2.9 (ma12p): Nr. 9 Aufzeichnung über eine informelle Besprechung zwischen deutschen, französischen und belgischen Delegierten unter Beteiligung des englischen Ministerpräsidenten und des amerikanischen Botschafters Kellogg in London, Downing Street 10 am 14. August 1924, 16.15 bis 17 Uhr

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Nr. 9
Aufzeichnung über eine informelle Besprechung zwischen deutschen, französischen und belgischen Delegierten unter Beteiligung des englischen Ministerpräsidenten und des amerikanischen Botschafters Kellogg in London, Downing Street 10 am 14. August 1924, 16.15 bis 17 Uhr1

1

Die nicht datierte, nicht unterzeichnete Aufzeichnung ist wahrscheinlich von Kiep verfaßt.

R 43 I /268 

[Ruhrräumung; Fortführung der Konferenz]

Bei Eintreffen des Reichskanzlers im Hause des englischen Ministerpräsidenten waren die belgischen Delegierten sowie die zur Besprechung entsandten Mitglieder der französischen Delegation mit Ausnahme des Ministerpräsidenten Herriot bereits anwesend und unterhielten sich im Garten mit den deutschen Delegierten Dr. Luther und Dr. Stresemann.

Der Reichskanzler teilte das Ergebnis seiner Aussprache mit Herriot2 mit sowie seine Absicht, beim englischen Ministerpräsidenten um Verlegung der Vollsitzung um 5 Uhr zu bitten. Der belgische Ministerpräsident zeigte ein gewisses Befremden über diese Wendung der Dinge und suchte in Gesprächen mit dem Kanzler und dem Reichsminister der Finanzen diese von der Möglichkeit einer Einigung in der Räumungsfrage zu überzeugen. Er deutete insbesondere an, daß Herriot in der Lage sei und auch die Absicht hege, mit Teilräumungen früher zu beginnen, und äußerte erhebliche Bedenken gegen eine Unterbrechung der Konferenz durch Abreise eines deutschen Delegierten. Auch Minister Nollet suchte im gleichen Sinne auf die deutschen Delegierten einzuwirken. Nach etwa 20 Minuten erschien auch der französische Ministerpräsident und beteiligte sich an der informellen Unterhaltung; er legte insbesondere dem Minister Dr. Luther zwecks Verwertung bei seiner Berichterstattung in Berlin die Gründe dar, welche es ihm (Herriot) unmöglich machten, in der[1336] Räumungsfrage weiter entgegenzukommen. Dr. Luther entfernte sich alsdann, um seine Abreise (Abflug) vorzubereiten3.

2

S. Anhang, Dok. Nr. 8.

3

Der letzte Satz ist von Luther eigenhändig eingefügt.

Im Verlauf der weiteren Aussprache wurde beschlossen, daß der Ministerpräsident Herriot als derzeitiger Vorsitzender der deutsch-französisch-belgischen Besprechungen namens der drei Delegationen den englischen Ministerpräsidenten um Vertagung der Vollsitzung bitten solle. Herriot begab sich darauf hinauf zu Herrn MacDonald.

Nach etwa einer Viertelstunde erschien Herr MacDonald und bat den Reichskanzler sowie den Minister Dr. Stresemann in eine Ecke des Kabinettszimmers zur Rücksprache. Herr MacDonald erklärte mit dem Zeichen größter Erregung, daß, falls die Deutsche Delegation bei ihrer Absicht verharre, den Minister Luther nach Berlin zu entsenden, er hierin das Ende der Konferenz erblicken müsse und seinerseits sofort abreisen werde. Herriot sei über die deutsche Absicht sehr erregt4, da er hierin einen Zusammenbruch5 der Konferenz erblicke. Die Konferenz könne eine weitere Verzögerung nicht ertragen; schon sei die Presse voll von Nachrichten über ein Ultimatum gegen Deutschland, während die oppositionelle Presse in allen Ländern sich in zunehmendem Maße der politischen Probleme bemächtige. Unter solchen Umständen sei es unmöglich, in den politischen Fragen zu einer Einigung zu gelangen. Man werde aber insbesondere die jetzige Abreise eines deutschen Delegierten und die dadurch bedingte Unterbrechung der Konferenzverhandlungen als äußeres Zeichen dafür ansehen, daß die Konferenz in den politischen Fragen festgefahren und die Verhandlungsmöglichkeiten erschöpft seien. Im übrigen sei er auch mit seiner Nervenkraft am Ende; er warte seit neun Monaten auf einen dringendst von den Ärzten verordneten Urlaub; komme er nicht dazu, am Sonnabend [16. 8.] in seine Heimat zu reisen, so werde er die ganze Reise aufgeben müssen, da er binnen acht Tagen wieder in London anwesend sein müsse. Er gebe also seinerseits das Rennen auf, da eine Fortsetzung der Konferenz zwecklos sei. Auf die sehr eindringlichen Vorstellungen des Reichskanzlers und des Ministers Dr. Stresemann, daß die Entsendung des Ministers Luther nach Berlin gerade dem Zwecke dienen solle, die dortigen Stellen zu einer Einigung auf die Herriot-Formel zu bewegen, gab MacDonald die Berechtigung des deutschen Standpunktes vollkommen zu. Er blieb jedoch dabei, daß diese Abreise die Konferenz töten werde und bat die deutschen Delegierten, dringend zu erwägen, ob nicht eine telegrafische Berichterstattung nach Berlin möglich sei. Der Reichskanzler und der Minister Dr. Stresemann begaben sich nunmehr hinauf in das Zimmer des Mr. MacDonald, woselbst der französische Ministerpräsident und der amerikanische Botschafter anwesend waren. Es wurde erneut in eine Erörterung der deutschen Wünsche eingetreten. Hierbei sprach sich Herriot über die von ihm beabsichtigte Geste offen aus, und es wurde an der Hand der Karte erörtert, ob nicht eine Erweiterung der in Aussicht gestellten Räumung möglich sei. Auf die erneuten dringenden Vorstellungen MacDonalds[1337] und Kelloggs sowie auf die Zustimmung Herriots dazu, daß in der telegrafischen Berichterstattung seine vertraulich mitgeteilte Geste erwähnt werde, erklärten die deutschen Delegierten, daß sie die Frage der Entsendung des Dr. Luther nach Berlin erneut prüfen und in Erwägung ziehen wollten, ob nicht auch auf telegrafischem Wege die erforderliche Verbindung mit Berlin genommen werden könne6. MacDonald bekundete über diesen Entschluß größte Befriedigung und riet noch einmal dringend beiden Parteien, sich zu einigen.

4

„sehr erregt“ von Kiep handschriftl. geändert aus „empört“.

5

„Zusammenbruch“ von Kiep handschriftl. geändert aus „Torpedierung“.

6

Telegrafische Berichterstattung des RK an das Kabinett und den RPräs. vom 14. 8. aus London: Dok. Nr. 275.

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