468.

Obwohl die deutsche Delegation von der zweiten Haager Konferenz mit dem Eindruck zurückkehrte, daß sie ihren Standpunkt erfolgreich gegen alle Angriffe gewahrt habe, gab es nicht nur bei den Oppositionsparteien, sondern auch im Regierungslager Stimmen, die gegenüber dem Neuen Plan Bedenken äußerten. Neben der BVP war es besonders das Zentrum, das durch die Erklärung, nur nach Annahme des Haushaltsplans für 1930 dem Reparationsabkommen zuzustimmen, seiner skeptischen Beurteilung Ausdruck gab und die Verhandlungsergebnisse in Gefahr geraten ließ. Erst das Eingreifen des Reichspräsidenten führte dazu, daß der Youngplan dann doch im Reichstag mit großer Mehrheit, aber ohne die Stimmen der aus steuerpolitischen Gründen verärgerten BVP, angenommen wurde105. Damit hatte das Kabinett seine wichtigste außenpolitische Aufgabe, um deretwillen die Große Koalition wahrscheinlich überhaupt gebildet worden war, erfüllt. Zwei Wochen später trat das Kabinett nach vergeblichen Mühen, in der Frage der Arbeitslosenversicherungsreform eine Einigung zu erzielen, zurück.

105

Dok. Nr. 420; 423; 426, P. 2; 437; 455 (Nachmittagssitzung); 469; 470; 471; 474; 478, P. 2. Zum Verhalten des Zentrums s. die Fraktionsprotokolle der Reichstagsfraktion (hg. v. R. Morsey).

Zeitlich parallel zu den Reparationsverhandlungen und zumindest in der Endphase im Zusammenhang mit ihnen fanden die deutsch-polnischen Bespre-[XXIX] chungen über einen Handelsvertrag und die Beendigung der Liquidationen deutschen Eigentums in Polen statt:

Die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland litten unter den Bestimmungen des Versailler Vertrags, denen zufolge dem wiedergegründeten polnischen Staat Gebiete Preußens zugesprochen worden waren. Auf deutscher Seite sind diese Abtrennungen niemals voll anerkannt worden, und alle Versuche Polens, ein „Ostlocarno“ und damit die Garantie seiner Westgrenzen durch Deutschland zu erlangen, waren fehlgeschlagen106. Trugen deshalb die Polen Sorge wegen eines militärischen Konflikts, so befürchtete man in Deutschland, daß Polen seinen Gebietsstand durch einen Angriff auf Ostpreußen konsolidieren wolle107. Ein weiterer Stein des Anstoßes war die polnische Politik gegenüber der deutschen Minderheit. Gemeinsam mit Außenminister Stresemann vertrat das Kabinett Müller die Ansicht, daß die Assimilation von nationalen Minoritäten an ihre Umgebung grundsätzlich abzulehnen sei. Um eine objektive Behandlung der Beschwerden von Minderheiten vor dem Völkerbund sicherzustellen, setzte Stresemann durch, daß sich im Juni 1929 der Völkerbundsrat in Madrid ausführlich mit diesem Fragenkreis beschäftigte108. In den folgenden Monaten verlor dann aber das Minoritätenproblem gegenüber den Fragen der Reparationspolitik derart an Bedeutung109, daß es im Kabinett nicht mehr zur Sprache gelangte.

106

Die ablehnende Haltung gegenüber diesen polnischen Bestrebungen zieht sich auch durch die Regierungszeit des Kabinetts Müller II: Dok. Nr. 33, P. 1; 441; 453.

107

RWeM Groener sah daneben auch in der Zuwanderung von Polen in den schwach besiedelten östlichen Grenzgebieten Deutschlands eine gefährliche Verstärkung des polnischen Einflusses und befürwortete daher die Ansiedlung entlassener Reichswehrsoldaten (Dok. Nr. 115).

108

Dok. Nr. 33, P. 1; 96, P. 1; 137, P. 1; 170, P. 2; 141, P. 1; 222; 224; 233.

109

In dieser Hinsicht äußerte sich auch StS Pünder gegenüber dem RK in einem Schreiben aus Madrid (Dok. Nr. 224).

Trotz der Gegensätze zwischen Außenminister Stresemann und seinem polnischen Kollegen Zaleski in der Minderheitenfrage110 und der hieraus erwachsenden Belastung in den gegenseitigen Beziehungen bestand bei den Regierungen in Berlin und Warschau der Wunsch, das Verhältnis der beiden Staaten zueinander wenigstens „korrekt“ zu gestalten111; daher hatte auch das Reichskabinett beschlossen, die schwebenden Handelsvertragsverhandlungen wieder aufzunehmen. Sie waren im Frühjahr 1928 unterbrochen worden, als eine polnische Grenzzonenverordnung den Eindruck erweckt hatte, daß sie vor allem gegen die deutsche Minderheit gerichtet sei112. Diese nun von der Reichsregierung wieder aufgenommenen Handelsvertragsverhandlungen führten zu einer deutlichen Frontbildung im Kabinett. Ernährungsminister Dietrich und der deutsche Delegationsführer Hermes, die die Interessen der deutschen Landwirtschaft verteidigten, standen den Ressorts des Auswärtigen, der Finanzen und der Wirtschaft gegenüber, die einen Vertragsabschluß begünstigten, in dem die polnischen Exportwünsche für Vieh, Fleisch und Kohlen berücksichtigt[XXX] wurden, damit als Gegenleistung der deutschen Industrie ein neues Absatzgebiet gesichert werde113. Erschwert waren die Verhandlungen bis ins Frühjahr 1929 durch polnische Forderungen, die den deutschen Gesprächspartnern überhöht erschienen, und durch die Tendenz der polnischen Regierung, aus außenpolitischen Erwägungen eine neue Unterbrechung der Gespräche herbeizuführen. Hinzu kam das Verhalten der deutschen Landwirtschaftsverbände, die sich gegen Zugeständnisse wandten, die Hermes den Polen zu machen bereit war114.

110

Dok. Nr. 96, P. 1; 224.

111

Direkt ausgesprochen wurde dies von RK Müller und dem polnischen Außenminister Zaleski bei ihrer Begegnung in Genf im September 1928 (Dok. Nr. 22).

112

Dok. Nr. 7, P. 1; 22; Anm. 7 zu Dok. Nr. 430.

113

Dok. Nr. 39, P. 1; 41, P. 1; 43; 54; 55, P. 2; 250; 310, P. 2. Ein ähnlicher Gegensatz bestand in Preußen zwischen dem Ministerpräsidenten und dem Landwirtschaftsminister.

114

Dok. Nr. 43; 54; 60, P. 2; 78, P. 1; 154, P. 1; 208, P. 1.

Dem Auswärtigen Amt kam diese Stagnation ungelegen, da dort befürchtet wurde, daß die polnische Seite in unerwünschter Weise den Handelsvertrag mit den Verhandlungen verbinden werde, die dem „Generalausgleich“, d. h. der Regelung der gegenseitigen finanziellen Ansprüche, den Liquidationen deutschen Eigentums und dem polnischen Wiederkaufsrecht bei deutschem Grundbesitz galten. Daher wurden Anstrengungen unternommen, die Gespräche über den Handelsvertrag wieder in Gang zu bringen und zu einem Abschluß zu führen. Doch mußte nun das deutsche Kabinett erkennen, daß Hermes einerseits die Zeit für Schlußverhandlungen noch nicht gekommen hielt und andererseits auch dem polnischen Wunsch auf kontinuierliche Verhandlungen widersprach. Damit stellte sich die Frage, ob er überhaupt noch geeignet war, die deutsche Delegation weiterhin zu leiten115.

115

Dok. Nr. 208, P. 1; 214, P. 2; 239, P. 1; 241; 250; 251, P. 2.

Die Verflechtung der handelspolitischen Fragen mit dem Generalausgleich veranlaßte schließlich das Auswärtige Amt, das befürchtete, es werde sich andernfalls eine polenfreundliche Front der Gläubigerstaaten gegen die deutschen Ansprüche bilden, auf ein Zwischenabkommen mit dem Ziel einer de-facto-Meistbegünstigung zu drängen; an dessen Aushandlung wurde Hermes trotz seines Anerbietens nicht mehr beteiligt. Aus Protest gegen die Vermischung wirtschaftlicher und allgemeinpolitischer Belange legte er daraufhin die Delegationsführung nieder. In intensiven Verhandlungen gelang es dem deutschen Gesandten in Warschau, Rauscher, noch im Herbst 1929 mit Polen eine Verständigung über den Generalausgleich und Fortschritte in der Behandlung des Handelsvertrags zu erzielen116.

116

Dok. Nr. 294, P. 3; 301; 306, P. 3; 310, P. 2; 329; 358; 365, P. 6; 405, P. 3; 417, P. 2; 443, P. 7; 453.

Der Versuch der polnischen Regierung, durch ein Junktim das Liquidationsabkommen mit dem Youngplan zu verbinden, scheiterte zwar; doch das deutsche Kabinett war der Meinung, daß ernsthafte außenpolitische Schwierigkeiten entstehen könnten, wenn nicht eine gleichzeitige Verabschiedung im Reichstag erfolge. Mit dieser Haltung setzte sie sich auch gegenüber den Kritikern des Vertrags im Reichsrat (Preußen und Sachsen) und in der Koalition (BVP, DVP und insbesondere das Zentrum) durch. Nachdem der Reichspräsident davon überzeugt worden war, daß entgegen den Ausführungen in mehreren, von der Opposition bestellten juristischen Gutachten, die eine verfassungsändernde Mehrheit für erforderlich hielten, eine einfache Majorität im Reichstag zur Annahme des[XXXI] Abkommens ausreiche, unterzeichnete er den Vertrag, dessen Ausfertigung er zuvor ausgesetzt hatte117.

117

Dok. Nr. 329; 334; 339; 417, P. 1; 423; 426, P. 1; 430, P. 2; 445; 451, P. 5; 474; 475; 478, P. 3; 480. Zum Verhalten des Zentrums s. R. Morsey, Protokolle der Reichstagsfraktion … Preußen wurde durch die Zusicherung gewonnen, Entschädigungsforderungen dritter auf das Reich zu übernehmen (Dok. Nr. 428; 429, P. 2).

Weit weniger durchsichtig als das Verhältnis zu Polen sind in der Zeit der Weimarer Republik die deutsch-russischen Beziehungen gewesen. Wichtiger als ein Handelsvertrag, der im Dezember 1928 abgeschlossen wurde118, waren für das Kabinett Müller ebenso wie für die vorangegangenen Kabinette die Kontakte, die zwischen der Roten Armee und der Reichswehr bestanden; denn insgeheim wurden in Rußland Experimente mit Waffen und Munition durchgeführt, die Deutschland nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags verboten waren119. Trotz dieser guten Zusammenarbeit in Fragen der militärischen Rüstung und Ausbildung lehnte das Kabinett mit Mehrheit den Wunsch der sowjetischen Regierung ab, den aus Rußland ausgewiesenen Leo Trotzki in Deutschland aufzunehmen. Nur die sozialdemokratischen Minister – nicht aber der Reichskanzler – sprachen sich für die Einreise Trotzkis aus. Der ablehnende Beschluß des Gesamtkabinetts wurde, um die innere Sicherheit Deutschlands zu bewahren, auch aufrechterhalten, als der russische Revolutionär und Politiker selbst um Asyl bat120.

118

Dok. Nr. 18, P. 3. Beachtenswert ist auch der Kauf russischen Goldes durch die Rbk (Dok. Nr. 11; 59). Wenig Verständnis zeigte Rußland für das Zündholzmonopol in Deutschland, da hierdurch russische Interessen behindert würden (Anm. 14 zu Dok. Nr. 306).

119

Dok. Nr. 42; Anm. 2 zu Dok. Nr. 452. Das Verhältnis zur Reichswehr hinderte die Russen allerdings nicht, am 1.5.29 gegen den Bau des Panzerschiffes A zu demonstrieren (Anm. 5 zu Dok. Nr. 197).

120

Dok. Nr. 120, P. 2; 135, P. 1; 165, P. 2. Andererseits bestanden beim Kabinett aber keine Bedenken, Bela Kun die Durchreise durch Deutschland zu gestatten (Dok. Nr. 7, P. 4), und gegen eine antifaschistische Kundgebung in Berlin, gegen die der italienische Botschafter protestierte, schritt die Reichsregierung ebenfalls nicht ein, obwohl an ihr vornehmlich Kommunisten beteiligt sein sollten (Dok. Nr. 125, P. 1).

Als sich im Herbst 1929 in Rußland die Lage der Landwirtschaft immer prekärer gestaltete, versuchten die von deutschen Kolonisten abstammenden Mennoniten, nach Deutschland abzuwandern. Obwohl durch Berichte der deutschen Botschaft in Moskau bekannt war, welchen Pressionen diese Gruppe ausgesetzt war, vertrat das Kabinett die Meinung, daß eine Ansiedlung der Mennoniten in Deutschland nicht in Frage komme und es für sie besser sei, in Rußland zu bleiben, da auch ihrer Weiterwanderung nach Kanada und Brasilien Schwierigkeiten entgegenstanden121.

121

Dok. Nr. 344, P. 4; 351, P. 1; 355, P. 3; 452.

Trotz bedenklicher Spannungen zwischen den Regierungen in Berlin und Moskau, die aus der Unterstützung der KPD durch die Sowjetunion entstanden122, zeigte die russische Regierung im Gegensatz zur britischen großes Entgegenkommen als Anfang 1930 dem neuen Nuntius das Doyenat des Diplomatischen Korps übertragen werden sollte, das eigentlich dem russischen Botschafter Krestinski zugestanden hätte123. In der Zeit des Kabinetts Brüning scheint[XXXII] sich dann die politische Konfrontation der Regierungen weiter verhärtet zu haben.

122

Anm. 2 zu Dok. Nr. 452.

123

Dok. Nr. 434, P. 2.

Daß Handels- und Wirtschaftspolitik sich auf der Grenze zwischen Außen- und Innenpolitik bewegen, zeigte sich bereits bei den Handelsvertragsverhandlungen mit Polen. Der Handel spielte für die Auslandsbeziehungen des Reichs eine wesentliche Rolle, da auf Grund des Dawesplans Deutschland seine Reparationsverpflichtungen aus Exportüberschüssen leisten sollte, wobei die Transferierung in fremde Währungen Aufgabe des Reparationsagenten war. Der Youngplan, der die Verantwortung für das Aufbringen der Reparationen und den Transfer allein dem Deutschen Reich auferlegte, basierte auf der Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.

Die Frage, wie die Exportmöglichkeiten der Wirtschaft in einer Zeit unverkennbarer Rezession124 erhalten und erweitert werden könnten, zugleich aber die Landwirtschaft aus ihrer finanziellen Not befreit und durch Schutzmaßnahmen vor dem Preisdruck der ausländischen Konkurrenten bewahrt werde, wurde zu einem vieldiskutierten Thema des Kabinetts. Auch hier bildete sich die Frontstellung, die für die Erörterungen des deutsch-polnischen Handelsvertrags kennzeichnend war: Während Minister Dietrich aus Sorge vor der Radikalisierung der Bauern den Protektionismus befürwortete, warnten Auswärtiges Amt, Finanz- und Wirtschaftsressort vor Schutzzöllen, da Deutschland seine besten Handelsverträge mit Agrarländern geschlossen habe, die mit scharfen Maßnahmen auf die Behinderung ihres Exports nach Deutschland reagieren würden125; daneben war allerdings zu berücksichtigen, daß das Reich den Beschlüssen der Genfer Weltwirtschaftskonferenz von 1927 zugestimmt hatte, wonach Zollschranken überhaupt abgebaut werden sollten126.

124

Dok. Nr. 2, P. 2; 11; 59; 76; 100; 123.

125

Dok. Nr. 78, P. 1; 100; 110; 146, P. 3; 150, P. 2; 216, P. 2.

126

Anm. 13 zu Dok. Nr. 2; Dok. Nr. 156.

Ein Agrarprogramm, das zu Beginn der Kabinettstätigkeit noch gefehlt hatte, kristalisierte sich aus Dietrichs Vorschlägen heraus, die er zur Behebung der Notlage in der Landwirtschaft im Frühjahr 1929 der Regierung vorlegte und gegen den Widerstand volksparteilicher und sozialdemokratischer Minister und ihrer Parteien im Lauf des Jahres mit einigen Modifizierungen in Gesetzen und Verordnungen verwirklichte. Im wesentlichen drängte Dietrich auf eine Beschränkung der Einfuhr von Vieh und Fleisch und auf eine Regulierung des Getreidemarkts. Mit der letzten Absicht stieß er vor allem bei den Sozialdemokraten auf Widerstand, der erst abgebaut werden konnte, nachdem der Minister sich zu einem Gleitzollsystem bereiterklärt hatte, in dem die Preisentwicklung berücksichtigt wurde127. Ein wesentliches, belastendes Moment für die Landwirtschaft[XXXIII] war der erhebliche Überschuß an Roggen und Weizen nach der Ernte 1929, da Getreide wegen der Auslandsüberschüsse kaum exportiert werden konnte. Diese Erkenntnis bestimmte Kabinett und Parteien, die Pläne für ein Getreidemonopol wenn auch nur zögernd zu billigen und Mittel für die Getreidemagazinierung bereitzustellen; außerdem wurden Beschlüsse gefaßt, die die Zusatzmenge von inländischem Roggen und Weizen im Mehl regelten128. Ein gewisser handelspolitischer Augenblickserfolg konnte darin gesehen werden, daß mit Polen Kartellvereinbarungen über gemeinsamen Roggenexport in die skandinavischen Länder getroffen wurden; eine ähnliche Absprache mit Rußland gelang nicht129. Um jedoch überhaupt die Notlage der Landwirtschaft abändern zu können und den Forderungen der agrarischen Interessenverbänden, die „mit Steuerstreiks, Käuferstreik, Anbaustreik und ähnlichem Vorgehen“ ihrer Anhänger drohten130, zu begegnen, waren Verhandlungen mit Schweden und Finnland über Änderungen in den landwirtschaftlichen Positionen der bestehenden Handelsverträge notwendig. Da beide Länder ebenso wie Deutschland die Auswirkungen der Weltagrarkrise spürten und mit der Bildung einer nordischen Front gegen deutsche Exporte drohten, wovon Deutschlands Industrie betroffen worden wäre, mußte das Kabinett Müller Konzessionen gewähren und Rinderkontingente aus Schweden zu verminderten Zollsätzen zulassen und den Butterimport aus Finnland begünstigen131.

127

In der Diskussion zwischen den Regierungsparteien über die Landwirtschaftspolitik kam es im Juni 1929 zu einer das Kabinett gefährdenden Krise. Spannungen entstanden durch die SPD, die sich Zollerhöhungen mit Rücksicht auf die Verbraucher widersetzte. Hier zeigten sich vor allem unterschiedliche Auffassungen zwischen Sozialdemokraten und Zentrum. Das Nachgeben der Sozialdemokraten in der Frage der Agrarzölle mag durch die Beteiligung des sozialdemokratischen Agrarexperten Fritz Baade an den agrarpolitischen Entscheidungen des Ernährungsministeriums zustande gekommen sein. Siehe Dok. Nr. 146, P. 3; 150, P. 2; 156, 202, P. 1 u. 2; 216, P. 2; 234; 236, P. 1; 347; 354; 386; 480; 481, P. 4.

128

Dok. Nr. 417, P. 2; 467, P. 4; 468, P. 4; 481, P. 4.

129

Dok. Nr. 443, P. 2. Im Endeffekt erwies es sich allerdings, daß auch das Roggenkartell gegen die Roggenschwemme machtlos war.

130

Dok. Nr. 110. Tatsächlich sind im Herbst 1929 die Bauern in Norddeutschland zu Sprengstoffattentaten gegen Finanzämter übergegangen, um ihre Unzufriedenheit zu demonstrieren.

131

Dok. Nr. 202, P. 1 u. 2234; 236, P. 1; 323, P. 8; 338, P. 1; 355, P. 2; 365, P. 7; 439, P. 1; 467, P. 5; 479, P. 5. Die parlamentarische Behandlung reicht noch in die Zeit des Kabinetts Brüning hinein.

Während sich gegenüber den skandinavischen Ländern eine gewisse Zurückhaltung der deutschen Regierung bei den Handelsvertragsverhandlungen durchaus bemerken läßt, zeigte sie nach anfänglichen Zaudern gegenüber Österreich ein deutliches Entgegenkommen. Die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Österreich waren von Müller sehr nüchtern beurteilt worden. So hatte er sich im Sommer 1928 aus außenpolitischen Erwägungen gegen eine große Anschlußkundgebung ausgesprochen, die im Reichstag hatte stattfinden sollen132. Handelsvertragsverhandlungen, die im Jahr 1928 begonnen hatten, waren im Sommer 1929 wegen agrarpolitischer Differenzen abgebrochen worden. Doch als der österreichische Bundeskanzler Schober im Februar 1930 Berlin besuchte und weitgehende politische Übereinstimmung festgestellt worden war, kamen die Regierungen überein, nicht nur die Handelsvertragsverhandlungen wieder aufzunehmen, sondern darüber hinaus auch Vorarbeiten für eine künftige Zollunion einzuleiten133.

132

Dok. Nr. 2, P. 2; 18, P. 1. Am intensivsten war noch der Versuch der Juristen beider Staaten, zu einer weitgehenden Rechtsangleichung zu gelangen.

133

Dok. Nr. 451, P. 2; 453; 485.

Um zu einer umfassenden strukturellen Lösung zu gelangen, erschien dem Kabinett ein Gesamtwirtschaftsplan notwendig. Voraussetzung hierzu war jedoch,[XXXIV] wie der Reichskanzler erklärte, die Lösung des Reparationsproblems, die Reform der Arbeitslosenversicherung und die Neuordnung der Zolltarife, die schon deshalb notwendig war, weil Ende 1929 die Tarife von 1925 außer Kraft traten und ohne neue Regelungen die Zollbestimmungen von 1908 wieder gültig geworden wären. Als diese Fragen erörtert wurden, drängte Wirtschaftsminister Moldenhauer im Interesse notleidender Industriezweige, aber auch um weitergehende Beschlüsse des Parlaments zu verhindern, darauf, noch vor Beginn der vorgesehenen Weltwirtschaftskonferenz die maximalen Zolltarife zu erhöhen, d. h. Obertarife einzuführen. Mit dieser Forderung stieß er jedoch auf den Widerspruch der Minister Hilferding und Dietrich. Dabei vertrat der Finanzminister die Ansicht, daß eine derartige Zollerhöhung Unruhe in die Handelspolitik tragen und Nachteile für Deutschland auf der Wirtschaftskonferenz mit sich führen werde; denn diese Zollbewegung könne als „Aufrüstung“ gedeutet werden und würde auch die handelspolitische Bewegungsfreiheit einengen. Mit Mehrheit stimmte das Kabinett Hilferding zu. Vor der Zollkonferenz im Februar 1930 sprach sich auch der neue Wirtschaftsminister Schmidt dafür aus, daß die Tarife nicht weiter erhöht würden, da sonst die Zoll- und Handelspolitik erschüttert werde134. – Während der Konferenz in Genf wurde zunächst vorgesehen, daß im Rahmen eines allgemeinen Vertrags, die Kündbarkeit der laufenden Handelsverträge erschwert werden sollte; doch die Verhandlungen führten schließlich dazu, jedem Staat ein Rücktrittsrecht von diesem Vertrag einzuräumen, „ohne daß es vorheriger Verhandlungen oder der Einhaltung einer Frist bedürfe.“ Im Gegensatz zum Auswärtigen Amt und den Ministerien für Finanzen und für Wirtschaft erblickte Minister Dietrich in diesem Zwischenergebnis der Konferenz eine Beeinträchtigung des Zollschutzes für die Landwirtschaft; das Kabinett stimmte jedoch mit Mehrheit dem Genfer Beschluß zu135.

134

Dok. Nr. 216, P. 2; 357, P. 2; 378, P. 3; 399, P. 3; 439, P. 1.

135

Dok. Nr. 481, P. 5.

Alle Versuche des Kabinetts Müller, die Rezession in Wirtschaft und Landwirtschaft aufzuhalten, blieben letztlich Stückwerk, da der Rückgang der Konjunktur in Deutschland nur einen Teil der Weltwirtschaftskrise darstellte. Die Reaktion auf die Bemühungen der Regierung zeigte sich am Verhalten der landwirtschaftlichen Interessenverbände, die bis zum Ende des Kabinetts Müller dessen Agrarmaßnahmen für unzureichend erklärten136; die Beurteilung der Wirtschaftspolitik durch die Wirtschaftsverbände wird in ihren Stellungnahmen zu den Debatten um die Arbeitslosenversicherung deutlich137.

136

Dok. Nr. 158; 385; 463; 464; 482.

137

Der konjunkturelle Rückgang in allen Wirtschaftszweigen spiegelt sich in den vermehrten Anforderungen an die Arbeitslosenversicherung wieder. Die Rezession wird auch dazu beigetragen haben, daß Hindenburgs Wunsch, die Industrie solle der Landwirtschaft beistehen, ein Wunsch, der auch von dem Großindustriellen Silverberg unterstützt wurde, beim RdI auf Ablehnung stieß (Dok. Nr. 480; 481, P. 2).

Stärker als das übrige Reichsgebiet wurden von der Agrar- und Wirtschaftskrise Ostdeutschland und insbesondere auf Grund seiner isolierten Lage Ostpreußen betroffen. Die Maßnahmen, die vom Kabinett als Hilfsleistungen erwogen[XXXV] wurden, gehören auch in den Bereich der Innenpolitik, da vielfach gemeinsam mit dem Preußischen Staatsministerium zu klären war, welche Wege eingeschlagen werden sollten, um die Not im Osten zu lindern. Das Reichskabinett vertrat über die Hilfsleistungen unterschiedliche Meinungen. Während Minister Dietrich sich für die Unterstützung der Landwirtschaft einsetzte und dabei auf die niederbrechenden Güter, Zwangsversteigerungen und Kreditnot gerade in Ostpreußen hinweisen konnte, sprach sich der Innenminister für eine allgemeine Osthilfe aus, in die er auch Schlesien mit besonderer Berücksichtigung des Waldenburger Gebiets eingeschlossen sehen wollte. Da jedoch der Reichskanzler bei einem umfassenden Programm Berufungen aus anderen Reichsgebieten befürchtete138 und da der Reichsfinanzminister feststellte, daß ein detaillierter Plan für die Verwendung der Haushaltsmittel noch ausstehe, wurde zu Beginn des Jahres 1929 nur ein Leertitel in den Haushalt 1929 eingestellt. Weitere Besprechungen, die auch mit Preußen geführt wurden, hatten dann zur Folge, daß eine Summe von 25 Millionen Mark für diesen Titel vorgesehen wurde, die allerdings das Preußische Staatsministerium als dem Land zustehende Entschädigung für Kriegsfolgen betrachtete. Doch sollte der Betrag benutzt werden, um den Gütermarkt in Ostpreußen zu sanieren139.

138

Bei der Erörterung des Reichshaushalts für 1929 hatte Minister von Guérard schon angeregt, daß der östliche Grenzfonds auch Mittel für die westlichen Grenzgebiete enthalten solle. Das Kabinett lehnte diesen Vorschlag ab (Dok. Nr. 105, P. 2). Im Januar 1930 forderte sogar Bayern Hilfe des Reichs für die Landesteile, die an die Tschechoslowakei angrenzen (Dok. Nr. 422).

139

Dok. Nr. 79, P. 1; 105, P. 2; 134, P. 1; 138; 140; 149.

Es ist anscheinend dem Drängen Minister Dietrichs zuzuschreiben, daß das Kabinett den Beschluß faßte, für ein Ostprogramm zwei getrennte und später in einem Gesetz zu vereinende Gesetzentwürfe vorlegen zu lassen und zwar von Dietrich für die agrarischen Hilfsmaßnahmen im Osten und von Severing für die Unterstützungsaktionen in den anderen Wirtschaftszweigen140. Praktisch konzentrierten sich allerdings die Bemühungen des Kabinetts Müller und der preußischen Regierung in der Folgezeit auf die Landwirtschaft Ostpreußens, da der Industrie dieses Landesteils nur geringe Aussichten gegeben wurden, sich bei ihrer „Wirtschaftsferne“ vom eigentlichen Reichsgebiet durchzusetzen141. Nachdrücklich ist Dietrich dafür eingetreten, durch staatliche Hilfsmaßnahmen die Verschuldung der Landwirtschaft aufzufangen, die im besonderen Maß den Großgrundbesitz betraf, und geeignete Güter aufzusiedeln142. Preußen und das Reich einigten sich nach intensiven Verhandlungen darauf, einen Reichs- und Staatskommissar einzusetzen, der die Kreditvergabe, die Umschuldung und den Verkauf verschuldeter Güter überwachen sollte und der damit neben die „Ostpreußische Landschaft“ trat, die sich bisher um diese Angelegenheiten bemüht[XXXVI] hatte. Bezeichnend für das Interesse des Reichspräsidenten an diesem Problem ist, daß die entsprechenden Beschlüsse formal in der einzigen bekannten Ministerratssitzung dieses Kabinetts gefaßt worden sind143.

140

Dok. Nr. 150, P. 1.

141

Dok. Nr. 162, P. 2. Bezeichnend sind auch die Äußerungen in Dok. Nr. 481, P. 3. Eine Ausnahme bilden die Bemühungen des Reichs um die Schichauwerft (Dok. Nr. 134, P. 3). Hier mögen, wenn das auch aus den Akten der Rkei nicht hervorgeht, allerdings militärpolitische Überlegungen eine Rolle gespielt haben, da Schichau einen Faktor in der geheimen Aufrüstung der Reichswehr darstellte.

142

Hier begegnete der REM besonders der Unterstützung des RWeM, der ehemalige Reichswehrsoldaten in Ostpreußen ansiedeln wollte; s. o. Anm. 107.

143

Dok. Nr. 153; 157; 180. Trotz dieser Hilfeleistungen lebte in bestimmten Gruppen der ostpreußischen Bevölkerung die Abneigung gegen diese Reichsregierung fort; s. dazu die Bemerkung des RK über die ostpreußischen Gerichte (Anm. 15 zu Dok. Nr. 216).

Schon in den Verhandlungen zum Ostprogramm war darauf hingewiesen worden, daß für die westdeutschen Grenzgebiete ähnliche Forderungen wie für Ostdeutschland erhoben werden würden. Und nachdem der Reichstag im Mai 1929 das Ostpreußengesetz angenommen und der Staatskommissar Ende des Monats Richtlinien für seine Arbeit erhalten hatte, trat im Juni, von der Zentrumsfraktion gedrängt, Minister Wirth an das Kabinett mit dem Verlangen heran, daß nun auch für den Westen ein Hilfsprogramm erarbeitet werde, was dem Minister nur zögernd und mit dem Hinweis auf die fatale Kassenlage des Reichs zugestanden wurde144. Zwar hatte die Öffentlichkeit von den Vorarbeiten nichts erfahren sollen, doch der Landeshauptmann von Ostpreußen Blunck wandte sich Ende September 1929 unter Hinweis auf Pressemeldungen über das „Westprogramm“ an den Reichskanzler und erklärte, daß über die durch das Ostpreußengesetz zur Verfügung stehenden Mittel hinaus die durch den Youngplan freiwerdenden Reparationsbeträge in erster Linie Ostpreußen zugewandt werden müßten145; denn es zeigte sich, daß trotz der Hilfe des Reichs eine Verbesserung der Agrarsituation in Ostpreußen kaum eingetreten war. Sowohl der Ernährungsminister wie Staatskommissar Rönneburg wiesen darauf hin, daß die Gelder vielfach von den ostpreußischen Stellen zur Umschuldung nicht mehr sanierungsfähiger Güter verwendet worden seien. Rönneburg zog aus der Situation die Konsequenz, als er erklärte, es sei richtiger, die hochverschuldeten Güter aufzusiedeln, anstatt Sanierungsversuche einzuleiten. Auf Grund dieser Sachlage trat das Preußische Staatsministerium dafür ein, eine Treuhandstelle zu schaffen, die die Siedlungspolitik unterstützen und bei der Kreditvergabe mitwirken sollte. Dafür sollte die Dienststelle des Staatskommissars zur Mitte des Jahres 1930 aufgelöst werden. Von diesem Gedanken nahm die preußische Regierung erst Abstand, als Ende März 1930 die vom Reichspräsidenten geforderten Mittel für die ostpreußische Landwirtschaft durch Gesetz bereitgestellt wurden146.

144

Dok. Nr. 220; 223, P. 1.

145

Dok. Nr. 303. Im Februar 1930 äußerte Landeshauptmann Blunck in einem Schreiben an den RK, daß das dt.-poln. Liquidationsabkommen die Hilfe des Reichs für Ostpreußen beeinträchtigen werde und ostpreußische Ansprüche an Polen schädige. Ferner wies Blunck auf die Sorgen der ostpreußischen Schweinezüchter wegen des dt.-poln. Handelsvertrages hin (Dok. Nr. 441).

146

Dok. Nr. 331; 413; 436; 481, P. 3.

Bei der Erörterung des Haushaltsplanes für das Jahr 1930 trat Innenminister Severing nochmals für ein umfassendes Ostprogramm ein, zu dessen Verwirklichung er 200 Millionen Mark für die nächsten zehn Jahre ansetzte. In diesem Zusammenhang legte er in seiner Denkschrift „über die vordringliche Unterstützung des Ostens aus Grenzfondsmitteln“ dar, daß bisher die Ostgrenzgebiete gegenüber Westdeutschland benachteiligt worden seien, da sie nur[XXXVII] knapp ein Drittel der Gelder erhalten hätten, die in den Westen geflossen seien. Es ist bemerkenswert, daß schon bei der Behandlung des Ostprogramms mit dem preußischen Kabinett im November 1929 Einigkeit darüber bestand, daß an die Stelle der Grenzfonds besser ein einheitlicher Unterstützungsplan treten solle und daß die Begründung dafür in der finanziellen und wirtschaftlichen Not Ostdeutschlands, nicht aber in der Bedrohung durch Polen oder in Grenzschäden zu suchen sei. Erneut mußte das Kabinett gegenüber dem Rheinministerium feststellen, daß nun die Ansprüche des Ostens vor gleichartigen Westdeutschlands bevorrechtigt seien. Gegenüber den Ressorts für Arbeit, Verkehr und Wirtschaft, die Severings Vorstellungen über die Unterstützung der Ostgebiete als unzureichend ansahen, betonte dieser, daß zunächst einmal die Mittel anzusammeln seien, die später gezielt eingesetzt werden müßten, um den auch aus parlamentarischen Kreisen gesteuerten Forderungen der Öffentlichkeit zu begegnen. Beeinträchtigt wurden diese Erörterungen durch die katastrophale Situation der Finanzen des Reichs147.

147

Dok. Nr. 363; 448; 481, P. 3. Entschieden hatte Dietrich die Forderung ostpreußischer Agrarier abgelehnt, für sie eine weitgehende Lastenbefreiung und ein Moratorium für Zinsenzahlungen herbeizuführen, da er hierin bei der ungünstigen Finanzsituation eine Gefährdung der Kreditmöglichkeiten Ostpreußens erblickte (Dok. Nr. 331).

Bevor noch endgültige Beschlüsse für das Ostprogramm gefaßt werden konnten, trat das Kabinett zurück. Die Problematik der Osthilfe, die sich später im Kabinett Brüning mit aller Schärfe und politischen Konsequenzen stellte, war also schon in der Regierungszeit des Kabinetts Müller akut.

Zu den der Innenpolitik von der Verfassung gestellten Aufgaben, die bisher noch nicht gelöst waren, gehörten, unter dem Schlagwort „Reichsreform“ zusammengefaßt, die territoriale Neugliederung und die Reorganisation der Aufgabenverteilung zwischen Reich und Ländern. Reichskanzler Müller hatte die Absicht, diese Reform voranzutreiben. Unterausschüsse der Länderkonferenz, die bereits im Januar 1928 zusammengetreten war, wurden konstituiert und tagten in der Zeit des Kabinetts der Großen Koalition mehrfach. Bereits im Juli 1928 besprach das Kabinett, wie die Arbeit des Verfassungsausschusses der Länderkonferenz, der die Neugliederung des Reichs behandeln sollte, wirkungsvoll gestaltet werden könne. Dabei erwies sich, daß es notwendig sei, kleine, finanzschwache Länder in größeren aufgehen zu lassen. Ferner wurde angeregt, daß das Land Preußen auf dem Gebiet der Verwaltungsreform wegweisend weiterarbeiten müsse. Jedoch der Reichsinnenminister, in dessen Händen die Arbeit an der Reichsreform lag, zeigte sich gegenüber den praktischen Ergebnissen, die aus der Arbeit dieses Ausschusses zu erwarten waren, sehr skeptisch148.

148

Dok. Nr. 2, P. 2; 9, P. 1; 40.

Anläßlich der Vorbereitung für die Sitzung des Verfassungsausschusses im Oktober 1928 meinte Severing, daß wohl die Tendenz der Mehrheit in der Reichsregierung und im Ausschuß auf die Schaffung eines Einheitsstaates hinweise. Doch widerriet er einer Beschleunigung der Arbeit für die Eingliederung kleiner Staaten und Enklaven, solange nicht die Ansichten der süddeutschen Staaten, insonderheit Bayerns, bekannt seien. Ähnlicher Meinung, nun auch[XXXVIII] bezogen auf die Aufteilung Preußens in Reichsprovinzen, waren der Reichskanzler und die Minister Hilferding, Koch-Weser und Schätzel. In der Ausschußsitzung trug die Reichsregierung dann ihre Ansicht vor, daß die Reichsgewalt zu stärken sei und innerhalb des Reichs leistungsfähige Gliedstaaten bestehen müßten149. Außerdem sei ein Ausgleich zwischen den Aufgaben des Reichs und der Länder vorzunehmen und die Möglichkeiten für die Auftragsverwaltung durch die Länder zu prüfen. Als Ergebnis der Ausschußberatungen wurden zwei Unterausschüsse geschaffen, die sich mit der Neugliederung der Länder und der Frage der Zuständigkeiten der Länder und des Reichs beschäftigen sollten.

149

Das Land Hessen kann als Beispiel dafür gelten, daß auch Länder von mittlerer Größe in akute Finanzschwierigkeiten geraten konnten, denen nur mit Rationalisierung in der Verwaltung zu begegnen war (Dok. Nr. 9, P. 3).

Diese Unterausschüsse traten im November 1928, Mai und November 1929 zusammen und erörterten den ihnen gestellten Aufgabenkatalog. Da sich Preußen mit einer Stellungnahme zurückhielt, forderte im November 1929 der bayerische Ministerpräsident Held, unterstützt von anderen Länderchefs, nachdrücklich, die Ansicht des preußischen Kabinetts zur Reichsreform kennenzulernen. Bei dieser Gelegenheit verlangte Held ferner, daß die Provinzialverwaltung in Preußen weiter ausgebaut werden solle. Aus föderativen Überlegungen heraus wandte sich Held gegen die Aufhebung des Dualismus von Reich und Preußen und lehnte die Idee eines Einheitsstaates grundsätzlich ab150. – Die allzu unterschiedlichen Auffassungen über Aufgaben und Umfang der Reichsreform verhinderten eine erfolgreiche Tätigkeit der Unterausschüsse151.

150

Dok. Nr. 45, P. 2; 464861; 356.

151

Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß die politischen Tagesfragen wie Reparationspolitik, Fragen der Arbeitslosenversicherung, Behandlung der finanziellen Schwierigkeiten schließlich doch eine größere Bedeutung als die Reichsreform besaßen und einer schnelleren Behandlung bedurften.

Welche Schwierigkeiten der Versuch machte, die „Staatsgestaltung und den Verwaltungsaufbau zu vereinfachen“152, zeigt das von Stegerwald als „Schulbeispiel“ bezeichnete Mecklenburg-Schwerin153. Der defizitäre Haushalt des Landes und die Sorge, durch die erwarteten Steuervereinheitlichungsgesetze weitere Einnahmequellen zu verlieren, veranlaßten die Landesregierung, den Antrag zu stellen, daß die Justiz Mecklenburg-Schwerins mit allen finanziellen Lasten vom Reich übernommen werde. Der Reichssparkommissar legte jedoch dem Reichskabinett dar, daß die „Verreichlichung“ der Landesjustiz nicht ausreichen werde, um dieses Land finanziell lebensfähig zu erhalten, zumal wenn § 35 des Finanzausgleichsgesetzes, der die Zuweisungen an die Länder regelte, künftig fortfalle. Daher schlug die Reichsregierung dem Staatsministerium Mecklenburg-Schwerins vor, die guten Dienste des Reichsinnenministers zu benutzen und mit Preußen über ein Aufgehen in diesem Lande zu verhandeln154. Hierzu kam es aber nicht; vielmehr legte Mecklenburg-Schwerin, um seine Kassenlage zu sanieren, eine Anleihe mit überhöhtem Zinssatz auf, so daß Reichsfinanzminister[XXXIX] und Reichsbankpräsident eindringlich vor den Folgen warnten, die für den deutschen Kredit entstehen müßten, falls andere Länder sich diesem Beispiel anschließen würden. Mitte Mai 1929 beschloß das von Mecklenburg-Schwerin zu einer Entscheidung gedrängte Kabinett endgültig, die „Verreichlichung“ der Landesjustizverwaltung abzulehnen, da sonst die übrigen Zweige der Landesverwaltung nicht in genügendem Umfang rationalisiert würden und weil auch andernfalls dem Problem des Verhältnisses von Reich und Ländern vorgegriffen werde155.

152

Das wurde in der Denkschrift vom 16.3.29 über die Reformbestrebungen des Kabinetts Müller als Ziel der Reichsreform angegeben (Dok. Nr. 161).

153

Dok. Nr. 75.

154

Dok. Nr. 9, P. 2; 75; 101; 107.

155

Dok. Nr. 123; Dok. Nr. 201, P. 2 der Ministerbesprechung.

Preußen war zwar das größte Land innerhalb des Deutschen Reichs, aber Bayern bzw. die bayerische Regierung ist der eigentliche Gegenspieler des Kabinetts gewesen, wenn Länderinteressen berührt wurden oder die Gefahr bestand, daß der föderative Staatsaufbau angetastet werde. In der Zeit des Kabinetts Müller II war der wichtigste süddeutsche Gesprächspartner des Kabinetts denn auch Ministerpräsident Held156, der als Vorsitzender einer die Reichsregierung mittragenden Partei sich nicht scheute, partikulare Interessen zu Gefahrenmomenten für das Kabinett Müller hochzustilisieren157. Hierzu gehörten besonders die Ansprüche der Länder an das Reich aus der Verreichlichung von Bahn und Post im Jahr 1920. Sie wurden unter Führung Bayerns auch von Sachsen und Württemberg geltend gemacht, nachdem das Reich Ende des Jahres 1928 versucht hatte, die aus Steuererträgen gespeisten Länderzuweisungen und den Finanzausgleich kürzen und durch ein Steuervereinheitlichungsgesetz zugunsten des Reichs Ungleichgewichtigkeiten in den Eigensteuern der Länder aufzuheben. Die bayerische Regierung konnte den Reichskanzler und Finanzminister Hilferding darauf hinweisen, daß ihre Vorgänger Marx und Köhler Bayern geheime Versprechungen für eine Abfindung auf die Bahn- und Postansprüche gemacht hatten. Zusammen mit den übrigen Bahn- und Postländern forderte Bayern nun die Auszahlung zumindest der seit der Inflation aufgelaufenen Zinsen und drohte sogar mit einer Leistungsklage vor dem Staatsgerichtshof. Erst nachdem das Kabinett Müller die strapazierte Kassenlage des Reichs offengelegt hatte, nahmen die Länder von der direkten Verfolgung ihrer Forderungen Abstand, ohne jedoch diese Ansprüche aufzugeben158. In diesem Zusammenhang ist es für das Verhältnis von Preußen und Reich bezeichnend, daß auch Preußen bei der Reichsregierung vorstellig wurde, um auf die Erstattung von Geldern hinzuwirken, die dem Land als Kriegsfolgeleistungen zustanden und die seiner Meinung nach Vorrang vor den Forderungen Bayerns hatten. Jedoch gelang es dem Reichskanzler und dem Minister[XL] Hilferding, nicht nur Preußen zum Abwarten zu bewegen, sondern das Preußische Staatsministerium sogar als Bundesgenossen in den Verhandlungen mit den anderen Ländern zu gewinnen159 – ein Vorgang, der sich im September 1929 bei der Behandlung der Arbeitslosenversicherung wiederholte.

156

Bayern kann als Sprachrohr der übrigen süddeutschen Länder und auch Sachsens angesehen werden.

157

Aber auch der preußische Ministerpräsident Braun trat nachdrücklich für die finanziellen Interessen seines Landes ein, wobei er gelegentlich kaum erkennen ließ, daß nach der Zusammensetzung der Koalitionen die Preußische Regierung dem Kabinett Müller näherstand als die Bayerns. Es kann im Zusammenhang dieser Einleitung nicht untersucht werden, ob hier möglicherweise eine gewisse persönliche Rivalität zwischen Braun und Müller eine Rolle gespielt hat.

158

Dok. Nr. 32; 87; 90, P. 3; 98; 108, P. 1 der der Ministerbesprechung; 113; 227; 314; 315; 324.

159

Es ist wahrscheinlich im wesentlichen aus den preußischen Einsprüchen zu erklären, daß die RReg. Bayern nur ein Darlehen statt der geforderten Abfindung zahlte; Dok. Nr. 109; 112; 128; 227.

Speziell bayerische Belange wurden berührt, als das Kabinett Müller zum Ergebnis gelangte, die Biersteuer zu erhöhen, um dadurch zusätzliche Einnahmen zur Balancierung des Etats zu erhalten. Sowohl bei den Beratungen für den Haushalt 1929 wie für den des Jahres 1930 sprach sich Postminister Schätzel als Vertreter der BVP im Kabinett gegen dieses Vorhaben aus und drohte mit dem Ausscheiden aus der Koalition. Für den Minister wie für seine Parteifreunde bildete diese Frage im Zusammenhang mit der von Preußen betriebenen Kürzung des Finanzausgleichs eine derartige Belastung, daß die Mehrheit der BVP-Abgeordneten im Reichstag anläßlich der dritten Lesung die Youngplangesetze aus Protest und als Warnung ablehnten160. Allerdings war Bayern auf Grund seiner Agrarstruktur weitgehend von den Zuweisungen des Reichs abhängig und verfocht um so mehr, wahrscheinlich zum Beweis seiner Eigenständigkeit, Eigenheiten wie die Verleihung von Titeln, was immerhin einen Verstoß gegen die Reichsverfassung darstellte161. Andererseits kehrte Ministerpräsident Held auch die politischen Ansprüche seines Landes hervor, indem er die Beteiligung bayerischer Delegierter an den politischen Reparationskonferenzen forderte162. Eine Erklärung für das Selbstverständnis der bayerischen Landespolitik gegenüber dem Reichskabinett gibt ein Schreiben Helds an Müller, in dem der bayerische Ministerpräsident finanzielle Ansprüche mit dem besonderen Wert Bayerns für das übrige, stärker industrialisierte Reichsgebiet begründete: „Verbundenheit der Bevölkerung mit der Scholle und mit der Heimat, gesunde Bevölkerungsentwicklung, Ausgeglichenheit der sozialen Gegensätze, konservativere Gesinnung, erdverbundene Kultur u.s.f.“163. Die Polarität von Agrarstaat und Industriegesellschaft, die schon 1920 als Grund für die Differenzen zwischen Reich und Bayern angesehen worden war, bestand, wie die Aussage Helds zeigt, unvermindert fort164.

160

Dok. Nr. 87; 90, P. 3; 98; 476; 477. Dazu sind zu vgl. die Etatsberatungen für 1929 und 1930.

161

Dok. Nr. 98; 108, P. 2 der Ministerbesprechung; 109; 112; 113; 128.

162

Hierher gehören auch die bayerischen Forderungen auf Unterrichtung über die Reparationskonferenzen (Dok. Nr. 236, P. 3 der Ministerbesprechung; 258; 294, P. 4) und die Kritik an der Reparationspolitik des Kabinetts Müller (Dok. Nr. 311; 420; 423; 478, P. 2).

163

Dok. Nr. 409. Aus dieser Einstellung mag sich auch die Abwehr gegen jeden vermuteten Eingriff der RReg. in die Rechte der Länder und des RR erklären (Dok. Nr. 56; 58; 69, P. 4; 396).

164

Der pr. Gesandte in München, Graf Zech, an das AA (6.4.20; R 43 I /2213 , Bl. 36).

Über die Beziehungen von Reich und Ländern hinaus greift die Auseinandersetzung wegen der Besetzung des Verwaltungsrats der Reichsbahngesellschaft in das Verhältnis von Exekutive (Reichsregierung) und Rechtsprechung (Staatsgerichtshof). Nachdem das Land Preußen im Jahr 1927 durch ein Urteil des Staatsgerichtshofs das Recht erhalten hatte, einen eigenen Vertreter in[XLI] diesen Verwaltungsrat zu entsenden165, beanspruchte das Land Baden das gleiche Recht und beantragte im Sommer 1928, da die Reichsregierung aus reparationspolitischen Erwägungen sich ablehnend verhielt, eine einstweilige Verfügung, durch die der Regierung untersagt werden sollte, daß das Reich beim nächsten Wechsel im Verwaltungsetat eigenmächtig neue Vertreter berufe. Die Reichsregierung wollte jedoch sicherstellen, daß dem Verwaltungsrat der seit dem Erlaß der Dawesgesetze unabhängigen Reichsbahn als deutsche Vertreter solche Persönlichkeiten angehörten, die vornehmlich die Interessen des Reichs vertreten würden166. Das Kabinett Müller strengte daher eine Gegenklage an, nach der den Ländern Baden, Bayern, Sachsen und Württemberg das Recht auf die Bestellung eigener Vertreter für den Verwaltungsrat abgesprochen werden sollte167.

165

Daß die RReg. das Urteil bei der Besetzung des Verwaltungsrats zunächst unberücksichtigt ließ, rügte MinPräs. Braun scharf gegenüber RK Müller (Anm. 1 zu Dok. Nr. 83).

166

Die Notwendigkeit, die Reichsinteressen zu wahren, ergab sich aus dem Dawesplan, durch den die Einnahmen der RB verpfändet worden waren. Allerdings waren die Versuche der RReg., mit der RB-Gesellschaft zu Vereinbarungen über die Tarifgestaltung und die Lohnforderungen des RB-Personals zu gelangen, wenig glücklich (Dok. Nr. 8, P. 1; 10; 12, P. 7; 85, P. 3; 176; 179, P. 2; 216, P. 6; 363; 368).

167

Dok. Nr. 12, P. 8.

Zusätzlich kompliziert wurde dieses Problem, als im November 1928 kurz vor der Auslosung des Verwaltungsrats das Preußische Staatsministerium darauf drang, daß im Gegensatz zu den Bestimmungen des Reichsbahngesetzes von 1924 ein Staatsbeamter die Landesinteressen im Verwaltungsrat wahrnehmen sollte. Doch gelang es dem Kabinett Müller in Verhandlungen mit der preußischen Regierung, gemeinsam eine unabhängige Persönlichkeit zu nominieren. Die endgültige Besetzung des Verwaltungsrats, die nun schnell erfolgen sollte, um weiteren Ansprüchen zu entgehen, wurde am Tag vor der ersten Verhandlung des Staatsgerichtshofs über den badischen Antrag bekanntgegeben168. In dieser Aktion des Kabinetts erblickte der Vorsitzende des Gerichts, Reichsgerichtspräsident Simons, eine derartige Beeinträchtigung des höchsten Verfassungsgerichts, daß er beim Reichspräsidenten Einspruch erhob. Aber Hindenburg billigte die reparationspolitischen Beweggründe des Kabinetts und wies deshalb und aus formalen Gründen die Beschwerde von Simons zurück, der daraufhin zurücktrat169. Die betroffenen Länder protestierten gegen die Handlungsweise der Reichsregierung und beharrten auf ihrem Anspruch, wie Preußen selbsternannte Vertreter in den Verwaltungsrat zu entsenden – ein Anspruch, der ihnen auch in der Zeit des Kabinetts Brüning vom Staatsgerichtshof als gerechtfertigt zuerkannt wurde170.

168

Dok. Nr. 83, P. 1; 84; 86.

169

Dok. Nr. 86; 88, 929497.

170

Dok. Nr. 483.

Zunehmender Radikalismus war ein Kennzeichen für die innenpolitische Entwicklung in der Zeit des zweiten Kabinetts Müller171. Ihren sichtbaren Höhepunkt fand die politische Konfrontation der Gegner und der Vertreter des[XLII] Verfassungsstaates im Kampf um die Youngplangesetze. Aber auch unabhängig von diesem Streit mußte sich Innenminister Severing mit extremen politischen Gruppen und Parteien beschäftigen. So wandte er sich an den Reichspräsidenten und forderte ihn auf, die Ehrenmitgliedschaft im Stahlhelm niederzulegen, da dieser sich fortwährend gegen die Verfassung stelle. Aber Hindenburg sah zu einem solchen Schritt keinen Anlaß, nachdem ihm Seldte und Düsterberg, die Bundesführer des Stahlhelms, versichert hatten, sie würden darauf achten, daß die Richtlinien ihres Verbands, die Überparteilichkeit verlangten, eingehalten würden172. Und wieder trat Hindenburg für den Stahlhelm ein, als dessen rheinisch-westfälischer Landesverband im Herbst 1929 vom preußischen Innenminister Grzesinski nach Rücksprache mit Minister Severing verboten wurde. Es ist bezeichnend, für das politische Spannungsfeld des Kabinetts Müller, daß in der Chefbesprechung, in der dieses Verbot auf Wunsch des Reichspräsidenten eingehend erörtert wurde, Reichswehrminister Groener zwar das Verhalten der oppositionellen Stahlhelms rügte, sonst aber seine Bedeutung gering einschätzte, und schließlich gegenüber dem verfassungstreuen „Reichsbanner“ den Vorwurf erhob, in gleicher Weise wie der „Stahlhelm“ militärische Übungen veranstaltet zu haben. Minister Curtius, der zu diesem Zeitpunkt die Geschäfte des Außenministers wahrnahm, wies auf die außenpolitischen Konsequenzen des Verbots hin, da der Stahlhelm bisher gegenüber den französischen Vorwürfen, er sei eine militärische Organisation, verteidigt worden sei. Doch der preußische Innenminister ließ diese Argumentation nicht gelten und bezeichnete den Stahlhelm als verfassungsfeindlich, während im Gegensatz hierzu das Reichsbanner ein Wehrverband sei, der den innenpolitischen Umsturz verhindern wolle. In dieser Ansicht stimmten mit ihm der Reichskanzler und der Reichsinnenminister überein173.

171

Bezeichnend hierfür ist auch die Form, in der die RReg. politisch beleidigt wurde; aus politischen Erwägungen sah jedoch das Kabinett im allgemeinen von einer Strafverfolgung ab (Dok. Nr. 151, P. 1; 216, P. 4; 300; 316, P. 4; 417, P. 6).

172

Dok. Nr. 136.

173

Dok. Nr. 333.

Die NSDAP galt zunächst nur als unbedeutende Gruppe, die ihren Putschversuch von 1923 kaum wiederholen werde. Aber ihre Aktivität während des Volksbegehrens im Sommer und Herbst 1929 veranlaßte den Reichsinnenminister, sie schärfer zu beobachten, zumal ihr Kampf nicht allein den Youngplan-Gesetzen, sondern vor allem dem „System“ galt. Zu einer direkten Konfrontation des Gesamtkabinetts mit den Nationalsozialisten kam es allerdings nicht174.

174

Dok. Nr. 87; 319; 343; 361, P. 1. Zum Anfang der Auseinandersetzungen mit dem nationalsozialistischen Innenminister Thüringens Frick s. Schultheß 1930. Noch in die Zeit des Kabinetts Müller fällt der Beginn der nationalsozialistischen Unterwanderung der Reichswehr und die Verhaftung der Reichswehrleutnants Ludin, Scheringer und Wendt, die konspirativer Tätigkeit für die NSDAP beschuldigt werden. Eigentliche Bedeutung gewann dieser Fall allerdings erst durch den Prozeß, der im Herbst 1930, also in der Zeit des Kabinetts Brüning, stattfand. Spezifisches Material über die NSDAP fehlt für die Jahre 1928–1930 in den Akten der Rkei. Der entsprechende Aktenband scheint schon bei Ende des zweiten Weltkriegs nicht mehr in diesem Bestand enthalten gewesen zu sein.

Gegenspieler der Regierung auf dem linken Flügel der Parteien war die KPD, die als der gefährlichste Gegner der Weimarer Republik eingeschätzt wurde. Nachdem es am 1. und 2. Mai 1929 in Berlin zu schweren Zusammenstößen zwischen kommunistischen Demonstranten und der Polizei gekommen[XLIII] war, verbot der Preußische Innenminister zunächst das Parteiorgan „Rote Fahne“ und dann den Wehrverband, den „Roten Frontkämpferbund“. Von einem Parteiverbot hatte Severing abgeraten175. Zwar hielt der Reichsinnenminister es später für möglich, daß die KPD aus innerparteilichen Rivalitäten zersplittern werde, doch schätzte er sie für so gefährlich und anziehend ein, daß er ihretwegen sich bei den Haushaltsberatungen 1930 gegen eine „Massenbesteuerung“ aussprach, solange nicht auch der Besitz durch direkte Steuern gleichfalls spürbar belastet werde176.

175

Dok. Nr. 197, P. 1.

176

Anm. 2 zu Dok. Nr. 452; Anm. 4 zu Dok. Nr. 457.

Das beste Mittel der Regierung, sich der radikalen Parteien und Verbände zu erwehren und diese von Gewaltaktionen abzuschrecken, wäre das Republikschutzgesetz gewesen; dies stand aber nicht mehr zur Verfügung, da im Reichstag im Sommer 1929 nicht die notwendige ⅔ Mehrheit für eine zweite Verlängerung zustande gekommen war. Ein neuer Gesetzentwurf des Reichsinnenministeriums wurde trotz Severings Drängen vom Reichstagspräsidenten Löbe erst nach der Erledigung der Youngplangesetze und dem Abklingen der radikalen Agitation zur Verabschiedung auf die Tagesordnung des Plenums gesetzt177.

177

Dok. Nr. 207, P. 1; 316, P. 2; 343; 446.

Weiterführende Aussagen über das Verhältnis der Regierung zu radikalen Parteien und Verbänden sind allein auf Grund der Akten der Reichskanzlei nicht möglich.

Die Reichswehrpolitik des zweiten Kabinetts Müller kann gleichfalls lediglich grob skizziert werden, da das Aktenmaterial der Reichskanzlei hierzu nur bruchstückhaft überliefert worden ist178. Einige Problemkreise lassen sich erkennen und waren von politischer Relevanz: Nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags war es durchaus zulässig, Panzerkreuzer zu bauen. Allerdings war der Wahlkampf für die Reichstagswahlen 1928 von den Sozialdemokraten u. a. mit Losungen gegen diese Schiffe geführt worden; daher löste der Beschluß des Kabinetts im August 1928, den Bauauftrag zu erteilen, eine heftige politische Bewegung aus179, durch die auch die Regierung betroffen wurde, als die sozialdemokratische Reichstagsfraktion den Antrag stellte, der Bau des Schiffs sei einzustellen, und die Kabinettsmitglieder ihrer Partei veranlaßte, sich der Fraktionsdisziplin zu unterwerfen. Noch vor der Parlamentsdebatte kennzeichnete Minister von Guérard diese Auseinandersetzung als schwere Belastung für die Regierung. Gefährdet wurde das Kabinett, da Reichswehrminister Groener sich nicht dafür gewinnen ließ, den Bau von sich aus einzustellen, sondern seinen Rücktritt für den Fall ankündigte, daß das Parlament sich gegen den Panzerkreuzer ausspreche. Mit dem gleichen Schritt hatte auch der Reichspräsident[XLIV] gedroht180. Zwar versuchte der Reichskanzler noch eine Beschwichtigung im Kabinett dadurch herbeizuführen, daß er der SPD-Fraktion vorschlagen wollte, ihm die Stimmenthaltung freizustellen, wenn auch ein Minister der Parteien, die sich für das Panzerschiff einsetzten, auf ein Votum verzichte, doch die Gegensätze zwischen den Parteien und im Kabinett waren unüberbrückbar. Aber die reparationspolitische Entwicklung und daneben wahrscheinlich auch die Erklärung des Ministers Groener, daß er trotz der negativen Stimmabgabe des Reichskanzlers dessen reichswehrfreundliche Haltung anerkenne, dürften dazu beigetragen haben, daß das Kabinett nicht schon im Herbst 1928 gescheitert ist181.

178

Sicher ist, daß die Rkei über weitere Akten verfügt hat, die jedoch aus Gründen der Geheimhaltung nicht in den Geschäftsgang gegeben, sondern sekretiert worden sind (s. hierzu Anm. 1 zu Dok. Nr. 42; Anm. 1 zu Dok. Nr. 181; Anm. 1 zu Dok. Nr. 452). Außerdem dürften einzelne Aktenstücke auch aus diesem Bereich in die „Handapparate“ der Ministerialbeamten geraten sein. Mit Sicherheit trifft das zu für die Panzerkreuzerdenkschrift Groeners, die mit der Paraphe des RK im Nachlaß Pünder  vorliegt (BA: Nachlaß Pünder 116; s. als weiteres Beispiel Dok. Nr. 4 in: Th. Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP, 1962).

179

Dok. Nr. 1; 15, P. 2.

180

Den Panzerschiffbau hatte Groener in einer Denkschrift begründet, von der ein Exemplar auf ungeklärte Weise ins Ausland geriet und in England veröffentlicht wurde (Dok. Nr. 135, P. 5).

181

Dok. Nr. 6366. Seine Ansicht über die Haltung des RK gegenüber der Reichswehr bekräftigte Groener noch einmal bei der Demission des Kabinetts (Dok. Nr. 489, P. 2).

Zwar schien die Panzerkreuzerkrise überwunden zu sein, nachdem der Reichstag mit Mehrheit den SPD-Antrag abgelehnt hatte, doch die politische Problematik bestand zwischen den Parteien fort und und lastete damit auch auf dem Kabinett; denn Minister Groener erklärte sich unter dem Druck der finanziellen Nöte des Reichs damit einverstanden, daß im Reichswehretat für 1929 einmalige Kürzungen vorgenommen würden, wenn das Gesamtkabinett die Verantwortung hierfür übernehme, andererseits lehnte er aber jede Debatte über die Bewilligung der 2. Baurate für den Panzerkreuzer A ab und machte hiervon auch seinen Verbleib im Kabinett abhängig. Obwohl der Kanzler den Ansichten Groeners zustimmte und seine Vermittlung bei den Parteien in Aussicht stellte, beschwerte Anfang April 1929 gerade diese Frage die abschließenden Gespräche der Regierungsparteien über die Koalitionspolitik und den Etat 1929. Die Sozialdemokraten lehnten die Bewilligung der Schiffsbaurate ab, wollten allerdings weder Anträge stellen, noch Agitation treiben. Die DVP, das Zentrum und die DDP meinten dagegen, eine derartige vom Parlamentsbeschluß abweichende, kompromißlose Haltung nicht hinnehmen zu können und zwar auch dann nicht, wenn diesmal die sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder nicht dem Fraktionszwang unterworfen würden. Erst die von Staatssekretär Pünder ausgearbeitete Formel, daß die Reichsregierung sich für den Etat des Reichswehrministeriums einsetzen werde, fand die Zustimmung der Parteien182.

182

Dok. Nr. 105, P. 2; 165, P. 1; 166; 168.

Der Streit um das Panzerschiff A hatte damit ein Ende gefunden; aber die Auseinandersetzungen über die Etatsmittel der Reichswehr gingen weiter. Minister Groener weigerte sich, Abstriche an seinem Haushaltsvoranschlag für 1930 hinzunehmen, und verlangte außerdem, daß für den Panzerkreuzer B eine erste Rate in den Etat eingesetzt werde. Mit Minister Hilferding gelangte der Reichswehrminister zu keiner Einigung, Aber auch die Politiker des Zentrums, die wie Wirth, von Guérard und Brüning den Schiffsbau nicht prinzipiell ablehnten, befürchteten eine neue Krise für das Kabinett, und Staatssekretär Pünder betrachtete Groeners Forderung sogar als politischen Sprengstoff. Nach längeren[XLV] Verhandlungen, in die sich erneut der Reichspräsident mit Rücktrittsdrohungen einschaltete, wurden trotz Einwänden der Sozialdemokratischen Partei im Haushaltsentwurf dem Wehrminister Mittel für Manöver, Munition und ein Schiffsbauprogramm, aber keine Rate für das Panzerschiff B zugestanden183.

183

Dok. Nr. 348; 350; 353; 412; 445 b; 449, P. 3; 471.

Neben den legalen Unternehmungen der Reichswehr, die im Kabinett eher etatsrechtliche als grundsätzliche politische Auseinandersetzungen auslösten, standen die illegalen, d. h. Aufrüstung und Übungen, die nach dem Versailler Vertrag nicht gestattet waren184. Ein großer Teil der Versuche mit verbotenen Waffen und Geräten wurde in Rußland durchgeführt. Das Kabinett und also auch die sozialdemokratischen Mitglieder waren hierüber unterrichtet, und es scheint deshalb keine politischen Meinungsverschiedenheiten gegeben zu haben185. Im Februar 1930 stand lediglich zur Diskussion, wie die Abordnung von Reichswehrangehörigen nach Rußland besser geheimgehalten werden könne. Bei dieser Gelegenheit wies der Reichswehrminister lobend auf die Fortschritte und die vorbildliche Disziplin der Roten Armee hin186. Gerade die Auseinandersetzungen über die Reichswehr zeigten, daß im Kabinett leichter als zwischen den Parteien ein Konsensus zu erreichen war; daß aber, was für dieses Kabinett schwer wog, besonders die sozialdemokratischen Minister, um das Einverständnis innerhalb der Regierung zu erhalten, sich von ihrer Parteilinie entfernten.

184

Die Geheimhaltung der illegalen Reichswehrtätigkeit dürfte ein Grund gewesen sein, daß sich die RWeM intensiv an der Diskussion über die Hoch- und Landesverratsbestimmungen des vorgesehenen neuen Strafgesetzbuches beteiligte (Dok. Nr. 70, P. 3; 79, P. 4; 147; 162, P. 1). Eigene Spionage und Spionageabwehr im besetzten Gebiet lehnte Groener wegen der daraus erwachsenden Gefährdung für die Bevölkerung ab (Dok. Nr. 103, P. 1).

185

Differenzen gab es zwischen der Reichswehr und Preußen über die Richtlinien für den Grenzschutz (Dok. Nr. 181).

186

Dok. Nr. 42; Anm. 4 zu Dok. Nr. 433; Anm. 2 zu Dok. Nr. 452.

Ähnliche Gefahren drohten in einem anderen Bereich, der von der Finanzlage des Reichs weit abhängiger war als die Reichswehr: Die Sozialpolitik des Kabinetts Hermann Müller ist von den unterschiedlichen Auffassungen einer spezifischen Arbeitnehmerpartei, der SPD, und einer spezifischen Arbeitgeberpartei, der DVP, geprägt worden. Gemeinsamen Anschauungen in der Reparations- und Außenhandelspolitik stand die unterschiedliche Einstellung zur Fürsorgepflicht des Staats gegenüber. Setzte sich die Volkspartei für eine möglichst weitreichende Eigensicherung des Einzelnen ein, so fand sie dafür die Unterstützung der DDP, während die Sozialdemokraten, die es als Aufgabe des Staates ansahen, daß er Hilfsbedürftige ausreichend versorge, auf Zustimmung aus den Reihen des Zentrums und der BVP hoffen konnte. Aber die eigentliche Auseinandersetzung trugen doch SPD und DVP als Flügel der Koalition miteinander aus; denn beide Parteien standen, wie sie selbst erklärten, im Kampf gegen radikale Kräfte, die ihnen Wählerstimmen zu rauben drohten, und mußten daher auf ihren Prinzipien beharren, um ihre Glaubwürdigkeit zu bewahren. Das galt für die DVP, die aus den Reichstagswahlen als Verlierer hervorgegangen war, zunächst noch stärker als für die SPD, deren Arbeitsminister Wissell[XLVI] aber während der zunehmenden Wirtschaftskrise immer hartnäckiger seine sozialpolitischen Ansichten verteidigte.

Sozialpolitische Richtlinien scheinen während der ersten Koalitionsverhandlungen und der Besprechung des Regierungsprogramms im Sommer 1928 nicht erörtert worden zu sein187.

187

Dieser Eindruck wird unterstrichen durch die Äußerung Curtius’ über die Vorlage Wissells zur Erweiterung der Angestelltenversicherung. Curtius bedauerte diese Ausweitung, die ohne vorherige Absprache über das sozialpolitische Gesamtproblem getroffen und nicht im Rahmen der gesamten Sozialpolitik geprüft worden sei (Dok. Nr. 2, P. 2; 14, P. 2).

Ein Opfer der schlechten Kassenlage und der rückläufigen Konjunktur waren die Fürsorgeempfänger und Rentner. Während der Besprechung der Regierungserklärung hatte der Reichskanzler noch Minister Koch-Wesers Formulierung zugestimmt, daß dieser Personenkreis besser gestellt werden solle; aber im Dezember 1928 bestand darüber Einigkeit im Kabinett, daß im Gegensatz zum Vorjahre den Kleinrentnern keine Beihilfe zu Weihnachten gewährt werden könne. Die Forderungen der Rentner auf gesetzlich geregelte Versorgungsansprüche sollten außerdem wegen der Finanzlage dilatorisch behandelt werden188. Als dann aber Wissell im Januar 1929 vor dem sozialpolitischen Ausschuß erklären wollte, daß eine gesetzliche Regelung der Kleinrentnerfürsorge nicht möglich sei, verhinderten das die DDP-Minister Dietrich und Koch-Weser aus Sorge vor den politischen Konsequenzen. Das Kabinett beschloß in den Etat 35 Millionen RM für die Kleinrentnerhilfe einzusetzen; weitere Maßnahmen, waren allerdings erst nach Überwindung der finanziellen Belastung des Reichs und Verabschiedung des Etats durchzuführen. Demgegenüber beschloß der Sozialpolitische Reichstagsausschuß auf Antrag der Sozialdemokraten Leistungen für die Rentner in Höhe von 1 Milliarde RM, eine Summe, die sich, wie im Kabinett gesagt wurde, auf die alliierten Reparationsforderungen bei der derzeit laufenden Pariser Sachverständigenkonferenz auswirken mußten; Wissell meinte jedoch, der Ausschuß habe nicht angenommen, daß seine Forderungen voll erfüllt würden. Der Reichskanzler warnte vor dem eigenmächtigen Vorgehen der Parteien in dieser Frage und erklärte, daß er mit den Fraktionsführern sprechen werde, damit sie ihre Anträge angesichts der Finanz- und Wirtschaftssituation nicht weiter verfolgten189.

188

In der gleichen Kabinettssitzung wurde beschlossen, daß die Reichsbeamten eine Nachzahlung in Höhe von 16,6 Mio RM für die Monate Oktober bis Dezember 1927 erhalten sollten. Eine Weihnachtsbeihilfe für die Kleinrentner, wie sie 1927 geleistet und im RT von der KPD gefordert wurde, hätte etwa 26 Mio RM betragen (Dok. Nr. 2, P. 2; 82, P. 2 , 4. u. 9).

189

Dok. Nr. 131, P. 1 u. 2.

Die Sorge um die Mittel für die Unterstützung der Rentner und Kriegsopfer führte schließlich im Sommer 1929 zu Differenzen zwischen dem Arbeits- und dem Finanzministerium, das nicht gewillt war, die steigenden Nachforderungen des Reichsarbeitsministeriums zu erfüllen. Aber in einer Besprechung mit den Sachverständigen der Regierungsfraktionen Anfang Oktober 1929, kamen die Vertreter des Kabinetts und der Parteien dahin überein, daß es nicht nur aus moralischen und rechtlichen Gründen, sondern auch um der Opposition zu begegnen und den Eindruck eines bevorstehenden Staatsbankrotts zu vermeiden, notwendig sei, in den Nachtragshaushalt 40–50 Millionen RM für die[XLVII] Kriegsopfer einzustellen. Andererseits verzögerte jedoch das Kabinett trotz der steigenden Unruhe der Kleinrentner eine Entscheidung über ihre Unterstützung und beschloß schließlich im März 1930, die Gesetzentwürfe bis zur Klärung der Steuerfrage zurückzustellen, da über den Umfang und den Personenkreis der Rentnerfürsorge Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ressorts bestanden190.

190

Dok. Nr. 270; 312; 467, P. 1.

Eine ernste Gefahr für den Bestand des Kabinetts bedeutete der Arbeitskampf in der Ruhreisenindustrie im Herbst 1928, da dieser Lohnstreit an die Sozialordnung der Weimarer Republik rührte, Verbandsinteressen über die Parteien bis in die Regierung drangen und die Ressortkompetenzen des Arbeitsministeriums beeinträchtigt wurden:

Nachdem in der nordwestdeutschen Eisenindustrie die Gewerkschaften die Tarife gekündigt hatten und Verhandlungen mit den Arbeitgebern ohne Ergebnis geblieben waren, hatten diese den Schiedsspruch des Landesschlichters verworfen und die Arbeiter ausgesperrt. Einen Beschluß des Kabinetts zu dieser Auseinandersetzung lehnte der Arbeitsminister ab, da hiermit ein Eingriff in sein Ressort verbunden sei; er schilderte aber auf Wunsch des Wirtschaftsministers die Verhältnisse. Minister Curtius hob dann hervor, daß der Schiedsspruch des Schlichters formale und materielle Mängel enthalten habe und daß die Industriellen auf Grund der Wirtschaftslage sich keinem „Machtspruch des Reichs“, nämlich der Verbindlichkeitserklärung durch den Arbeitsminister, fügen könnten. Demgegenüber wies der Innenminister auf die grundsätzliche Bedeutung dieses Arbeitskampfes hin. Die Unternehmer hätten die Absicht, eine prinzipielle Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften herbeizuführen, ferner wollten sie die konjunkturelle Situation zu ihrem Vorteil ausnützen. Werde die Verbindlichkeit des Schiedsspruchs abgelehnt, dann habe die staatliche Schlichtungsordnung versagt191.

191

Dok. Nr. 52.

Neben dieser politischen Auseinandersetzung mußte das Kabinett die Frage lösen, wie den Ausgesperrten, die nach den gesetzlichen Bestimmungen keine Arbeitslosenunterstützung erhalten durften, geholfen werden könne. Minister Curtius lehnte, nachdem es im Kabinett zu Differenzen über den Kreis der Unterstützungsbedürftigen und die Form der Hilfeleistung gekommen war, eine direkte Unterstützung durch die Reichsregierung ab und drohte mit der Demission der DVP-Minister, falls diese überstimmt würden. Ein Ausweg wurde schließlich dadurch gefunden, daß über die preußische Regierung Reichszuschüsse zur Fürsorge ins Aussperrungsgebiet geleitet wurden. Erneut protestierten der Wirtschaftsminister und seine Parteifreunde, als sie den Eindruck gewannen, daß die Höhe der Unterstützungen, die bei Gewerkschaftsangehörigen gelegentlich das Lohnniveau erreichten oder sogar übertrafen, zur Fortdauer des Lohnkampfes beitragen würde192.

192

Dok. Nr. 60, P. 1; 67; 73; 78, P. 2; 79, P. 1; 83, P. 2.

Weil der Streit sich auf andere Industriezweige auswirkte und den deutschen Kredit im Ausland bedrohte, mußte die Regierung Initiativen zur Schlichtung ergreifen. In getrennten Besprechungen mit Unternehmern und Gewerkschaftsführern[XLVIII] wurde am 30. November 1928 geklärt, ob sie damit einverstanden sein würden, daß, wie Curtius vorgeschlagen hatte, Innenminister Severing zum Oberschiedsrichter ernannt werde, und ob sie seinen Schiedsspruch als bindend anerkennen wollten. Die Arbeitgeber stimmten dem Vorschlag zu, nachdem sie ihre bisherige Haltung und die Ablehnung staatlicher Eingriffe in die Industrie und Wirtschaft begründet hatten. Durch Albert Vögler ließen sie erklären, die Zustimmung bedeute, daß sie sich „nur von wirtschaftlichen Beweggründen hätten leiten lassen, daß ihnen also irgendwelches Vorgehen etwa gegen die Republik oder eine sozialistische Staatsform oder gegen das Reichskabinett oder gegen einen einzelnen Minister, insbesondere gegen die Person des Reichsarbeitsministers, ferngelegen habe“. Schwieriger war es für den Reichskanzler, die Zustimmung der Gewerkschaftsverbände zu erlangen, da sie meinten, ihre Rechte würden gemindert, wenn ein Oberschiedsrichter eingeschaltet werde; denn sie hatten dem Schiedsspruch des Landesschlichters zugestimmt und mußten nun befürchten, daß eine Korrektur zugunsten der Unternehmer erfolgen werde, die sich „über Recht und Gesetz hinweggesetzt und den Kampf gewollt hätten, während das Recht auf seiten der Arbeitnehmer sei“. Dennoch stimmten schließlich auch die Gewerkschaften der Berufung Severings zu. Ihm gelang es, den Lohnstreit zu beenden, nachdem mit seiner Berufung als Schiedsrichter die Aussperrungen beendet worden waren193.

193

Dok. Nr. 73; 76; 77; 79, P. 1.

In diesem Streit waren die Kompetenzen des Arbeitsministers vom Kabinett zumindest eingeengt worden, daher lehnte Wissell auch jede Einmischung ab, als er eine Verbindlichkeitserklärung im Lohnstreit der sächsischen Textilindustrie abzugeben hatte. Eine Klärung, wieweit das Kabinett aus politischen Gründen in die Eigenständigkeit des Arbeitsressorts eingreifen dürfe, wurde vom Kabinett Müller nicht herbeigeführt194.

194

Dok. Nr. 85, P. 3. Zu den besonderen Bedingungen der Lohnauseinandersetzungen bei der RB-Gesellschaft s. Dok. Nr. 176; 179, P. 2; 186, P. 2.

Die Unterstützung der Arbeiter in der Eisenindustrie rührte bereits an das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, das der Reichstag im Jahr 1927 angenommen hatte, das aber, wie sich zeigen sollte, nicht geeignet war, die Probleme einer wirtschaftlichen Rezession mit schnell zunehmender Arbeitslosigkeit von langer Dauer zu bewältigen; denn die Eigenmittel der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung reichten nach nur einjährigem Bestehen der reichsgesetzlichen Arbeitslosenunterstützung nicht aus, um ein Millionenheer von Arbeitslosen zu unterstützen. Das Reich mußte Zuschüsse und Kredite trotz seiner eigenen Kassennot gewähren. Daß eine Reform erforderlich sei, war unter diesen Umständen den Parteien wie dem Kabinett bewußt. Der Streit brach über Art und Umfang der Reform aus, und seine Intensität steigerte sich mit der Verminderung der Reichsfinanzen.

Die Problematik der Arbeitslosenversicherung beschäftigte das Kabinett Müller II erstmals im August 1928, als Arbeitsminister Wissell beantragte, die Krisenfürsorge für jene Arbeitnehmer zu verlängern, die wegen der Dauer ihrer Erwerbslosigkeit aus der Arbeitslosenversicherung ausgesteuert seien. Trotz der Belastung des Etats stimmte der Reichsfinanzminister dieser Maßnahme zu.[XLIX] Dagegen stieß sie bei Unternehmern und Gewerkschaften auf Widerspruch. Die Arbeitgeberverbände sahen in ihr eine ungerechtfertigte Haushaltsbelastung, die nur erfolge, um die wegen des Panzerkreuzerbaues erregten Arbeiter zu beruhigen; den Gewerkschaften erschienen die Unterstützungsdauer zu kurz und der Personenkreis zu eng bemessen195. Damit hatte über diesen Teil der Sozialpolitik ein Streit begonnen196, der sich bis zur Demission des Kabinetts fortsetzte, wobei die Abhängigkeit der Reichsanstalt von Reichsmitteln den liberalen Parteien und den Unternehmerverbänden ständigen Anlaß zur Kritik bot197. Das Kabinett selbst erblickte frühzeitig in den Dauerzahlungen an die Reichsanstalt eine Gefährdung seiner durch Einnahmeminderungen ohnehin bedrohten Etatspolitik, vor allem nachdem wegen der zunehmenden und langanhaltenden Winterarbeitslosigkeit 1928/1929 zusätzliche Beträge aufgebracht werden mußten. Der Wirtschafts- und der Ernährungsminister befürchteten außerdem, daß negative Rückschlüsse auf die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gezogen werden könnten, wenn der Kreis der Empfänger von Krisenunterstützung nochmals erweitert werde198.

195

Dok. Nr. 12, P. 6; 14, P. 3; 16; 17.

196

Noch im August beschloß das Kabinett gegen den Wirtschaftsminister, wegen der rückläufigen Konjunktur die verlängerte Fürsorge bereits im September und nicht erst im November eintreten zu lassen. Zu einer Erhöhung des Etats der Krisenfürsorge entschloß sich die Regierung am 30.10.28 (Dok. Nr. 18, P. 4; 53, P. 5). Die Gewerkschaften wiederholten und verschärften ihre Kritik Anfang 1929 (Dok. Nr. 129).

197

z. B. Dok. Nr. 100.

198

Auf negative Auswirkungen für die Wirtschaft und zusätzliche Arbeitslosigkeit bei Kreditrestriktionen wies StS Pünder Ende April hin (Dok. Nr. 182).

Die strapazierte Kassenlage führte bereits im April 1929 zu Erörterungen über die Reform der Arbeitslosenversicherung zwischen den Ressorts für Arbeit, Finanzen und Wirtschaft; dabei lehnte der Wirtschaftsminister als Sprecher der DVP Beitragserhöhungen ab und verlangte stattdessen, daß die Leistungen der Versicherung bis zu einer inneren Reform den Gegebenheiten angepaßt werden müßten. Am 6. Mai 1929 legte Minister Wissell dem Kabinett seine Vorstellungen über die Novelle zum Gesetz über Arbeitslosenversicherung vor: In einem Sofortprogramm sollten Maßnahmen ergriffen werden, um „Unzuträglichkeiten“ des Gesetzes abzustellen; er schlug vor, die Beiträge von 3 auf 4% zu erhöhen und die Fürsorge bei Saisonarbeitslosigkeit zu verlängern. Ferner sollten durch eine Enquête die Voraussetzungen für eine Reform der Arbeitslosenversicherung geklärt werden. Aber diese Vorstellungen stießen im Kabinett auf Kritik. Reichskanzler und Verkehrsminister verlangten, daß nur in Sonderfällen eine Beteiligung des Reichs an der Arbeitslosenversicherung erfolgen dürfe. Minister Curtius lehnte die Enquête ab und forderte dafür, den sofortigen Beginn eine „systematische Sanierung“ der Reichsanstalt; erst danach dürfe über eine Erhöhung der Beiträge gesprochen werden. Finanzminister Hilferding urteilte aus haushaltspolitischen Erwägungen, daß das Reformprogramm nicht genüge, um die bestehenden Schwierigkeiten zu beseitigen.

Erneute Ressortbesprechungen, die der Reichskanzler angeregt hatte, blieben erfolglos. Und eine Gesetzesvorlage des Arbeitsministers, die neben der Berufung eines Enquêteausschusses auch wieder das Sofortprogramm und die[L] Verlängerung der Fürsorge für Saisonarbeiter vorsah, löste allein deshalb Kontroversen aus, weil der Begriff der Arbeitslosigkeit umstritten war und auch über Saisonarbeiter, Beitragserhöhungen und die Behandlung jugendlicher Arbeitsloser unterschiedliche Anschauungen im Kabinett bestanden. Einigkeit wurde nur über die Einsetzung der Enquêtekommission erzielt. Zwar wünschten die Minister Dietrich und Severing, „politische Unzuträglichkeiten“ dadurch zu umgehen, daß die Grenze zwischen Sofort- und Reformprogramm aufgehoben und beide gemeinsam in der Herbsttagung dem Reichstag vorgelegt würden, doch der Reichskanzler sah sofortige Schritte auf die bereits angekündigte Reform hin als notwendig an und wurde darin von den Ministern Curtius und Hilferding unterstützt. Darüber hinaus erklärte Minister Stresemann, daß durch ein Sofortprogramm der Reformwille und die Absicht bezeugt würden, die Wirtschaft lebensfähig zu halten. Nur dadurch lasse sich die DVP gewinnen, an der Verwirklichung der Pariser Reparationsergebnisse mitzuarbeiten199.

199

Dok. Nr. 187; 196, P. 2; 207, P. 2; 213, P. 1.

Zur Vorbereitung der Aussprache im Reichstag lag dem Interfraktionellen Ausschuß der Koalitionsparteien das Sofortprogramm ohne die umstrittenen Punkte vor. Doch Mitte Juni 1929 mußte Minister Wissell mitteilen, daß sich die unterschiedlichen Auffassungen nicht überbrücken ließen; während die Sozialdemokraten auf Einbeziehung der Saisonarbeiterfrage und der Beitragsregelung in der Reform bestünden, hätten die Mitglieder der DVP jegliche Beitragserhöhung zurückgewiesen und auf Sicherstellung der Leistungen bei der Reichsanstalt durch Leistungsabbau gedrängt. Der Kanzler und die Minister Severing und Wissell neigten nunmehr dazu, das Sofortprogramm nicht weiter zu verfolgen, da der Reichsrat die Novelle zum Gesetz über Arbeitslosenversicherung nicht mehr rechtzeitig vor der Sommerpause behandeln werde. Nachdem der Kanzler es abgelehnt hatte, den gesetzgebenden Körperschaften eine lückenhafte Kabinettsvorlage zuzuleiten, nahm das Kabinett mit knapper Mehrheit den Antrag Wissells an, das Sofortprogramm auszusetzen. Da aber DVP und DDP eigene Gesetzentwürfe zur Reform der Arbeitslosenversicherung vorlegten, traf das Kabinett mit den Koalitionsparteien die Übereinkunft, der Enquêteausschuß solle seine Arbeit derart beschleunigen, daß noch in der ersten Augusthälfte eine Gesetzesnovelle vorgelegt werden könne200.

200

Dok. Nr. 229, P. 3; 232.

Die Monate August und September 1929 brachten für die Reichsregierung eine doppelte Belastung: einmal durch die außen- und innenpolitische Diskussion der Reparationsfrage, dann aber vor allem durch die Behandlung der Reform der Arbeitslosenversicherung im Kabinett, mit den Parteien und mit den Ländern. In diesen Auseinandersetzungen glitt – wie die Dokumente zeigen – der Regierung die Führung aus den Händen; denn die vorbereitenden Besprechungen der Gesetzentwürfe durch die Regierung wuchsen sich zu einem schweren Zerwürfnis der Koalition aus. Um zu beschwichtigen, verzichtete das Kabinett darauf, die Streitpunkte zu klären und damit die Probleme wirklich anzupacken. Minister Wissell legte Anfang August einen Gesetzentwurf vor; doch dieser entsprach weder den Einsparungsvorschlägen der Enquêtekommission noch den[LI] Leistungserwartungen der Gewerkschaften und der Sozialdemokraten. Die SPD lehnte daher auch die Vorlage Wissells ab, während die DVP eine Weiterleitung an den Sozialpolitischen Ausschuß des Reichstags forderte. Ausgleichsbemühungen der vier zur Reparationskonferenz im Haag weilenden Minister blieben fruchtlos, da zwischen den Ressorts die Differenzen über den Inhalt der Reform zunahmen. Uneinigkeit bestand auch darüber, ob die Gesetzesinitiative beim Kabinett bleiben oder dem Parlament überlassen werden solle. Hinzu kamen Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Arbeits- und dem Finanzminister über den finanziellen Bedarf der Arbeitslosenversicherung.

Am 15. August mußte den Parteiführern der Koalition erklärt werden, daß die gegensätzlichen Ansichten der Kabinettsmitglieder die Vorlage eines Gesetzentwurfs verhindert hätten. Infolgedessen konnten Beratungen im Sozialpolitischen Ausschuß, die der DVP versprochen worden waren, nicht stattfinden, und der verärgerte Fraktionsvorsitzende der DVP Scholz drohte mit dem Bruch der Koalition. Doch konnte diese Drohung durch interfraktionelle Besprechungen aufgefangen werden, in denen die Beitragserhöhung, Fragen der Krankenversicherung bei Arbeitslosen und die Fürsorge für Saisonarbeiter erneut zur Debatte standen, an deren Ende Arbeitsminister Wissell einen neuen Gesetzentwurf vorlegte. In ihm war eine Staffelung der Unterstützungssätze und eine Beitragserhöhung auf 3½% bis zum 31.3.31 vorgesehen. Einsparungen, wie sie die Enquêtekommission vorgeschlagen hatte, waren in der neuen Vorlage Wissells aber nicht enthalten. Ferner fehlten Ausführungen darüber, wie die Reichsanstalt von Reichszuschüssen unabhängig gemacht werden könne. Die Lösung dieser Aufgabe sollte dem Sozialpolitischen Ausschuß überlassen bleiben. Offen blieben auch die Fragen der Leistungshöhe, der Regelung bei Saisonarbeitern, der Wartezeit. Da die Koalitionsparteien wiederum zu keiner einheitlichen Stellungnahme gelangen konnten, sollte die Aussprache in den Sozialpolitischen Ausschuß verlegt werden. Freilich vermochte auch diese Vertagung die grundsätzlichen Differenzen im Kabinett und zwischen den Parteien nicht aufzuheben, Differenzen, die dadurch an Gewicht gewannen, daß auch die Öffentlichkeit sich in die Diskussion einschaltete und Kritik an der Dauer und Vergeblichkeit der Verhandlungen übte201.

201

Dok. Nr. 264268; 271273; 274, P. 2; 277; 278.

Allein das Bewußtsein und die Mahnung, daß der Bruch der Koalition einen günstigen Abschluß der Reparationskonferenzen verhindern werde, hielt die Koalition und das Kabinett noch zusammen, nachdem sich insbesondere in der sozialpolitischen Grundsatzentscheidung über Fragen der Beitragshöhe und der Leistungen der Arbeitslosenversicherung zwischen Sozialdemokraten und Volkspartei eine Kluft aufgetan hatte und der Reichskanzler wegen seiner schweren Erkrankung nicht vermittelnd eingreifen konnte. Er hatte zudem zwischen seinen Parteifreunden Hilferding und Wissell einen Streit zu schlichten, der sich daraus ergeben hatte, daß der Finanzminister die Ausgabeanmeldungen des Arbeitsministers für die Arbeitslosenversicherung zurückwies202.

202

Anm. 1 zu Dok. Nr. 282; Dok. Nr. 284. Aus den Akten der Rkei entsteht der Eindruck, daß die treibende Kraft in dieser Auseinandersetzung StS Popitz gewesen ist (Dok. Nr. 266, P. 1; 270; 274, P. 2; 280).

[LII] In Kabinettssitzungen und Parteiführerbesprechungen hatten sich inzwischen die Fronten gebildet: Die Vertreter der DDP neigten eindeutig der Haltung der DVP zu; und Zentrum und BVP erwiesen sich sozialpolitisch nicht als Verbündete der Sozialdemokraten, sondern versuchten, in den Fragen der Leistung, der Beitragserhöhung und der Dauer des neuen Gesetzes eine Mittlerstellung einzunehmen, die der DVP entgegenkam, allerdings auch der SPD die Tür für eine Verständigung offenhielt203.

203

Dok. Nr. 282284. Zur Haltung des Zentrums während der sozialpolitischen Koalitionskrise s. die von R. Morsey herausgegebenen Fraktionsprotokolle.

Da dennoch von den Koalitionsparteien nicht mehr zu erwarten war, daß sie einen Ausweg aus der Krise finden würden und daher die Reichsregierung keine Initiative zu ergreifen vermochte, kam man auf den Gedanken, den Reichsrat für die Verständigung einzuschalten und durch „sachliche“ Verhandlungen der Ländervertreter und eine „wegweisende“ Abstimmung über die Vorlage des Arbeitsministers den Parteien neue Impulse zu Kompromissen zu geben. Voraussetzung war jedoch, daß das Preußische Staatsministerium, das sich bisher neutral verhalten hatte, sich zur Zusammenarbeit mit der Reichsregierung bereit erklärte. Es gelang dem Staatssekretär in der Reichskanzlei, die Bereitschaft der preußischen Regierung zu gewinnen, indem er ihr zusicherte, daß die Reichsregierung einer Kompromißvorlage des Reichsrats nicht mit einer Doppelvorlage begegnen werde. Die Einschaltung Preußens veranlaßte den Reichsarbeitsminister, von seiner starren Haltung in allen Fragen der Leistungsminderung abzugehen, doch warnte er vor den politischen Auswirkungen und einer Trennung der sozialdemokratischen Minister von ihrer Partei. Immerhin kam ein Kompromiß zustande, wonach die Streitfragen einschließlich der umstrittenen Beitragserhöhung um ½% in einem befristeten Sondergesetz (bis 31. 3. 31) zusammengefaßt werden und in einem weiteren Gesetz die eigentlichen Reformmaßnahmen erfolgen sollten204. Doch nun zeigte sich der Widerstand der übrigen Länder, die sich aus den Vorberatungen ausgeschlossen fühlten und die gemeinsame Unterrichtung durch das Reich und Preußen als eine Zurücksetzung empfanden: Nurch durch die Bewilligung zusätzlicher Reichsmittel für Wanderarbeiter in Lippe gelangte der befristete Gesetzentwurf mit einer Stimme Mehrheit, nämlich der Lippes, zur Annahme im Reichsrat. Nachdem dort auch das Hauptgesetz mit einigen Änderungen beschlossen worden war, denen sowohl die Vertreter der Reichsregierung wie die Preußens widersprochen hatten, verlangte Wissell, daß das Kabinett im Reichstag eine Doppelvorlage einbringe. Dafür sprach, daß der Sozialpolitische Ausschuß bereits von der Entscheidung des Reichsrats abweichende Beschlüsse gefaßt hatte, dagegen die Absprache Pünders mit dem Preußischen Staatsministerium. Minister Hilferding warnte davor, durch eine Ablehnung des Antrags die SPD in eine Krise zu führen, und so stimmte das Kabinett – ohne die Minister der DVP – der Doppelvorlage zu. Aber damit war die erhoffte politische Beruhigung der Koalitionsparteien zunichte gemacht205.

204

Dok. Dr. 284–286; 288; 289, P. 1.

205

Dok. Nr. 290; 291; 294, P. 2; 297.

[LIII] Um zu einem einheitlichen Vorgehen der Koalition im Reichstag zu gelangen, waren erneute Parteiführerbesprechungen Ende September 1929 erforderlich, in denen die DVP alle Beitragserhöhungen für die Arbeitslosenversicherung ablehnte. Dabei konnte sie der Zustimmung der demokratischen Fraktion sicher sein206. Der DVP-Fraktionsvorsitzende Scholz berief sich, um die Haltung seiner Partei zu untermauern, auf den von den Sozialdemokraten bestrittenen Grundsatz des Kabinetts, „eine Reform der Arbeitslosenversicherung mit dem Ziel der Entlastung des Reichsetats und dem weiteren Ziel der Entlastung der Wirtschaft“ herbeizuführen. Dem nun unabwendbar erscheinenden Bruch der Koalition versuchte Außenminister Stresemann durch den Vorschlag auszuweichen, daß die weitere Behandlung der Arbeitslosenversicherung bis zur Annahme der Youngplangesetze ausgesetzt werde; dagegen sprach aber neben allgemein- und finanzpolitischen Erwägungen auch die Notwendigkeit, die auslaufenden Bestimmungen über die Saisonarbeiter zu erneuern. Das Kabinett setzte die Erörterungen fort.

206

Unterstützt wurde die DVP auch durch den RdI (Dok. Nr. 302).

Die versteifte Haltung der Parteien ließ Kompromißversuche scheitern, während in der Öffentlichkeit sich der Eindruck verfestigte, das Kabinett selbst stehe nicht mehr zu seinen Entwürfen. Der Versuch des nach Berlin zurückgekehrten Kanzlers, eine Verbindung zwischen Arbeitslosenversicherung und dem gleichfalls angekündigten Finanzreformprogramm herzustellen und dadurch eine Verständigungsbasis zu schaffen, zeigte lediglich, daß auch die Mitglieder des Kabinetts kaum noch zu einer Einigung fähig waren. Nachdrücklich warnte Ernährungsminister Dietrich vor den Folgen dieser Krise: „Letzten Endes handele es sich jetzt um die endgültige Entscheidung im Kampf um die Republik.“ Die Erkenntnis, daß die drohende Regierungskrise in Verbindung mit dem Volksbegehren gegen den Youngplan zum Verlust der bisherigen reparationspolitischen Erfolge der Koalition führen werde, veranlaßte schließlich die Parteien Anfang Oktober 1929 zu Kompromissen. Die DVP ließ sich von Minister Stresemann gewinnen, bei der Abstimmung über die Beitragserhöhung sich der Stimme zu enthalten. Arbeitsminister Wissell erleichterte diese Haltung dadurch, daß er den umstrittenen Gesetzentwurf über befristete Änderungen zurückzog207.

207

Dok. Nr. 295, P. 3; 296; 298, P. 1 u. 2; 305, P. 3; 306, P. 2; 308; 309.

Das Gesamtproblem der Arbeitslosenversicherung war damit aber nur kurzfristig zurückgestellt worden. Erneut kam dieser Fragenkreis zur Sprache durch das Finanzreformprogramm, das Hilferding Anfang Dezember 1929 vorlegte, und durch die Etatsberatungen für das Jahr 1930, die im Kabinett und zwischen den Koalitionsparteien geführt wurden. Wiederum verlangten die Vertreter der DVP eine Reform der Reichsanstalt mit eventuellen Leistungsminderungen, während der Reichsarbeitsminister eine Beitragserhöhung um ¾% forderte208. Die Zuspitzung dieses Streites, die schließlich im Rücktritt des Kabinetts endete,[LIV] war eng mit finanzpolitischen Erwägungen verflochten, da die Koalitionspartner die Haushaltslage zum Vehikel ihrer sozialpolitischen Anschauungen und Gegensätze machten; für die Endphase des Kabinetts sind daher beide Problemkreise im Zusammenhang aufzuzeigen.

208

Dok. Nr. 363; 374, P. 2. Auch für die Dauer des im Sofortprogramm der Regierung vorgesehenen GesEntw. über eine befristete Erhöhung des Beitrags zur ALV konnte nur im Wege des Kompromisses eine Einigung zwischen den Parteien erreicht werden, wobei DVP und Zentrum eng zusammen arbeiteten (Dok. Nr. 388, P. 1).

Dem Ende der Inflation und dem Abschluß des Dawesplanes im Jahr 1924 war eine Überschwemmung Deutschland mit ausländischen Krediten gefolgt, die die Reichsbank nicht hatte aufhalten können. Wirtschaft und öffentliche Hand wetteiferten in Investitionen und Ausgaben. Das Reich selbst hatte durch eine strenge Steuergesetzgebung im ersten Jahr nach der Währungsstabilisierung einen Überschuß von 880 Millionen RM gewonnen. Dieser Betrag war nicht thesauriert worden, sondern bereits in den nächsten drei Jahren infolge von Steuererleichterungen und zusätzliche Ausgaben des Reichs wie etwa für die 25%ige Erhöhung der Beamtengehälter und für die Reichsanstalt schnell dahin geschwunden. Kritisch hatte der Reparationsagent zu dieser Ausgabenwirtschaft bemerkt: „Wenn man die derzeitigen Tendenzen ungehindert fortgewähren läßt, so ist so gut wie sicher, daß die Folgen in ernsthaftem, wirtschaftlichen Rückschlag und Depression und einer heftigen Erschütterung des deutschen Kredits in In- und Ausland bestehen werden209.“ Schon im Frühjahr 1927 hatte eine noch von Reinhold, dem Finanzminister des dritten Kabinetts Marx, vorbereitete Anleihe des Reichs auf dem Inlandsmarkt dessen völlige Ausschöpfung zur Folge gehabt. An die Stelle der „Kassenfülle“ war die „Kassennot“ getreten. So hatte Finanzminister Köhler, als er den Reichshaushalt für das Jahr 1928 im Parlament einbrachte, erklären müssen, daß sämtliche Reserven des Jahres 1924 aufgebraucht seien, daß der Betriebsmittelfonds nur noch aus einem Bagatellbetrag bestehe und auch keine Einnahmen aus Münzgewinnen zu erwarten seien. Gleichzeitig waren die Anforderungen an Reparationsleistungen – nach den Londoner Gesetzen von 1924 – auf den vollen Betrag der Dawesbelastung gestiegen, nämlich auf 2,5 Milliarden jährlich, zuzüglich einer nach einem Wohlstandsindex zu berechnenden Summe.

209

Schultheß 1927, S. 489 ff. Bedenklich waren auch die Verbindlichkeiten der deutschen Wirtschaft im Ausland, die der RbkPräs. im Jahr 1928 mit 15 Mrd. RM ansetzte (Dok. Nr. 11). Obgleich sich die Regierung der Gefahren dieser Verschuldung bewußt war, erklärte der RK dem frz. Außenminister Briand in Genf im September 1928, Deutschland sei auf die ausländischen Kredite für seine Wirtschaft angewiesen und werde schon, um diese nicht zu verlieren, seine Reparationsverpflichtungen erfüllen (Dok. Nr. 20).

Zwei Monate vor den Reichstagswahlen des Jahres 1928 stellte im Reichstag der Sozialdemokrat Rudolf Hilferding im Rückblick auf die Finanzpolitik der zu Ende gehenden Legislaturperiode fest: „Ich glaube, um die Erbschaft wird sich niemand reißen. Wir haben einmal eine solche Erbschaft angetreten; das war die Erbschaft nach dem Reichsfinanzminister Hermes [1923]. Noch ein zweites Mal wird sich keiner finden, der diese Erbschaft antritt, ohne nicht vorher genau festgestellt zu haben, wen die Verantwortung trifft; […]“. Doch Hilferding selbst war es nach der Regierungsbildung, der diese Erbschaft antrat und als Finanzminister mit dem Etat arbeiten mußte, den er am 28. März 1928 im Namen seiner Fraktionen abgelehnt hatte210.

210

RT-Bd. 395, S. 13844 , 13846 .

[LV] In seiner letzten Etatrede vor der Ernennung zum Minister hatte Hilferding kritisiert, daß im Widerspruch zu den sozialpolitischen Bestimmungen, die in der sogenannten „lex Brüning“ enthalten waren, die Lohnsteuer nicht gesenkt worden sei. Als Finanzminister sorgte er dafür, daß bald nach dem Zusammentritt des Reichstags die sozialdemokratische Fraktion mit einem Initiativantrag dieses Versäumnis des vorigen Kabinetts wiedergutmachte211. Eine finanzpolitische Aufgabe, die Reichskanzler Müller bei der Besprechung der Regierungserklärung genannt hatte, war damit gelöst. Ferner sollten die Auslandsanleihen überprüft und die Steuern vereinheitlicht und vereinfacht werden. Sogar der Versuch war vorgesehen, eine Vermögensnachversteuerung durchzuführen, obwohl sich die übrigen Parteien gegen eine entsprechende Forderung der Sozialdemokraten bei den Koalitionsgesprächen gewandt hatten212. Doch die steuer- und finanzpolitischen Pläne scheiterten an den ungünstigen Vorbedingungen, mit denen sich das Kabinett auseinanderzusetzen hatte. Die Regierung hatte von ihren Vorgängern ein Kassendefizit von 1,5 Milliarden und ein Haushaltsdefizit von 1,5 Millionen RM übernommen, die bei einem Haushaltsvolumen von 9,5 Milliarden RM nur durch umfassende Einsparungen und Reformen ausgeglichen werden konnten.

211

RT-Bd. 395, S. 13842 ; Dok. Nr. 6, P. 2.

212

Dok. Nr. 1; 2, P. 2.

Schon anläßlich des Beschlusses, den Bauauftrag für den Panzerkreuzer A zu erteilen, wies Hilferding im August 1928 das Kabinett auf die ungünstige Entwicklung der Kassenlage hin. Unterstrichen wurden seine Ausführungen durch die Berichte des Reichsbankpräsidenten vom Juli, dann auch vom November 1928, aus denen mit aller Eindeutigkeit hervorging, daß die Konjunktur nicht stagnierte, sondern daß eine Rezession eingesetzt hatte. Der Finanzminister hatte also damit zu rechnen, daß die Steuereingänge hinter der erwarteten Größenordnung zurückbleiben würden213.

213

Dok. Nr. 11; 15, P. 2; 59. Im Februar erklärte dann Schacht, daß ganze Industriezweige von dem wirtschaftlichen Rückgang betroffen seien (Dok. Nr. 123). Mit den Angaben über die defizitäre Etats- und Kassenlage zu Beginn der Kabinettstätigkeit demonstrierte Hilferding in der Aussprache mit dem RbkPräs. am 4.12.29, daß die Regierung Müller und er selber an der katastrophalen Entwicklung der Finanzpolitik unschuldig seien und sogar Verbesserungen herbeigeführt hätten (Dok. Nr. 367).

Bei der Vorlage des Nachtragshaushalts für 1928 und des Haushalts für 1929 setzte der Finanzminister seinen Kollegen auseinander, nunmehr stehe fest, daß auch für den Etat 1929 mit einem Defizit zu rechnen sei, wenn sich nicht neue Steuern erschließen ließen. Aus reparationspolitischen Überlegungen und um den deutschen Kredit im Ausland nicht zu gefährden, lehnte Hilferding im Gegensatz zu Curtius und Dietrich einen Defizithaushalt ab. Die Ansicht des Wirtschafts- und des Ernährungsministers, daß in einem Notjahr wie 1929 ein unbalanzierter Haushalt vertretbar sei, entsprach jedoch der des Deutschen Industrie- und Handelstag vor. Im Gegensatz zu den Plänen des Reichsfinanzministeriums stellte dieses Gremium fest, das Reich dürfe die Wirtschaft keinesfalls mit neuen Steuern belasten. Vielmehr sei der Etatsausgleich durch Verschiebungen im Haushalt und durch Einsparungen bei sozialpolitischen Ausgaben,[LVI] wie etwa bei den Darlehensverpflichtungen gegenüber der Arbeitslosenversicherung, herbeizuführen214.

214

Dok. Nr. 57, P. 2; 85, P. 2; 90, P. 1; 100. Bemerkenswert ist an dem Schreiben des Deutschen Industrie- und Handelstages an den RK, daß in ihm ganz unverhohlen die finanz- und sozialpolitischen Argumente der DVP benutzt wurden und das Kabinett aufgefordert wird, einem DVP-GesEntw. über Ausgabenbeschränkungen durchzusetzen.

Wenn auch der Haushaltsplan des Reichsfinanzministeriums für 1929 Widerspruch ausgelöst hatte und zwar generell wegen der Steueransätze bei der DVP und speziell wegen der geplanten Erhöhung der Biersteuer bei der BVP, so billigte dennoch das Kabinett den Etatsplan Hilferdings nach nur dreitägiger Debatte. Auf Wunsch des Wirtschaftsministers berichtete der Finanzminister im Januar 1929 der Presse über die Kassenverhältnisse des Reichs, die es zweifelhaft erscheinen ließen, daß zum Ende des Etatsjahres, d. h. zum Märzultimo, die Gehaltszahlungen an die Beamten und die Steuerüberweisungen an die Länder erfolgen würden. Da der Reichsbankpräsident einen Kredit an das Reich ablehnte und Einsparungen vorschlug, mußte Hilferding an ein Bankenkonsortium herantreten, das ihm den benötigten Betrag vorstreckte215. Zu dieser Kassennot kam eine Regierungskrise, da der Zentrums„beobachter“ von Guérard aus Protest Anfang Februar 1929 aus dem Kabinett ausgeschieden war, weil – wie oben dargestellt – personalpolitische Kontroversen zwischen DVP und Zentrum über die Besetzung von Ministerien im Reich und in Preußen verhinderten, daß das Zentrum weitere Minister in die Reichsregierung entsenden konnte. Doch nicht das Zentrum trieb in den folgenden Monaten eine oppositionelle Politik gegenüber der Regierung, sondern die DVP, die sich auch durch eine beschwörende Rede ihres Vorsitzenden Stresemann nicht zu einer Tolerierung der Steueransätze in Hilferdings Haushaltsplan bewegen ließ. Zwei Monate dauerte der Streit über den Haushalt, der zugleich die Bildung einer wirklichen Koalition verhinderte216.

215

Dok. Nr. 90, P. 1; 102; 104, P. 2; 106, P. 1.

216

Dok. Nr. 72; 116; 117; 121; 132; 133; 142, P. 1 u. 2; 155, P. 3. Das Zentrum gab Ende März 1929 doch noch deutlich der Regierung zu verstehen, daß es nicht gewillt sei, die Verantwortung für den Haushalt zu übernehmen, solange es am Kabinett unbeteiligt sei (Dok. Nr. 159).

Die partei- und finanzpolitische Unruhe führte zu Überlegungen, wie eine effektive Einschränkung der Ausgaben erreicht werden könne. Das Kabinett legte im März 1929 eine Denkschrift vor, die ein umfassendes Finanzreformprogramm in Aussicht stellte. Aber diese Denkschrift, die bei den Reparationsbesprechungen in Paris benutzt werden sollte, erschien der deutschen Sachverständigendelegation unzureichend. Sie schlugen die Bildung eines fünfzehnköpfigen Beratergremiums beim Reichspräsidenten vor, das ein Vetorecht gegen die Bewilligungen des Parlaments erhalten sollte. Als einer der Berater war der Reichsbankpräsident vorgesehen, dem ex officio eine führende Rolle zugefallen wäre. Dem Kabinett wurde dieser Vorschlag von dem Industriellen Vögler, dem zweiten deutschen Hauptdelegierten in Paris, unterbreitet; aber Müller und Hilferding lehnten es ab, zu diesem kritischen Zeitpunkt das Parlament auch noch mit einer Verfassungsänderung zu belasten217.

217

Dok. Nr. 141; 144; 156; 161. Es ist auffällig, daß bald nach der Ablehnung dieses Vorschlags eine merkliche Abkühlung im Verhältnis von RReg. und RbkPräs. festzustellen ist, die durch die kontroversen Ansichten über die Taktik bei den Reparationsverhandlungen und das Verhalten des RbkPräs. bei Kreditwünschen des RFM verstärkt wurde. – Erneut wurde die Absicht, die Stellung des RFM verfassungsmäßig zu ergänzen, von der DVP im Herbst 1929 vorgetragen, als sie die Funktionen des RSparKom. erweitern wollte (Dok. Nr. 365, P. 4).

[LVII] Hilferding hatte den Reichshaushalt aufgestellt, ohne zunächst die möglichen Ersparnisse aus einer Verminderung der Reparationslasten einzusetzen. Dafür war in der genannten Denkschrift zur Finanzreform eine Steuersenkung für den Fall vorgesehen, daß in Zukunft ein Überschuß zu verzeichnen sei. Ferner verpflichtete sich das Reich, die Ausgaben der öffentlichen Hand in Ländern und Gemeinden zu kontrollieren und für eine Neuregelung der Arbeitslosenversicherung dergestalt zu sorgen, daß die Reichsanstalt auf die Dauer unabhängig von Zuschüssen des Reichs arbeite. Der Haushaltsentwurf Hilferdings für 1929 ging aber noch nicht so weit. Zur Balanzierung des Etats und zur Sanierung der Finanzen hatte der Minister eine Steuererhöhung von 380 Millionen Mark und eine Kürzung der Überweisungssteuern an die Länder um 120 Millionen vorgesehen. Unter dem Zwang, eine tragfähige Regierungsmehrheit im Parlament für die Reparationslösung zu erhalten, handelten die Finanzexperten der Mittelparteien und der SPD einen eigenen Etatsplan aus, der auf Streichungen in den Einzelhaushalten, Steuerhöherschätzungen, Aussetzung der „lex Brüning“ und Einbeziehung möglicher Reparationsersparnisse basierte. Obgleich das Kabinett diesen Entwurf Anfang April 1929 übernahm, verhehlten Kanzler und Finanzminister ihre Bedenken nicht, da die Deckungsvorlage völlig ungenügend sei. Darüber hinaus befürchtete der Staatssekretär in der Reichskanzlei Pünder vorbeugende Kreditrestriktionen der Reichsbank; um sie aufzuhalten, forderte er ein Ermächtigungsgesetz, daß eine Erweiterung der Ausgaben verhindere: „Vielleicht wäre es doch möglich, daß angesichts der eben eintretenden Entwicklung in Deutschland auch die bisher widerstrebenden Kreise für ein solches Ermächtigungsgesetz zu haben sein werden. Jedenfalls müßte ihnen ein solches Ermächtigungsgesetz doch wohl lieber sein, als selber vielleicht in wenigen Monaten Entschließungen treffen zu müssen, die für die Fraktionen als solche geradezu ein Harakiri bedeuten und sicher auch von keinem Reichstag getroffen würden.“ Ähnliche Gedanken wurden auch im Reichsfinanzministerium geäußert, wo Berechnungen ergeben hatten, daß weder erhöhte Einsparungen noch der Verkauf von Reichsvermögen den Kassenbedarf des Reichs, der mit 1 Milliarde RM bis zum 31. März 1930 angenommen wurde, decken würden218.

218

Dok. Nr. 156; 165, P. 1; 166169182, 187.

Von diesen Nachrichten beunruhigt, ließ Hermann Müller den Finanzminister vor dem Kabinett über die Lage referieren. Hilferding erklärte, daß nur eine Reichsanleihe in Höhe von 500 Millionen RM zu helfen vermöge, wenn sie außerdem noch steuerbegünstigt aufgelegt werde. Nur mühsam konnten die Minister der DVP und der DDP für diese ungewöhnliche Maßnahme gewonnen werden. Aber die Anleihe im Inland schlug fehl, weil seit der Anleihe Minister Reinholds im Jahr 1927 der Kapitalmarkt keine neuen Reserven hatte sammeln können; und eine Diskonterhöhung der Reichsbank, die sich gegen erhebliche Devisenabzüge durch Frankreich gerichtet hatte, beschränkte die Mittel der[LVIII] Privatbanken und anderer Zeichnungswilliger. Lediglich 187 Millionen Mark wurden begeben, die gerade ausreichten, um die kurzfristigen Bankdarlehen des Frühjahres abzuzahlen. Trotz der Drohung des Reichsbankpräsidenten, daß er Auslandsanleihen bekämpfen werde, da sie deutschen Kredit beeinträchtigten, blieb dem Finanzminister im Juni keine andere Wahl, als bei dem New Yorker Bankhaus Dillon-Read eine Anleihe zum Zinssatz von 8¼% aufzunehmen219.

219

Dok. Nr. 193.

Während die Reichsregierung sich im Sommer 1929 mit der Arbeitslosenversicherung auseinandergesetzt hatte und die Beratungen über den Youngplan innenpolitischen Zündstoff geschaffen hatten, hatte das Finanzministerium an den Plänen für das Finanzreformprogramm gearbeitet, das inzwischen vom Finanzminister der Öffentlichkeit angekündigt worden war. Das Programm, an dem Staatssekretär Popitz wesentlich beteiligt gewesen war, sah einen Abbau der Einkommenssteuer, Abschaffung der besonders die Landwirtschaft belastenden Rentenbankobligationen und der Industrieobligationen sowie Minderungen bei den Realsteuern vor. Ferner sollte die Steuerfreigrenze für Einkommen angehoben werden. Zum Ausgleich war wiederum an die Erhöhung der Biersteuer und verschiedener Verbrauchsabgaben gedacht worden. Als Hilferding Ende September das Kabinett über seinen Plan unterrichtete, lehnte Stresemann wegen der schwebenden Reparationsverhandlungen die öffentliche Bekanntgabe des Programms ab: „Er müsse darauf aufmerksam machen, daß Deutschland auf den Überschuß aus Liquidationen verzichten solle. Es handle sich hierbei zum Teil um beträchtliche Summen. Die Stellung unserer Unterhändler in diesen und anderen Fragen werde aufs äußerste gefährdet werden, wenn das Ausland erfahre, daß die Reichsregierung ein großes Steuersenkungsprogramm plane.“ Aus diesem Grund widersetzte sich der Außenminister auch der Verbindung des Finanzprogramms mit der Reform der Arbeitslosenversicherung220.

220

Dok. Nr. 268; 270; 305, P. 3; 311. Das Steuersenkungsprogramm war auch wesentlicher Bestandteil des Haushaltsplans für 1930 (Dok. Nr. 363).

Hilferding hatte seine Kabinettskollegen darauf aufmerksam gemacht, daß sein Reformprogramm zunächst eine Verminderung der Einnahmen nach sich ziehen werde, langfristig jedoch, wenn die Wirtschaft aus der Rezession durch die Steuerbegünstigung herausgeführt worden sei, vermehrte Einkünfte für das Reich zu erwarten seien. Die Minister beruhigten sich mit dieser Erklärung und mit der Ankündigung, daß das Finanzministerium von dem schwedischen Finanzier Ivar Kreuger gegen Verpfändung der ohnehin vom Zusammenbruch bedrohten deutschen Zündholzindustrie eine langjährige Anleihe über 500 Millionen Mark zu einem annehmbaren Zinssatz erhalten könne. Auch der Reichsbankpräsident billigte diese Transaktion, und Hilferding teilte dem Kabinett mit, daß mit der Kreugeranleihe kurzfristige Verpflichtungen des Reichs liquidiert und dadurch Zinsen eingespart würden: „Die Kassenlage des Reichs würde durch diese Anleihe auf absehbare Zeit gesichert.“ Doch die Regierung konnte über die Kreugeranleihe erst nach der auf das Jahr 1930 hinausgeschobenen Ratifikation de Youngplans verfügen, während die sich zunehmend verschlechternde[LIX] Kassenlage ergab, daß der Regierung die Mittel fehlten, um allen laufenden Zahlungsverpflichtungen des Reichs gerecht zu werden221.

221

Dok. Nr. 306, P. 4; 344, P. 3. Am Tag vor Abschluß der Kreugeranleihe fand der New Yorker Börsenkrach statt, dessen Auswirkungen auch die deutsche Wirtschaft trafen.

Neue kurzfristige Kredite waren erforderlich, gegen die aber, wie schon bekannt war, der Reichsbankpräsident Einspruch erheben würde. Zu einer Konfrontation Hilferdings mit Schacht kam es in den ersten Dezembertagen in der Reichskanzlei anläßlich einer Besprechung der Reparationsminister (Finanz-, Außen-, Wirtschafts- und Rheinminister) mit dem Reichsbankpräsidenten. Hilferding nutzte die Gelegenheit, um die Vorwürfe, die Schacht in der letzten Zeit gegen seine Finanzpolitik erhoben hatte, zurückzuweisen und die an dem Kassendefizit Schuldigen zu benennen. Zwar sprach sich auch Hilferding für eine schnelle Sanierung aus, aber Schachts Forderung, die deutsche Zahlungsunfähigkeit zu verkünden, erschien ihm politisch unzumutbar. Schacht verhielt sich allen Ausführungen Hilferdings gegenüber ablehnend und berief sich mehrfach auf das Finanzprogramm, das ihm im März angekündigt worden war, und verlangte die Durchführung der dort versprochenen Maßnahmen, mit denen sich das Reich von den drückenden Lasten befreien könne. Zu Hilferdings Forderung, Kreditverhandlungen des Reichs nicht durch Interventionen bei den Banken zu stören, sondern Neutralität zu wahren, nahm Schacht in einer weiteren Unterredung Stellung und erklärte, er werde „in der Frage der Kreditaufnahme schweigen, solange man ihn nicht frage. Neutralität könne er nicht zusichern“. Außerdem forderte er, daß die Regierung einen Fonds von 500 Millionen RM bilde, aus dem die Reichsschulden getilgt werden sollten. Die Minister hielten nun eine frühere Äußerung Schachts, daß er seine Auffassung über die Lage in einer Form, die niemanden schädigen werde, bekanntgeben wolle, für erledigt222.

222

Dok. Nr. 367.

Am 5. Dezember 1929 leitete Schacht der Presse eine Denkschrift zu, in der er neben der Reparationspolitik auch die Finanzpolitik des Kabinetts kritisierte. Der eigentliche Adressat der Denkschrift, der Reichskanzler, erhielt sie erst mit der Post, nachdem die Berliner Morgenzeitungen sie am 6. Dezember bereits veröffentlicht hatten. Verärgert über das Vorgehen des Reichsbankpräsidenten, genehmigte das Kabinett am gleichen Tag Hilferdings Gesetzentwurf für eine Anleihe, die wieder bei dem Bankhaus Dillon-Read aufgenommen werden sollte. Der erwartete Kredit in Höhe von 330 Millionen RM sollte gemeinsam mit der Reparationsentlastung durch den Youngplan dazu dienen, die erforderlichen 150 Millionen RM Zuschuß der Arbeitslosenversicherung zuzuführen und kurzfristige Verpflichtungen einzulösen223.

223

Dok. Nr. 369; 370; 371, P. 1 u. 3; 372, P. 1. Über den Haushaltsentwurf auf den die DVP drängend wartete, hatte Hilferding dem Kabinett bereits berichtet, doch sollte er zurückgehalten werden, bis durch den Abschluß der zweiten Haager Reparationskonferenz größere Klarheit über die Deckungsmöglichkeiten bestehen würden (Dok. Nr. 342, P. 5; 365, P. 4).

Drei Tage nach Schachts „Pronunciamento“ (Eyck) nahm das Kabinett das Finanzreformprogramm des Reichsfinanzministeriums an, das in seinem Inhalt den Ausführungen Hilferdings vom September und seinem Haushaltsplan, für 1930, von dem er Ende November dem Kabinett berichtet hatte, entsprach. Die[LX] Entlastung der Wirtschaft von Abgaben in Höhe von 910 Millionen RM sollte durch höhere Steuern für Tabak und Bier, sowie eine Neuregelung des Finanzausgleichs und genauere Kontrolle der Kommunalfinanzen ausgeglichen werden. Einwände erwartete der Finanzminister von den Ländern, insbesondere von Bayern, und Postminister Schätzel als Vertreter der BVP im Kabinett drohte auch sofort wegen der Biersteuer mit der Aufkündigung der Koalition. Letzter, aber keineswegs unwichtigster Punkt des Programms, war die Absicht, ein Schuldentilgungsgesetz vorzulegen. Besonders schwerwiegend nach den Differenzen im Sommer aber war der Vorschlag, die Arbeitslosenversicherung um ½% zu erhöhen. Zwar war Minister Moldenhauer im Gegensatz zu grundsätzlichen Äußerungen der DVP bereit, im Rahmen des Gesamtprogramms der Erhöhung zuzustimmen, aber für Arbeitsminister Wissell genügte ein halbes Prozent nicht. Er verlangte die Anhebung des Versicherungsbeitrages um dreiviertel Prozent, stieß aber auf Ablehnung bei dem Kanzler und dem Finanzminister, die das Finanzprogramm nicht gefährden wollten. Um psychologisch die Voraussetzungen für die schnelle Gewährung einer Reichsanleihe zu schaffen, schlug der Kanzler vor, die Tabaksteuer sofort durch Parteieninitiative in Kraft setzen zu lassen. Hierzu erhielt Müller die ausdrückliche Zustimmung der beiden DVP-Minister Curtius und Moldenhauer sowie des Verkehrsministers Stegerwald. Hilferding äußerte sich trotz des Verhaltens des Reichsbankpräsidenten zuversichtlich und befürchtete wegen des Auslandskredits keine Gefahren, da er sich die Vermittlung eines Konsortiums von Privatbanken gesichert hatte224.

224

Dok. Nr. 374, P. 2.

Schwierigkeiten bereitete dem Kabinett zunächst das Verhalten der Koalitionsparteien. Die Sozialdemokraten lehnten das Steuerprogramm ab, da es die Unternehmer einseitig begünstige, und die Volkspartei sprach sich gegen die Erhöhung der Arbeitslosenversicherung aus. Auch der Reichsrat erhob Protest; denn Hilferding hatte den Ländern auf Grund der geringen Reichseinnahmen mitteilen müssen, daß die Reichskasse nicht in der Lage sei, an sie zum Dezemberultimo die Überweisungen nach dem Finanzausgleichsgesetz abzuführen. Außerdem rügten die Länder, daß das Kabinett das Sofortprogramm durch einen Initiativantrag im Reichstag habe einbringen lassen und dadurch einer Stellungnahme des Reichsrats ausgewichen sei.

Für den Reichskanzler bedeutete die Gefährdung des Finanzprogramms eine Bedrohung der Politik seines Kabinetts, deshalb erklärte er den Koalitionsparteien, daß die Regierung mit ihrem Plan ungeachtet des Parteienstreits vor den Reichstag treten werde. Eine Demission kam für das Kabinett zu diesem Zeitpunkt nicht in Betracht, da sich die Ultimoschwierigkeiten dann nach Ansicht der Minister zu einer Staatskrise ausgeweitet hätten. Die Minister stimmten der Absicht des Kanzlers zu, mit der Vorlage des Finanzprogramms die Vertrauensfrage zu verbinden, um auf diese Weise die Reichstagsmehrheit wieder zusammenzuführen225. Schacht hatte inzwischen, nachdem ihm das Finanzprogramm mitgeteilt und der Besuch des Bankenkonsortiums angekündigt worden war,[LXI] das den Auslandskredit vermitteln wollte, dem Finanzminister geantwortet, der Besuch solle erst dann stattfinden, wenn ihm die Reichsregierung erklärt habe, in welcher Weise sie die von ihm geforderte Schuldentilgung von 500 Millionen RM zustande bringen wolle. Der Reichsbankpräsident erklärte gegenüber dem Reichskanzler, daß das Sofortprogramm der Regierung unzulänglich sei. Dazu meinte Müller vor dem Kabinett, eine Deckung des Defizits lasse sich dadurch erreichen, daß das Etatsdefizit voll in den Nachtragshaushalt 1929 eingestellt und durch die Erleichterungen des Youngplans ausgeglichen werde. Der Hauptetat für 1929 werde durch die Youngplaneinsparungen voll balanziert. Schließlich würden auch vom 1. Januar 1930 an die Mehreinnahmen durch die Tabaksteuer zur Verfügung stehen. In einem weiteren Gespräch mit Müller, an dem auch Wirtschaftsminister Moldenhauer und Finanzminister Hilferding teilnahmen, machte Schacht das Zugeständnis, von dem beabsichtigten Auslandskredit nur Kenntnis nehmen und keinen direkten Widerspruch erheben zu wollen; allerdings werde er antworten, wenn man ihn über die Kreditfähigkeit des Reichs befrage226.

225

Dok. Nr. 375377; 378, P. 1; 382; 396.

226

Dok. Nr. 378, 379.

Mittlerweile hatten die Koalitionsparteien im Reichstag zum Finanzreformprogramm Stellung genommen. Die SPD erklärte vor dem Parlament, sie wolle nur für das Sofortprogramm eintreten, da ihr die sozialpolitischen Voraussetzungen für eine kapitalfreundliche Steuergesetzgebung nicht gegeben erschienen. Darauf reagierte die DVP, die die Steuergesetze als Kriterium ihres Verhältnisses zum Kabinett ansah, mit der Drohung, sie werde ihre Minister aus dem Kabinett zurückziehen. Nach mühevollen Verhandlungen fanden die Parteien wieder zusammen – mit Ausnahme der BVP, die sich lediglich für das Sofortprogramm und für die Reparationspolitik der Regierung aussprechen wollte.

Am 14. Dezember 1929 fand die Abstimmung im Reichstag statt. Zuvor teilte der Kanzler mit, daß die Regierung eine verwaschene Vertrauensresolution nicht annehmen werde. Müller wies auch auf die Möglichkeit hin, daß der Reichspräsident das Parlament auflöse, und Hilferding meinte, daß er und mit ihm wahrscheinlich das Kabinett zurücktreten würde, wenn der Reichstag dem Sofortprogramm die Zustimmung versage. Trotz dieser Warnung gab es noch vor der Abstimmung zwischen den Koalitionsflügeln SPD und DVP eine Kontroverse über die Frage, ob die Einkommen- und die Vermögenssteuer in das Gesetz einzubeziehen seien; Staatssekretär Pünder gelang es auch diesen Streit beizulegen. Mit Mehrheit sprach der Reichstag dem Kabinett das Vertrauen aus; aber die BVP enthielt sich der Stimme, und sechzehn rechtsgerichtete Volksparteiler, unter ihnen Staatssekretär Schmid vom Rheinministerium, stimmten gegen die Regierung227.

227

Dok. Nr. 380384. Das Verhalten des StS Schmid löste scharfe Reaktionen im Kabinett aus, wo lediglich Minister Wirth sich nicht von ihm trennen wollte. Im Zusammenhang mit der Demission von Hilferding und Popitz wurde Schmid, vor allem auf Drängen der Sozialdemokraten, beurlaubt (Dok. Nr. 399, P. 4).

Zwei Tage später unterrichtete der Reichsbankpräsident aus seiner Sicht den Reichspräsidenten über die finanzielle Situation des Reichs. Trotz des Appells Hindenburgs, der Reichsregierung bei ihren Sanierungsbemühungen[LXII] beizustehen, lehnte Schacht ab. Am Abend dieses Tages stellte sich Schacht den Fraktionsführern der Koalitionsparteien und erklärte ihnen, daß er selbst nicht wisse, wie die von ihm verlangten 500 Millionen Mark zur Schuldentilgung aufgebracht werden könnten. Zu Severings Warnung, daß der Bestand des Reichs gefährdet sei, wenn die Regierung ohne Hilfe des Reichsbankpräsidenten aus kassentechnischen Gründen zurücktreten müsse, erwiderte Schacht, der Innenminister solle sich in dieser Angelegenheit an den Reichstag wenden. „Er selbst habe nur eine Wählerstimme von 40 Millionen.“ Auf diesem Standpunkt verharrte Schacht, solange er bei dieser Besprechung noch anwesend war. Nach seinem Fortgang bestand bei den Fraktionsführern und den Kabinettsmitgliedern Einigkeit, nunmehr mit dem Bankhaus Dillon-Read den genehmigten Kreditvertrag abzuschließen. Die notwendigen Schritte wurden unverzüglich eingeleitet, und der Bank wurde mitgeteilt, daß auch der Reichspräsident das Kreditgesuch der Regierung billige228.

228

Das Gespräch Schachts mit Hindenburg scheint vom RbkPräs. recht lebhaft geführt worden zu sein (Tagebuchnotiz Pünders vom 19.12.29, Politik in der Reichskanzlei, S. 32); Dok. Nr. 387; 389; 390.

Doch nachdem der Kreditantrag gestellt worden war, erhoben sich von gewichtiger Seite Einwendungen: Der Reparationsagent Parker Gilbert wandte sich gegen diesen Kredit, da ihm die Reichsfinanzen nur augenblicklich geschwächt, im Kern aber gesund erschienen. Die französische Regierung legte in scharfer Form Protest gegen die deutsche Anleihe ein, weil sie die von Frankreich beabsichtigte Mobilisierung deutscher Schuldverschreibungen beeinträchtigen werde. Schließlich trug das deutsche Bankenkonsortium Bedenken, gegen das Veto Schachts den Kredit zu vermitteln. Als sich die National City Bank an den Reichsbankpräsidenten wandte, um Erkundigungen über den deutschen Kredit einzuziehen, resignierte der Kanzler und forderte das Kabinett auf, sich mit dem Schuldentilgungsfonds abzufinden, den Schacht verlangt hatte, da keine Aussicht mehr bestehe, den angestrebten Auslandskredit zu erhalten. Der 14. Punkt des Finanzreformprogramms vom 9. Dezember 1929 wurde nun weit vorgezogen, und die beabsichtigte Steuersenkung, auf der die Reform basierte und die zu einer langfristigen Wirtschaftssanierung hatte führen sollen, wurde hinfällig. Müller meinte vor dem Kabinett, jetzt werde es sich zeigen, ob Schacht seine Haltung mildern oder die Verantwortung für die Demission der Regierung tragen wolle. Tatsächlich beschaffte der Reichsbankpräsident den Kredit, den die Reichsregierung benötigte; allerdings genügte Schacht eine feierliche Verpflichtung, die Schulden zu tilgen, nicht, sondern er bestand auf einem Gesetz.

Diese Entwicklung machte die Demission des Finanzministers unvermeidlich. In der SPD-Fraktion wurde Hilferding angegriffen, weil er der DVP zu weit entgegengekommen sei. Die anderen Parteien warfen ihm fehlerhafte Ressortführung vor und berieten die Nachfolge im Finanzressort. Die DVP ergriff die Initiative und entsandte die Minister Curtius und Moldenhauer zum Kanzler, dem sie mit ihrem Rücktritt drohten, wenn Hilferding nicht bis zum Abend des 20. Dezembers sein Amt niedergelegt habe. In einer langdauernden Kabinettssitzung prallten die Gegensätze aufeinander, als Müller die Ansichten der Minister über den Rücktritt Hilferdings kennenlernen wollte. Die DVP-Minister[LXIII] warfen Hilferding und seinem Staatssekretär Popitz fortdauernde Verschleierung der wahren Zustände vor, und die Minister der SPD meinten wie die Fraktion, Hilferding sei mit seiner Finanzpolitik gescheitert, weil er sich an die DVP-Wünsche angelehnt habe. Hilferding hatte zu diesem Zeitpunkt bereits gemeinsam mit Popitz den Rücktritt eingereicht, wobei sie erklärten, sie demissionierten, da Schacht ihr Konzept zerstört habe229. Seither kämpfte die SPD-Fraktion gegen den Reichsbankpräsidenten und versuchte, seine Unabhängigkeit zu beseitigen230.

229

Dok. Nr. 391395397; 398; 399, P. 2; 403. Zum Verhalten der SPD gegenüber Hilferding vgl. W. Keil, Erlebnisse eines Sozialdemokraten II, S. 361 ff.; zur Meinung der Zentrumsfraktion s. R. Morsey, Protokolle der Reichstagsfraktion, S. 366.

230

Der Rücktritt Schachts ist dann, wie schon dargestellt, aus reparationspolitischen Gründen erfolgt. Zu den Angriffen der SPD und die Reaktion des RK s. Dok. Nr. 414; 417, P. 1; 425; 427; 431.

Die vordringliche Aufgabe der inneren Politik war zu Beginn des Jahres 1930, den Haushaltsplan für das kommende Etatsjahr zu beschließen, der die Ersparnisse aus dem Youngplan aufnehmen sollte, damit die Schulden und Defizite abgedeckt würden. Vor der Reichstagsfraktion der SPD wies Hermann Müller Mitte Januar 1930 darauf hin, daß die Ultimoschwierigkeiten fortbestünden und neue Steuern erforderlich seien, um dem Reich finanzielle Unabhängigkeit von Reichsbank und Privatbanken zu verschaffen. Das Parlament dürfe keinesfalls weiterhin Ausgaben beschließen, für die keine Deckung vorhanden sei. Der Etat müsse noch vor dem 31. März vom Parlament verabschiedet werden, wenn eine Regierungskrise verhindert werden solle. „Wenn die Finanzen nicht in Ordnung kommen, wird sich binnen kurzem das parlamentarische System in einem ganz kritischen Zustand befinden231.“ Auf diese Krise trieb jedoch das Kabinett unaufhaltsam zu.

231

Aufzeichnung Müllers vom 13.1.30 (SPD: Nachlaß Müller  O III).

Die Finanzlage des Reichs hatte sich nach dem Sturz Hilferdings und der Ernennung Moldenhauers zum Finanzminister nicht verbessert. Das Loch im Etat, das es zu flicken galt, hatte sich sogar vergrößert, da die Zahl der Arbeitslosen stetig anstieg und ohne Reichshilfe die Reichsanstalt zahlungsunfähig war. Das Kabinett stand vor der Frage, wie es die ungedeckte Summe von 700 Millionen Mark absichern sollte, die im Etat durch den Schuldentilgungsfonds und die Überweisung an die Arbeitslosenversicherung bestand. Die Behandlung dieses Problems mußte zwangsläufig die offenen Gegensätze zwischen den Koalitionsflügeln, die seit dem Spätsommer 1929 sich auch auf das Kabinett auswirkten, noch verstärken. Aus der Sorge, daß das Kabinett, ohne den Haushaltsplan gebilligt zu haben, zurücktreten werde, wenn erst einmal der Youngplan seine parlamentarische Erledigung gefunden habe, verweigerte das Zentrum seine Zustimmung zu dem neuen Reparationsabkommen, solange nicht der Etat beschlossen sei232.

232

Zu den sozialpolitischen Kontroversen traten erschwerend die Forderungen der Reichswehr, die bereits erwähnt worden sind. Dann wirkte sich auch auf das Koalitionsklima aus, daß sich die BVP der Stellungnahme des Zentrums anschloß und ein Junktim von Etats- und Youngplan-Abstimmung verlangte. Dok. Nr. 405, P. 2; 426, P. 2; 432; 437. Zu dem Verhalten des Zentrums in der letzten Phase der Großen Koalition s. R. Morsey, Protokolle der Reichstagsfraktion S. 375 ff.

[LXIV] Anfang Februar 1930 begannen im Kabinett und mit den Parteien die Gespräche über die Möglichkeit, den Haushalt zu balanzieren. Die Diskussion konzentrierte sich sofort auf die Frage, wie das Verhältnis des Reichs zur Reichsanstalt gestaltet werden solle und welche zusätzlichen Einnahmequellen vom Reich noch ausgeschöpft werden könnten. Der Vorschlag des Finanzministers, die Darlehen des Reichs zugunsten der Arbeitslosenversicherung dadurch zu beseitigen, daß die Angestelltenversicherung und die Landesversicherungsanstalten als Kreditgeber herangezogen oder daß durch den Verkauf von Reichsbahnvorzugsaktien an die Versicherungen Mittel freigestellt würden, die der Reichsanstalt zugeleitet werden könnten, stießen auf die entschiedene Ablehnung des Arbeitsministers, der als einzige Alternative zur Kreditgabe durch das Reich die Erhöhung des Beitrags auf 4% anerkennen wollte. Gegen Ende des Monats verschärfte sich die sozialpolitische Kontroverse im Kabinett, obwohl der Reichskanzler versuchte, bei seinem Parteifreund Wissell für die Argumentation Moldenhauers Verständnis zu gewinnen. Aber nun forderte der Finanzminister weitere sozialpolitische Ausgabebeschränkungen bei der Invalidenversicherung, der wertschaffenden Arbeitslosenfürsorge und bei der Kapitalabfindung für Kriegsversehrte. Er legte sogar sein Veto ein, als sein Vorschlag, auch die Wochenhilfe auf ein Viertel des Etatsansatzes zu kürzen, vom Kabinett mit Mehrheit abgelehnt wurde. Nur ein Kompromiß bewahrte das Kabinett vor den letzten Konsequenzen, und Moldenhauer zog seinen Einspruch zurück.

Umstritten wie die Arbeitslosenfürsorge waren die Überlegungen, welche Steuern und Zölle angehoben oder neu eingeführt werden könnten. Während die Sozialdemokraten und mit ihnen Minister Stegerwald vor einer einseitigen Belastung der Massen durch Verbrauchssteuern warnten und Minister Severing sich für eine direkte Steuer einsetzte, mit der der kommunistischen Agitation begegnet werden könne, wiesen die Vertreter der DVP, der DDP und Minister von Guérard auf die Auswirkungen in der Wirtschaft hin und befürchteten eine steigende Kapitalflucht. Außerdem lenkten die Liberalen die Aufmerksamkeit auf die Industriebelastung, die trotz des neuen Reparationsplanes weiterbestehe, aber nun zugunsten des Reichs ausgenützt werde. Ferner meinten sie, wenn schon im Gegensatz zum Finanzreformprogramm vom Dezember 1929 für das Jahr 1930 selbst keine Steuersenkung erfolge, dann müsse sie aber jetzt schon für das Jahr 1931 fest vorgesehen werden. Hiergegen erhoben wiederum die Sozialdemokraten Einspruch, da nach ihrer Meinung die wirtschaftliche Lage einen derartigen Vorgriff auf zukünftige finanzpolitische Entscheidungen nicht zulasse233.

233

Dok. Nr. 432; 434, P. 2; 437; 444; 449, P. 3; 451, P. 2 u. 3454; 455; 457.

Noch in der ersten Februarhälfte hatte Verkehrsminister Stegerwald versucht, einen Ausweg aus den sozial- und finanzpolitischen Gegensätzen zu bahnen, indem er vorschlug, daß, den Zeitverhältnissen angepaßt, die Zentralarbeitsgemeinschaft von Arbeitgebern und Arbeitnehmern neugegründet werden solle. Außerdem schlug er vor, von den Festbesoldeten solle ein einmaliges Notopfer in Höhe von 1½ bis 2% des Gehalts erhoben werden, mit dem dann die[LXV] Kosten der Arbeitslosenversicherung gedeckt würden234. Moldenhauer ging zögernd auf den Plan ein, der im Kabinett mehrfach diskutiert wurde. Als die Minister über das Notopfer abstimmten, votierten nur die Sozialdemokraten und die Zentrumspolitiker positiv, und Moldenhauer mußte erklären, nachdem auch der Reichspräsident für das Notopfer eingetreten war, daß dennoch in seiner Fraktion erhebliche Einwände erhoben würden. Anfang März lehnte die DVP tatsächlich das Notopfer ab, um die Beamten nicht vor den Kopf zu stoßen. In dem entsprechenden Fraktionsbeschluß forderte die DVP wie auch gleichzeitig die DDP, daß gesetzlich eine Steuersenkung für das Jahr 1931 vorzusehen sei, wenn sie schon nicht 1930 stattfinden könne235.

234

Dok. Nr. 442. Zur Reaktion der Zentrumsfraktion auf diese Denkschrift s. R. Morsey, Protokolle der Reichstagsfraktion …, S. 386 ff.

235

Dok. Nr. 455; 457; 458. Die Ablehnung der DVP wog umso schwerer, als der Reichspräsident im direkten Gespräch an den Fraktionsvorsitzenden Scholz appelliert hatte, die Partei möge sich am Notopfer beteiligen.

Obgleich bei den sozialdemokratischen Ministern nach Severings Aussage nicht mehr der Eindruck bestand, daß das Kabinett noch eine „Notgemeinschaft“ bilde, wurde der Versuch nicht aufgegeben, gegen alle Widerstände die Koalition zusammenzuhalten und zwar nicht nur für die Abstimmung über den Youngplan, bei der die BVP eigene Wege gehen sollte, sondern auch zur Erledigung des Haushalts. Die Minister Severing und Stegerwald erwogen im Gegensatz zum Kanzler und Minister von Guérard, ob der Artikel 48 angewendet werden könne; der Kanzler wollte aber auf die Unterstützung der Kabinettsbeschlüsse durch das Parlament nicht verzichten.

Minister Moldenhauer versuchte durch einen modifizierten Rückgriff auf frühere eigene Überlegungen eine Kompromißmöglichkeit für den Arbeitsminister zu schaffen, indem er die Bildung eines Notstocks aus der Industriebelastung und den Verkauf von Vorzugsaktien zugunsten der Reichsanstalt und eine Beitragserhöhung um ½% vorschlug. Das Kabinett stimmte diesem Lösungsvorschlag, in den auch wieder Wünsche zur Reform der Arbeitslosenversicherung eingebettet waren, trotz Bedenken des Arbeitsministers und seiner sozialdemokratischen Kollegen am 5. März 1930 zu; aber die DVP ließ ihren Parteifreund Moldenhauer im Stich, da sie auch weiterhin auf steuerlicher Begünstigung der Wirtschaft und einer Reform der Arbeitslosenversicherung bestand, die der Reichsanstalt das Recht geben sollte, in finanziellen Notlagen Leistungsminderungen zu verfügen236.

236

Dok. Nr. 444; 458; 460, P. 2; 461; 462; 469. Daß der RFM der Reform der Reichsanstalt große Bedeutung beimaß, zeigen seine Äußerungen anläßlich einer Rede am 15.3.30 (Dok. Nr. 479).

Unmittelbar vor der dritten Lesung der Youngplan-Gesetze im Reichstag mußte der Reichskanzler feststellen, daß die Verhandlungen über den Haushalt und das damit verbundene Finanzprogramm gescheitert seien. Mit ihrer Ablehnung des Finanzprogramms hatte sich die Volkspartei allerdings isoliert. Die Rumpfkoalition suchte nach einem Ausweg, der insbesondere dem Zentrum erleichtert wurde, da der Reichspräsident dem Fraktionsvorsitzenden Brüning zusicherte, er werde alle verfassungsmäßigen Mittel einsetzen, damit die neuen[LXVI] Finanzgesetze rechtzeitig in Kraft treten würden. Auf dieser Basis einigten sich die Unterhändler von Zentrum, BVP, DDP und SPD, auf Biersteuer und Kapitalertragssteuer zu verzichten, dafür aber andere Verbrauchssteuern dem Reich ganz zufallen zu lassen bzw. sie zu erhöhen. Für das Jahr 1931 wurde eine umfangreiche Steuersenkung vorgesehen. Der Reichskanzler gestand den Parteien zu, daß diese Vorschläge die Basis für weitere Verhandlungen im Reichstag sein könnten, aber er bedauerte offensichtlich, daß die DVP an der Einigung der Parteien nicht beteiligt worden war. Die Regierung selbst wollte von ihren eigenen Vorlagen, die im Reichsrat beraten wurden, noch nicht abgehen237. Immerhin schien sich mit dieser Lösung ein Ausweg aus den Differenzen der Koalition anzubahnen. Für vierzehn Tage stand das Karussell der Haushaltsberatungen still, das sich zu seinen letzten Drehungen in Bewegung setzte, als der Mannheimer Parteitag der DVP vom 21. und 22. März vorüber war.

237

Dok. Nr. 470; 471; 476. Die Sozialdemokraten haben diese Einigung wegen der von ihnen abgelehnten Steuervorausmaßnahmen nur unwillig mitgemacht.

Am 25. März 1930 traten Kabinett und Parteiführer erneut zu Besprechungen zusammen. Aus den drei Hauptthemen Arbeitslosenversicherung, Steuersenkung und Einsparungen, Deckung des Haushalts 1930, kristallisierte sich die Arbeitslosenversicherung als der entscheidende Streitpunkt heraus. Die Volkspartei bestand auf inneren Reformen in der Versicherung, nämlich finanzieller Autonomie der Reichsanstalt, die selbständig die Höhe der Leistungen bestimmen sollte. Allein hierin sah die Volkspartei die Voraussetzung, den Beitrag über 3½% hinaus zu erhöhen. Demgegenüber forderten die Sozialdemokraten, daß das Reich den Bedarf der Reichsanstalt gegebenenfalls mit Darlehen decke, daß ferner der Vorstand der Reichsanstalt die Beiträge im Jahr 1930 auf 3¾% erhöhen dürfe und daß schließlich die Leistungsänderungen weiterhin nur auf dem Weg der Gesetzgebung erfolgen sollten. Da sich in den anderen Fragen der Deckung des Etats eine Verständigung anzubahnen schien, schlug der Fraktionsvorsitzende des Zentrums, Brüning, nach einer Beratung der Parteien als Kompromiß vor, die Beitragshöhe bei 3½% zu belassen und für 1930 der Reichsanstalt einen Reichszuschuß von 150 Millionen RM zu gewähren. Bei einer Verschlechterung der Arbeitsmarktlage sollten weitere Darlehen des Reichs mit der Maßgabe erfolgen, daß diese durch Erhöhungen der Beiträge oder Erschließung anderer Einnahmen ausgeglichen würden. In einer weiteren Besprechung der Parteiführer mit dem Kabinett stimmten die Vertreter des Zentrums, der DDP und der BVP dem Vermittlungsvorschlag zu. Dagegen hatten die Vertreter der Volkspartei Bedenken, da ihnen der Zwang zur Reform „nicht genügend stark zum Ausdruck“ kam. Die Sozialdemokraten verwarfen aus prinzipiellen Erwägungen den Kompromißvorschlag überhaupt und erklärten, daß sie die Kabinettsvorlage vom 5. März, die damals auch von dem Volksparteiler Moldenhauer mitgetragen worden war und eine Beitragshöhe von 4% vorsah, für die bessere Lösung hielten. Den Fraktionen der Koalition wurde im Anschluß an diese Besprechung Brünings Kompromißvorschlag mit einer Abänderung unterbreitet. Sie hatte zum Inhalt, daß – entsprechend den Vorstellungen der DVP – die Reichsregierung bei zusätzlichen Darlehen an die Reichsanstalt[LXVII] „alsbald ein Gesetz vorzulegen“ habe, „das entweder durch Beitragserhöhungen die Rückzahlung der Darlehen ermöglicht oder durch eine Reform des Gesetzes über AVAVG den Ausgleich zwischen Einnahmen und Ausgaben herstellt oder zur Deckung der für die Darlehen aufzuwendenden Beträge dem Reiche die notwendigen Mittel zuführt“. Eine Entscheidung der Parteien wurde bis zum Nachmittag erwartet.

In der Zwischenzeit tagte das Kabinett und erörterte den Sachstand. Dabei stellte sich heraus, daß Arbeitsminister Wissell den Standpunkt seiner Partei vertrat und auf der Regierungsvorlage vom 5. März beharrte. Auch Moldenhauer sah in ihr die bessere Lösung, meinte aber, daß das Kabinett den Parteien folgen müsse238. Andererseits bestand er darauf, daß die Minister bei ihren Parteien darauf drängen sollten, einen Beschluß des Haushaltsausschusses rückgängig zu machen, der eine Entscheidung des Kabinetts zum Nachtragshaushalt 1929 abänderte239. Als dies jedoch nicht gelang und die Mehrheit des Reichstagsplenums den von der DVP abgelehnten Ausschußbeschluß unterstützte, sah der Finanzminister hierin eine wesentliche Beeinträchtigung seiner Wirkungsmöglichkeiten. Dem Kabinettsprotokoll der letzten Sitzung des Kabinetts Müller II nach stellte sich nunmehr Moldenhauer fest auf den Boden der Beschlüsse seiner Partei.

238

Dok. Nr. 462; 484; 486; 487; 488, P. 2.

239

Dok. Nr. 405, P. 1; 417, P. 3; 449, P. 3; 488, P. 1; 489, P. 2.

Die DVP hatte, wie am Nachmittag des 27. März bekannt wurde, ebenso wie das Zentrum und die DDP dem Gesamtprogramm der letzten Beratungen, also der Deckungsvorlage und Brünings Kompromißvorschlag, zugestimmt, während die BVP das Gesamtprogramm verworfen und die SPD sich auf die Regierungsvorlage zurückgezogen hatte. Die Zustimmung der DVP war jedoch mit der Einschränkung versehen, daß sie sich an den Etatsberatungen nur dann beteiligen werde, wenn der Kompromißvorschlag gebilligt worden sei. Der Reichskanzler, Minister Severing und die Minister des Zentrums hatten am Vormittag Moldenhauers Ansicht zugestimmt, daß das Kabinett der Vereinbarung der Parteien zu folgen habe; nun stellte sich die Frage, ob das Kabinett auch ohne Rückendeckung durch die Parteien vor den Reichstag treten sollte. Die Minister Dietrich, Schätzel und Severing setzten sich dafür ein, im Reichstag eine Entscheidung zu erzwingen, wobei Severing auf die Gefahren für die Wirtschaft hinwies, die aus einer Regierungskrise entstehen würden. Der Reichskanzler hatte bereits nach der Bekanntgabe der Fraktionsentscheidungen erklärt, daß eine Behandlung der Deckungsvorlage im Steuerausschuß oder ihre Durchsetzung mit Hilfe des Artikels 48 nur möglich sei, wenn die Minister zusammenblieben. Doch Moldenhauer wies das Kabinett darauf hin, daß der Artikel 48 nicht mehr zur Anwendung gelangen könne, da die Differenzen zwischen den Koalitionspartnern zu groß geworden seien. Staatssekretär Meissner teilte dann auch mit, der Reichspräsident werde den Artikel 48 zur Sicherung des Etats nur einsetzen, wenn das Kabinett zu festen Beschlüssen gelangt sei. Auf das Drängen der Minister des Zentrums hin wurde danach die Sitzung unterbrochen. Noch einmal trafen die Minister mit ihren Fraktionen zusammen. Die Sozialdemokraten lehnten[LXVIII] unter dem Einfluß des Gewerkschaftsflügels mit Mehrheit erneut den Kompromiß ab. Mit der Mehrheit der Fraktion stimmte Minister Wissell; zur Minderheit gehörten der Reichskanzler, die Minister Severing und Schmidt und der ehemalige Finanzminister Hilferding. Doch dieser Beschluß kommt im Protokoll der letzten Kabinettssitzung nicht zur Sprache, wohl aber der der Volkspartei, die sich gegen den Vorschlag ausgesprochen hatte, die Deckungsvorlagen im Steuerausschuß verabschieden zu lassen. Aus diesem Grund forderte Minister Moldenhauer den Rücktritt des Kabinetts und kündigte seine eigene Demission für den Fall an, daß die Mehrheit der Minister sich für eine Vorlage im Ausschuß aussprechen sollte. Damit war die letzte Hoffnung des Kanzlers, mit einer geschlossenen Regierungsmannschaft die Kabinettsvorlage zu verteidigen, hinfällig geworden. Der Kanzler reichte die Demission ein, die vom Reichspräsidenten sofort angenommen wurde240.

240

Dok. Nr. 489, P. 2. Trotz der langwährenden Krise scheint die Demission des Kabinetts für manchen Beobachter überraschend gekommen zu sein; vgl. das Telegramm des britischen Botschafters Rumbold an Außenminister Henderson vom 28.3.30. Rumbold teilte hier außerdem mit, daß Groener und der pr. StS Weismann am Abend des 27. 3. ihm gesagt hätten, die Berufung Brünings zum RK „had been arranged beforehand in the possible event of the resignation of the Müller Cabinett“ (Documents on British Foreign Policy, 2nd ser., vol. I, p. 473).

Gegenüber diesem äußeren Ablauf der Ereignisse ist daran festzuhalten, daß die Große Koalition an dem Streit über den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung zerbrochen ist, d. h. an der Auseinandersetzung der beiden Flügelparteien über die Gestaltung der Finanz- und Sozialpolitik. Die Sozialdemokraten erblickten in der Hilfe für die sozial Schwächsten die vornehmste politische Verpflichtung der Regierung in einer Wirtschaftskrise und forderten daher die Erhöhung der Beiträge, die gleichermaßen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu tragen waren. Demgegenüber verlangte die Volkspartei, daß alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen werden sollten, um der Wirtschaft neue Impulse zu geben, damit die rückläufige Konjunktur überwunden werde. Diese Maßnahmen sah die DVP in langfristigen, zukünftigen Steuererleichterungen und in einer Finanzsanierung, die das Reich von allen sozialpolitischen Belastungen, insbesondere von Zuschüssen zur Arbeitslosenversicherung, befreien würde; die Reichsanstalt sollte daher so reformiert werden, daß die Leistungsminderungen zulässig und damit praktisch Beitragserhöhungen ausgeschlossen würden. Der Versuch Brünings, mit einer Kompromißvorlage die Gegensätze zwischen SPD und DVP zu überwinden, mißlang, da die Sozialdemokraten in ihr eine einseitige Anerkennung der von der Volkspartei erhobenen Forderungen erblickten. Damit gerieten die Sozialdemokraten in eine Isolierung ähnlich der, in der sich die Volkspartei zu Anfang des Monats März 1930 befunden hatte; und so erlag die SPD der politischen Taktik der Volkspartei, deren Vorsitzender Scholz nach der Bildung des Kabinetts Brüning vor dem Reichsausschuß und dem Zentralvorstand der Partei erklärte, die DVP habe bewußt den Bruch mit den Sozialdemokraten herbeigeführt, um die eigenen finanz- und sozialpolitischen Vorstellungen verwirklichen zu können241.

241

3. und 4.7.30 (BA: R 45 II /32 , Bl. 125-239, hier: Bl. 209 und 46).

[LXIX] Das Kabinett der Großen Koalition scheiterte an den Regierungsparteien, die nach der Annahme des Youngplans im Reichstag Anfang März 1930 keinen Zusammenhalt mehr besaßen. Der Spaltungsprozeß, der schon früh begonnen hatte, war seit der Debatte über die Arbeitslosenversicherung in der zweiten Jahreshälfte 1929 offenkundig geworden und die Finanzkrise im Dezember 1929 hatte ihn beschleunigt. Warnend hatte damals der demokratische Wirtschaftsexperte Gustav Stolper geschrieben: „Was wir heute haben, ist eine Koalition von Ministern, nicht eine Koalition von Parteien. Es gibt überhaupt keine Regierungsparteien, es gibt nur Oppositionsparteien. Daß es soweit gekommen ist, bedeutet eine schwerere Gefährdung des demokratischen Systems, als Minister und Parteien ahnen242.“ Stolper behielt mit dieser Äußerung recht: Das Scheitern des Kabinetts Müller II leitete das Schlußkapitel der Weimarer Republik ein.

242

„Der deutsche Volkswirt“ 4 (1929), S. 333.

Martin Vogt

Extras (Fußzeile):