1.110 (mu22p): Nr. 366 Abgeordneter Ludwig Haas an den Reichskanzler. 30. November 1929

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[1206] Nr. 366
Abgeordneter Ludwig Haas an den Reichskanzler. 30. November 1929

R 43 I /1051 , Bl. 311-313, hier: Bl. 311-313

[Betrifft: Status der Reichsbahn unter dem Young-Plan.]

Sehr verehrter Herr Reichskanzler!

In den Fragen, die mit der Wirkung des Young-Planes auf die Reichsbahn zusammenhängen, nehme ich ergebenst Bezug auf mein Schreiben, das ich am 15. Oktober 1929 an Sie zu richten die Ehre hatte1. Es hat sich nun meine Fraktion wiederum mit dem Verhältnis des Reichs zur Reichsbahn nach Durchführung des Young-Plans beschäftigt2. Ich bin von meiner Fraktion beauftragt, Ihnen, Herr Reichskanzler, folgendes vorzutragen:

1

Haas hatte ein Schreiben des Abg. Schuldt-Steglitz abschriftlich zugesandt, in dem Kritik an der Verhandlungsführung der deutschen Delegation in Paris geübt worden war, da sie die Interessen des Reiches gegenüber Bestrebungen zur Privatisierung der RB nicht genügend wahrnehme. Haas hatte die Ansichten von Schuldt unterstützt und wie dieser eine Erklärung zum Schacht-Brief vom 6.6.29 (siehe Dok. Nr. 219) gefordert (R 43 I /1051 , Bl. 175-190, hier: Bl. 175-190).

2

Schon auf dem Parteitag der DDP in Mannheim (4.–6.10.29) war verstärkter Einfluß des Reichs auf die RB verlangt worden (Schuldt an Haas; R 43 I /1051 , Bl. 178-190, hier: Bl. 178-190).

Die Abmachungen, auf die man sich in Paris im Organisationsausschuß C3 verständigt hat, sind noch immer den Parteiführern gegenüber geheim. Es sind aber Mitteilungen über das Ergebnis jener Verhandlungen in die Presse gelangt, deren Richtigkeit nicht nachgeprüft werden kann4. Es scheinen auch einzelne Persönlichkeiten, die der Reichsbahn nahestehen, über die Verhandlungen unterrichtet zu sein5, während man den Führern der Regierungsparteien, die die parlamentarische Verantwortung zu tragen haben, die erforderlichen Mitteilungen vorenthält. Bei der außerordentlichen Bedeutung, die diese Fragen für das Reich haben, bitte ich, die Führer der Regierungsparteien so schnell wie möglich über die bisherigen Ergebnisse zu unterrichten.

3

Gemeint ist der Unterausschuß für die Anpassung des RB-Gesetzes.

4

Diese Behauptung wurde von Haas in seinem Artikel „RB und Young-Plan“ im „Berliner Tageblatt“ vom 4.12.29 wiederholt.

5

Schuldt hatte erklärt, die deutsche Delegation weigere sich, Vorschläge, die sie dem in Paris weilenden Vorsitzenden des RB-Verwaltungsrats v. Siemens vorgelegt habe, auch den Personalvertretern vorzulegen (Schreiben an Haas; R 43 I /1051 , Bl. 178-190, hier: Bl. 178-190).

Schon jetzt möchte ich aber auf folgendes hinweisen: Es wird behauptet, daß der Reichsverkehrsminister nicht Sitz und Stimme im Verwaltungsrat erhalten soll. Das wäre nach Ansicht meiner Fraktion unerträglich. Es würde der wirtschaftlichen Selbstverständlichkeit widersprechen, daß der Inhaber einer Aktienmehrheit den ihm gebührenden Einfluß in der Verwaltung ausüben kann. Es wird ferner behauptet, daß dem Reich zwar die Bilanz und die Gewinn- und Verlustrechnung der Reichsbahngesellschaft vorgelegt werden soll, daß man aber bis jetzt sich weigert, dem Reich auch alle erforderlichen Unterlagen zur Nachprüfung der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung vorzulegen. Wenn[1207] das richtig sein sollte, was ich wegen der völligen Unmöglichkeit eines solchen Standpunktes bezweifle, dann müßte ich gerade hiergegen den stärksten Protest meiner Fraktion anmelden. Es würde ein geradezu unwürdiges Spiel mit dem Reich getrieben, wenn man ihm zwar Einblick in die Bilanz und in die Gewinn- und Verlustrechnung, aber nicht in die Unterlagen gewähren will. Das Reich ist Eigentümer der Reichsbahn. Die Reichsbahn wird betrieben mit den Mitteln des Deutschen Reiches. Das Reich muß deshalb den Einblick jederzeit haben, der ihm wirtschaftlich und moralisch zusteht. Man würde sonst aus der Reichsbahn ein juristisches Gebilde machen, wie es die Welt bis jetzt noch nicht gesehen hat, nämlich ein juristisches Gebilde, das losgelöst ist von jedem wirklichen Einfluß und von jeder wirklichen Kontrolle des berechtigten Eigentümers. In diesem Zusammenhang mache ich auch darauf aufmerksam, daß das Reich in der Lage sein muß, in allen Einzelheiten die Verwendung der Gelder der Reichsbahn nachzuprüfen. Das gilt besonders für etwaige Fonds der Reichsbahn. Schon die Tatsache, daß die Reichsbahn erhebliche Mittel der Deutschen Allgemeinen Zeitung ständig zur Verfügung stellt, erfüllt uns mit berechtigten Sorgen. Ohne eine vollkommene Kontrolle würde ja sogar die Möglichkeit bestehen, daß von der Reichsbahn öffentliche Mittel zu Zwecken verwendet werden, die nach Ansicht der Reichsregierung den Interessen des Reichs abträglich sind. Wenn von Vertretern der Anschauung, daß das Reich und insbesondere das Parlament keinen starken Einfluß auf die Reichsbahn haben soll, darauf hingewiesen wird, daß parlamentarische Einflüsse zu unzweckmäßigen Ausgaben führen könnten, so betone ich, daß es sich bei der von uns erstrebten Kontrolle nicht um eine Steigerung, sondern um eine Minderung der Ausgaben handelt. Das Reich muß auch verhindern können, daß Bezüge des Verwaltungsrats und die Bezüge der sogenannten leitenden Beamten in einer ungerechtfertigten Höhe gewährt werden. Also auch hier kann man nicht mit Erwägungen angeblicher Sparsamkeit sich einer Kontrolle widersetzen, die ungerechtfertigte Ausgaben vermindern wird. Es würde allen Grundsätzen des Aktienrechts widersprechen, wenn der Inhaber der Aktienmehrheit oder sogar der Inhaber des gesamten Aktienkapitals keinerlei Einfluß auf die Gehaltsregelung der Direktion haben soll. Wenn man weiter berücksichtigt, daß das Reich dafür haftet, daß die Bahn 660 Millionen aufbringt, ist es eine ganz selbstverständliche Forderung, daß das Reich die Kontrollmöglichkeit haben muß, die es braucht, um unnötige und unzweckmäßige Ausgaben zu verhindern.

Meine Fraktion hat aber auch die allergrößten Bedenken dagegen, daß bei der Reichsbahn dauernd eine kleine Gruppe von Beamten sein wird, die sich in ihren Bezügen auffallend von allen anderen höheren Reichsbeamten unterscheidet. Wenn in einem Ausnahmefall einmal eine besonders hochqualifizierte Kraft von außen her mit besonderen Bezügen gewonnen werden müßte, dann würde man das verstehen. Es wird aber nicht begriffen, daß Beamte, die sich nach ihrer Vorbildung und nach ihrer Tätigkeit in keiner Weise von anderen höheren Beamten unterscheiden, nur deswegen völlig anders gestellt sein sollen, weil das Reich das Unglück gehabt hat, einen Krieg zu verlieren. Es muß nach Ansicht meiner Fraktion auch das System der sogenannten Leistungszulagen, wenn diese nicht ganz in Fortfall kommen sollen, einer Revision unterzogen[1208] werden. Es wird von Beamten, die diese Leistungszulagen verteilen sollen, immer wieder darüber geklagt, daß es unmöglich sei, eine gerechte Verteilung der Leistungszulagen vorzunehmen und daß auch bei strengster Objektivität die Verteilung zu Mißstimmungen und zu Verärgerungen im Personal führt6.

6

Angeblich erhielten 200 höhere, sogenannte leitende Beamte Bezüge, die vom Verwaltungsrat festgesetzt waren und die Gehälter von Reichsbeamten übertrafen. Die Leistungszulagen beliefen sich auf 20 Mio M im Jahr. An ihnen wurde von den Vertretern des RB-Personals Kritik geübt (Schuldt an Haas und Schreiben der Arbeitsgemeinschaft der RB-Organisationen an die RReg. vom 27.11.29; R 43 I /1051 , Bl. 178-190, 306-309, hier: Bl. 178-190, 306-309).

Ausgeschlossen sollte es sein, daß die leitenden Beamten selbst an diesen Leistungszulagen teilnehmen.

Es muß auch die bisherige Praxis beseitigt werden, daß die Bezüge der leitenden Beamten geheim behandelt werden. Das führt auch zum Nachteil der leitenden Beamten vielleicht zu falschen Vorstellungen über ihre wirklichen Bezüge.

Alle diese berechtigten Forderungen werden sich aber nur durchsetzen lassen, wenn dem Reich eine weitgehende, nicht nur theoretische, sondern praktische Kontrollbefugnis in allen Einzelheiten eingeräumt wird.

Mit aller Schärfe wende ich mich namens meiner Fraktion dagegen, daß die Reichsbahn gewissermaßen mit eigener Souveränität neben dem Reich besteht. Es darf im Reich keine politische oder wirtschaftliche Organisation geben, die der Souveränität des Reichs nicht unterworfen ist. Schon jetzt hat sich in einem Fall gezeigt, daß die Reichsbahn in ihrer Auffassung über die Pflichten der Beamten dem Staat gegenüber von den von der Reichsregierung vertretenen Anschauungen abgewichen ist. Es gehen auch fortgesetzt Mitteilungen darüber zu, daß der an und für sich nötige Bahnschutz personell vollkommen rechtsradikal organisiert sei7. Soll auch, falls diese Nachrichten richtig sind, das Reich dagegen völlig machtlos sein? Es kann aus verfassungsrechtlichen Gründen die Ausnahmestellung, welche die Reichsbahn bisher eingenommen hat und mit der sie die Auskunft auf die an den Reichstag gerichteten Petitionen des Reichsbahnpersonals verweigert hat, nicht aufrechterhalten werden.

7

Auf eine Anfrage wegen des RB-Schutzes teilte das RWeMin. mit: Nach einem Übereinkommen zwischen RVM, RIM und RWeM aus den Jahren 1920/21 habe die RB den Bahnschutz übernommen und ihn in der Folge unter Aufsicht des RVMin. weiter ausgebaut. Bei militärischen Fragen habe das RWeMin. beratend mitgewirkt, sich jedoch nicht mit der Zusammensetzung und Organisation beschäftigt. Es bestehe ein Verbot, bei Übungsschießen auf Schießständen der Reichswehr reichswehreigene Waffen, Munition und Scheiben zu benutzen. Das RWeMin. sei an der Erhaltung des Bahnschutzes interessiert (Schreiben an den StSRkei, 24.2.30; R 43 I /1040 , Bl. 2, hier: Bl. 2). 1933 umfaßte der RB-Schutz rund 50 000 Mann und verfügte über 22 kugelsichere Panzerzüge und 5 gepanzerte Triebwagen (Vermerk der Rkei vom 14.9.33; R 43 I /1040 , Bl. 196, hier: Bl. 196). Seine Mitglieder bestanden größtenteils aus Nationalsozialisten und Stahlhelmern. Der verantwortliche RB-Direktor Heiges habe viele SA- und SS-Leute in ihm untergebracht (Vermerk vom 16.6.33; R 43 I /1040 , Bl. 187, hier: Bl. 187). Heiges war der eigentliche Initiator des RB-Schutzes („Eisenbahnfachmann“ Nr. 9, 1933, Beilage; R 43 I /1041 , gefunden in R 43 I /1040 , Bl. 190 f., hier: Bl. 190 f.).

Wirtschaftlich ist es unerträglich, wenn der Inhaber des Verkehrsmonopols in seiner Tarifpolitik nicht dem Reich untersteht. Daran ändert auch die Tatsache eines Schiedsgerichts nichts8. Die letzte Entscheidung in den Tarifen, mit[1209] denen man eine von den Anschauungen des Reichs völlig abweichende Wirtschaftspolitik erzwingen könnte, muß dem Reich selbst zustehen; meine Fraktion sieht insbesondere in den Ausnahmetarifen, die der Öffentlichkeit geheim gehalten werden, eine außerordentliche wirtschaftliche Gefahr.

8

Kritik am Fortbestehen des Schiedsgerichts war auch von der Arbeitsgemeinschaft der RB-Organisationen geübt worden (Schreiben an die RReg. vom 27.11.29; R 43 I /1051 , Bl. 306-309, hier: Bl. 306-309).

Ein besonderer Hinweis ist im Hinblick auf die Zusammensetzung des Verwaltungsrats erforderlich. Meine Fraktion steht auf dem Standpunkt, daß der Verwaltungsrat nicht mit Persönlichkeiten besetzt sein darf, die direkt oder indirekt für ihre Unternehmungen an Lieferungen an die Reichsbahn interessiert sind. Ich gehe von der Voraussetzung aus, daß die Herren, die bisher dem Verwaltungsrat angehörten und die als Lieferanten in Betracht kommen, in keiner Weise diese Stellung mißbraucht haben. Vielfach wird aber im Lande geglaubt, daß eine Bevorzugung der den Herren nahestehenden Werke stattgefunden hat. Wenn, was wir annehmen, die Vorstellung völlig ungerechtfertigt ist, bleibt es trotzdem ein Unglück, daß derartige irrige Auffassungen im Volke entstehen. Es muß in einer Zeit, in der wir über manche unerfreulichen Erscheinungen zu klagen haben, gerade von den obersten Stellen aus das Beispiel gegeben werden, daß von vornherein organisatorisch die Gefahr von Interessengegensätzen vermieden wird. Es muß deutlich in Erscheinung treten, daß man nicht eine amtliche oder halbamtliche Stellung bekleiden darf, wenn man durch diese Stellung bevorzugt werden könnte9.

9

Diese Bedenken waren von Haas bereits in einem Schreiben vom 15. 10. erhoben worden (R 43 I /1051 , Bl. 178-190, hier: Bl. 178-190).

Ich darf Ihnen, Herr Reichskanzler, nicht verschweigen, daß man in meiner Fraktion die Sorge hat, daß die bisherigen Verhandlungen nicht stark genug in der Richtung der Verstärkung des Reichseinflusses geführt worden sind. Man hat insbesondere den Eindruck, daß es doch wohl hätte möglich sein müssen, Einflüsse von Kreisen, die eine wirkliche Stärkung des Reichseinflusses nicht wünschen, bei den Verhandlungen auszuschalten10. Meine Fraktion glaubt, daß es auch bei den künftigen Verhandlungen im Haag möglich sein muß, den Einfluß des Reichs auf die Reichsbahn ganz erheblich zu stärken. Wenn die Mitteilungen richtig sind, die wir über das Ergebnis der bisherigen Verhandlungen erhalten haben, dann könnte meine Fraktion für derartige Vereinbarungen die Verantwortung nicht übernehmen. Die Reichsregierung wird sich darüber klar sein müssen, daß die Annahme des Young-Plans gefährdet werden kann, wenn der Einfluß des Reichs auf die Reichsbahn nicht in starkem Umfange sichergestellt wird. Unsere Vertragsgegner aber werden den Young-Plan nicht daran scheitern lassen, wenn das Reich den Einfluß auf die Reichsbahn verlangt, der ihm als Eigentümer zusteht.

10

Gemeint sind Presseäußerungen über das Verhalten des Präsidenten v. Siemens in Paris z. B. in „Der Deutsche“ vom 1.11.29, in der DAZ vom 1.11.29 und in der „Berliner Börsen-Zeitung“ vom 2.11.29.

Namens meiner Fraktion bitte ich Sie, Herr Reichskanzler, Vertretern meiner Fraktion Gelegenheit zu einer Aussprache mit Ihnen und dem Herrn Reichsverkehrsminister[1210] zu geben. Die bisherige Entwicklung erfüllt uns mit so schweren Sorgen, daß wir eine Aussprache für nötig halten11.

11

Zunächst hatte der RK vermerkt, dann aber wieder ausgestrichen: „Bin zu einer Aussprache bereit. Vielleicht dürfte aber eine Aussprache mit dem Herrn RVM genügen. Dabei müßte d. Herrn der Dem. Partei mit allem Nachdruck zu Gemüte geführt werden, daß die Deutschen, auch ihre Verhändler, auf das schärfste die RB-Interessen gewahrt haben.“ Stattdessen notierte der RK: „Besprechung mit den Regparteien erscheint mir angebracht.“ Abschriften des Schreibens erhielten der RFM, der RVM, der RAM, der RWiM und der RMbesGeb. mit dem Hinweis, daß in den nächsten Tagen eine Besprechung mit den Parteivorsitzenden stattfinden solle (R 43 I /1051 , Bl. 311-313, 316, hier: Bl. 311-313, 316).

Mit der Versicherung meiner besonderen Hochachtung verbleibe ich, Herr Reichskanzler,

Ihr

aufrichtig ergebener

Haas.

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