1.63.1 (ma12p): [Ruhrräumung.]

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[Ruhrräumung.]

Staatssekretär v. Maltzan berichtete über die Telegramme Nummer 62–65, enthaltend das Votum der Delegation zu den Vorschlägen des französischen Ministerpräsidenten betreffend Ruhrräumung1. Dazu sei noch festgestellt worden, daß die Erklärung Herriots bez. die Räumung der Häfen, der in Süddeutschland besetzten Gebiete usw. nicht anders verstanden werden könnte, als WTB im Telegramm 164 bekanntgegeben habe; ferner, daß die in der gleichen WTB-Meldung angegebene Zusicherung bezüglich der Rückziehung der Eisenbahner zutreffe2; weiter, daß die Formel für die Amnestie unverändert geblieben sei und schließlich, daß die Ausweisungsfrage durch Notenwechsel[960] geregelt werde, der Wortlaut aber noch nicht feststehe. Die Alliierten Regierungen würden voraussichtlich alle Ausweisungen zurücknehmen.

1

S. Dok. Nr. 275.

2

WTB meldete am 14. 8. aus London über die Verhandlungen betr. Ruhrräumung u. a.: Die von dt. Seite gestellte Anfrage wegen des Beginns des Räumungsjahres sei in einer Konferenz mit den frz. und belg. Delegierten dahin beantwortet worden, daß das Jahr am Tage der Paraphierung des Räumungsabkommens beginne. „Von frz. Seite wurde dabei betont, daß, da das Gutachten voraussichtlich erst am 15. Oktober in Kraft trete, die Räumungsfrist also dann im Höchstfalle nur 10 Monate betrage. Als selbstverständlich wurde bezeichnet, daß alle sog. Flaschenhälse und sonstigen Gebietsstreifen, die im Anschluß an die Ruhrbesetzung von den Franzosen zwecks Sicherung ihrer Eisenbahntransporte usw. besetzt worden sind, unverzüglich geräumt werden würden. Es handelt sich dabei um Mannheim, Karlsruhe, Offenburg usw. Endlich wurde zugesagt, daß die frz. und belg. Eisenbahner restlos zurückgezogen werden sollen. Es wurde lediglich der Vorbehalt gemacht, daß Genietruppen eingreifen dürfen, falls die Lebensmittelversorgung der Besatzungstruppen gefährdet wäre. In bezug auf die Frage der etappenweisen Räumung des Ruhrgebietes wurde keine Klärung erzielt.“ (Abschrift des WTB-Telegramms in R 43 I /498 , Bl. 156f).

Der Reichspräsident stellte fest, daß die Auffassung, Herriot werde außer Dortmund auch die übrigen anläßlich der Ruhroperation besetzten Gebiete außerhalb des Ruhrgebiets räumen, deutsche Interpretation sei.

Der Reichsarbeitsminister glaubte, daß die Franzosen nur noch Wert auf die Besetzung des Ruhrgebiets legten. Entscheidend sei jetzt die Frage, welche Möglichkeiten den Franzosen offenständen, um die Besatzung der Ruhr auch noch länger als ein Jahr fortzuführen. Die Frage der Verfehlungen scheine ihm dabei auszuschalten. Es käme nur in Betracht die Frage der Entwaffnung. Hier habe Deutschland sein Schicksal aber selbst in der Hand. Eine absolute Sicherheit für die Zukunft bestände natürlich nicht. Er glaube, daß die Verantwortung nicht dafür übernommen werden könne, das Angebot abzulehnen. Anregungen zur Sicherung in dem einen oder anderen Punkte könnten natürlich noch nach London gegeben werden.

Der Reichsminister des Innern hielt die Entwicklung der Konferenz im allgemeinen für über Erwarten günstig. Er glaube, daß man das Angebot der deutschen Öffentlichkeit unter gewissen Voraussetzungen zumuten könne. Er habe nie einen entscheidenden Wert auf einen kurzen Termin, sondern nur auf einen festen Termin gelegt. Diese Sicherung sei allerdings noch nicht voll gegeben. Auch die Öffentlichkeit werde dies noch nicht glauben. Wenn aber in kürzester Zeit ein sichtbarer Erfolg, so z. B. die Räumung Dortmunds eintrete, werde das Vertrauen sich festigen. Großer Wert müßte jedoch darauf gelegt werden, die Abmachungen bezüglich der Räumung in dem Konferenzprotokoll zu verankern. Ferner müßte garantiert werden, daß die Teilräumungen keine Konzentration von Truppen in dem besetzt bleibenden Gebiet nach sich ziehen. Notwendig sei ferner festzulegen, daß Sanktionen, die evtl. künftig vorgenommen würden, nicht in einer Verlängerung der Besatzung des Ruhrgebiets beständen. Eine Erklärung müsse abgegeben werden, daß das Rheinlandabkommen künftig so ausgelegt werde, daß Eingriffe in die Rechtspflege und Verwaltungshoheit des Deutschen Reichs nicht mehr stattfänden. Letzten Endes müsse auch hier ein schiedsrichterliches Verfahren aufgerichtet werden. Wenn man diese Sicherungen erhalten würde und wenn man bedenke, daß handelspolitische Konzessionen nicht mehr gemacht zu werden brauchten, so scheine ihm der Entschluß für die Verlängerung der Besatzung erträglich.

Der Reichsverkehrsminister hielt es für wesentlich zu wissen, ob das Angebot Herriots schon sein letztes Wort sei oder nicht. Er habe die Empfindung, als wenn es noch nicht sein letztes Wort sei. Allerdings habe er auch den Eindruck, daß bezüglich des einen Jahres ein Nachgeben nicht zu erreichen sei. Man müsse daher auf anderen Gebieten Konzessionen zu erreichen suchen. Daß die handelspolitische Frage nicht mehr mit der Frage der Ruhrräumung verknüpft werde, sei ein großer Erfolg. Er schließe sich dem Vorschlage an, dem Votum beizutreten und die Erreichung der in der Debatte erwähnten Sicherungen als Wünsche des Kabinetts mitzuteilen.

Der Reichspostminister war der gleichen Auffassung. Folgendes müsse jedoch noch versucht werden durchzusetzen: 1. eine Änderung der Besatzungsmethode,[961] 2. eine dem Bedürfnis Deutschlands entsprechende Festlegung der Auslegung des Rheinlandabkommens, 3. eine zufriedenstellende Regelung der Ausgewiesenenfrage.

Der Reichswirtschaftsminister glaubte, daß, nachdem das Votum vorläge und zweifellos von der Delegation alle Umstände reiflich erwogen wären, Konzessionen nicht mehr zu erreichen wären. Er komme zu der gleichen Auffassung wie die Herren Minister, die vor ihm gesprochen hätten. Eine wesentliche Erleichterung erblicke er in der Loslösung der wirtschaftlichen Fragen von der Räumungsfrage.

Der Reichsarbeitsminister hielt es für unzweckmäßig, die Delegation mit neuen Forderungen zu belasten. Er halte es für unmöglich, von den Franzosen zu verlangen, eine Erklärung abzugeben, daß die Militärkontrolle nicht mit der Ruhrräumungsfrage verquickt werde. Es genüge, wenn sich die Delegation die Zusage geben lasse, daß die Militärkontrollfrage an den Völkerbund überführt werde.

Der Reichspräsident schloß sich dem Votum der Kabinettsmitglieder an. Die Sachlage sei heute eine andere als gestern morgen3. Für die nach London zu gebenden Anregungen kämen folgende Gesichtspunkte in Frage:

3

Vgl. Dok. Nr. 274.

Die Besatzungsmethode müßte geändert werden.

Die Militärkontrolle dürfe nicht schikanös gehandhabt werden.

Von den gegebenen Möglichkeiten dürfe von der Gegenseite nur dann Gebrauch gemacht werden, wenn Kriegsmittel aufgefunden würden, die zum Angriff geeignet wären.

Die Frage der Kölner Zone solle möglichst nicht mehr angeschnitten werden.

Es wurden darauf Staatssekretär v. Maltzan und Ministerialdirektor Dr. Kempner beauftragt, die Note zu formulieren.

Der Reichspräsident und das Kabinett beschlossen darauf, folgendes Telegramm an die Deutsche Delegation zu senden:

„Reichspräsident und Kabinett stimmen in der Annahme, daß alle Verhandlungsmöglichkeiten erschöpft sind, unter Würdigung der von dort mitgeteilten Gesichtspunkte dem Votum der Delegation in den Telegrammen 64 und 65 zu. Maßgebend für diese Entscheidung war

1. die in Telegrammen 62 und 63 übermittelte ausdrückliche Erklärung des französischen Ministerpräsidenten, bestätigt und erweitert durch WTB-Telegramm 164, dessen Inhalt wiederum durch Telegramm Nr. 67 der Kommission4 bestätigt wurde. Maßgebend war

4

Das Fernschreiben Nr. 67 der dt. Delegation vom 15. 8. aus London befindet sich in R 43 I /266 , Bl. 182.

2. die durch Telegramm Nr. 64 mitgeteilte Aufgabe der ursprünglichen Absicht, die Ruhrräumung durch handelspolitische Abmachungen zu belasten. Aus sachlichen und innerpolitischen Gründen ersuchen Reichspräsident und Kabinett die Delegation dringendst, bei endgültiger Formulierung in geeignet erscheinender Weise folgende Punkte nach Möglichkeit sicherzustellen:

1. Festlegung der zehnmonatigen Räumung in völkerrechtlich bindender[962] Form und Verankerung durch Konferenzprotokoll, damit internationaler Charakter der Räumungsverpflichtung fester liegt.

2. Unverzügliche Räumung der in Telegrammen 62 und 63 und WTB 164 aufgeführten Städte und Zonen bei entsprechender Verringerung der Gesamtbesatzung.

3. Generelle und wirksame Erleichterung bisheriger Besatzungsmethoden.

4. Zehnmonatiger Räumungstermin darf unter keinen Umständen durch einseitige Sanktionen, deren Berechtigung nach wie vor bestritten wird, hinausgeschoben werden, insbesondere nicht durch schikanöse Auslegung des Ergebnisses von Militärkontrollhandlungen. Vergleiche Zusicherung Herriots im dortigen Telegramm Nummer 14 vom 8. August 19245.

5

S. Anhang, Dok. Nr. 1, Anm. 20.

5. Schiedsgerichtliche Sicherstellung einer Auslegung des Rheinlandabkommens, die insbesondere deutsche Justiz- und Verwaltungshoheit schützt.

6. Rückkehr möglichst aller Ausgewiesenen in Heimat und Stellung.

7. Klarstellung, daß Düsseldorf – Duisburg spätestens mit Resträumung Ruhrgebiets geräumt werden.“

(gez.) Ebert

(gez.) Jarres6

6

Dieses Telegramm (Nr. 106) wird am 15. 8., 11.30 Uhr an RK Marx in London abgesandt (R 43 I /266 , Bl. 85f).

Hierauf berichtet Bracht aus London mit Telegramm Nr. 71 vom 15. 8. an AA für Kabinett und RPräs. (Ankunft Berlin: 16. 8., 3 Uhr): „Dt. Stellungnahme auf Grund Entschließung der Delegation und Mitteilung dortigen Telegramms Nr. 106 wurde heute nachmittag MacDonald auf seinen Wunsch durch Delegierte erläutert. MacDonald mitteilte, daß er nur hinsichtlich Gesamträumungsfrist und Punkt zwei von Telegramm 106 mit bindender frz. Zusage rechne. Zu Herabsetzung der Truppenstärken im Ruhrgebiet würden Franzosen sich nicht binden; MacDonald halte es aber für selbstverständliche Folge Gutachtens, daß Ruhrbesetzung ‚auf einen Schatten reduziert‘ würde und wolle dies diplomatisch betreiben. Sanktionsfrage und Ausgewiesenenfrage sei ja durch Konferenzbeschlüsse erledigt; schiedsgerichtliche Auslegung Rheinlandabkommens sei für Franzosen unannehmbar (hierzu zu bemerken, daß Durchführung wirtschaftlicher und finanzieller Räumung schiedsgerichtlich gesichert erscheint). Militärkontrolle wurde nicht näher erörtert. […] Räumung Sanktionsstädte mit Resträumung Ruhrgebiets ist zweifelsfrei.

In darauf folgender ausführlicher Aussprache mit frz. Delegation ergab sich ungefähr das gleiche Bild wie von MacDonald geschildert. Herriot […] betonte immer wieder Notwendigkeit dt. Vertrauens zu ihm und zu neuer, auf Frieden gerichteter Orientierung frz. Volkes, erklärte sich jedoch zu positiven Zusagen nur hinsichtlich Gesamträumungsfrist und Räumung gemäß Punkt zwei Telegramm 106 imstande. Schließlich stellte er als denkbar in Aussicht sofortige Räumung Ruhrorts. Als Ergebnis wurde dt.-frz. Expertenbesprechung zur Räumungsfrage morgen vormittag zehn Uhr und Delegiertensitzung, auch mit Belgiern, für elf Uhr vereinbart. […] Endgültiges Ergebnis der Konferenz noch nicht abzusehen.“ (R 43 I /266 , Bl. 187f).

Vgl. die ausführlichen Besprechungsniederschriften im „Tagebuch der Reichskanzlei über die Londoner Konferenz“ (Anhang, Dok. Nr. 1) unter dem 15. August 1924.

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