2.101.1 (ma31p): Erwerbslosenfürsorge.

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Erwerbslosenfürsorge.

Der Reichsarbeitsminister machte die Vorschläge, die in der Anlage niedergelegt sind1.

1

Anliegend der Entwurf einer Stellungnahme der RReg. zu den Anträgen der Parteien betr. Erwerbslosenfürsorge. Die Stellungnahme hat folgenden Wortlaut: „Die Reichsregierung ist bereit, 1) für die Dauer des Winters, also bis zum 31. März 1927, die Bezüge sämtlicher Hauptunterstützungsempfänger (Ledige und Familienväter) um 10% zu erhöhen; 2) die Arbeitslosen, die in den ersten 8 Wochen Unterstützung stehen, den Arbeitslosen von mehr als 8 Wochen Unterstützungsdauer gleichzustellen; 3) zur Vereinfachung der Verwaltung und zur Vermeidung sozialer Schäden den Unterschied zwischen alleinstehenden und nicht alleinstehenden Arbeitslosen aufzuheben; 4) die obere Grenze für die Erwerbslosenfürsorge so zu gestalten, daß auch das vierte Kind (der fünfte Familienangehörige) den vollen Zuschlag erhält; 5) die jugendlichen Erwerbslosen unter 18 Jahren, die wenigstens 3 Monate gearbeitet haben, mit etwas geringeren Sätzen in die Erwerbslosenfürsorge aufzunehmen; 6) durch bindende Vorschriften sicherzustellen, daß die Prüfung der Bedürftigkeit gleichmäßig und entgegenkommend im Sinne des Zentrumsantrages Nr. 784 zu 3 [vgl. Dok. Nr. 97, Anm. 6] gehandhabt wird; 7) durch eine Änderung des Gesetzes die Anrechnung des Wochengeldes auf die Unterstützung auszuschließen; 8) im Wege einer besonderen, gesetzlich zu regelnden Krisenfürsorge die Ausgesteuerten, soweit sie noch arbeitsfähig und arbeitswillig sind, für die Dauer des Winters in der Erwerbslosenfürsorge zu belassen. 9) Die Lasten der Krisenfürsorge (Ziffer 8) werden zu 7/10 vom Reich, zu 3/10 von der Gemeinde getragen, im übrigen trägt die erhöhten Lasten, die sich aus vorstehender Regelung ergeben, das Reich allein.“ (R 43 I /1415 , Bl. 320).

[278] Nach Aussprache über die einzelnen Punkte wurden auf Antrag des Reichsfinanzministers folgende Änderungen beschlossen:

1. Ziffer 2) fällt weg.

2. Ziffer 5) fällt weg.

3. Ziffer 9) erhält folgende Fassung: „Die Lasten der Krisenfürsorge (Ziffer 8) werden zu 7/10 vom Reich, zu 3/10 von der Gemeinde getragen; im übrigen wird das Reich zur Abgeltung für die erhöhten Lasten, die sich aus der vorstehenden Regelung ergeben, den Ländern einen angemessenen Pauschbetrag zur Verfügung stellen.“2

2

RWiM Curtius, der an dieser Ministerbesprechung nicht teilnehmen konnte, teilte mit Schreiben vom 30.10.26 an den RK mit, daß er sich „gegen die, wenn auch verschleierte, allgemeine Erhöhung der Unterstützungssätze ausgesprochen haben würde“. Er habe nach den vorangegangenen Verhandlungen angenommen, daß das Kabinett an seinem früheren Beschluß (siehe Dok. Nr. 93, bes. Anm. 4) festhalten würde (R 43 I /2032 , Bl. 157).

II. Besprechung mit den Sozialdemokraten.

Anwesend: Marx, Reinhold, Brauns; StS Pünder, Trendelenburg; MinR Weigert, Lehfeldt; RegR Kretschmann; von der SPD: Wels, Brey, Schroeder; Protokoll: MinR Feßler.

Der Reichsarbeitsminister gab die in der Ministerbesprechung gefaßten Beschlüsse bekannt und erläuterte sie. Er wies insbesondere darauf hin, daß die Bedürftigkeitsprüfung durch Ausführungsbestimmungen so eingehend festgelegt werden solle, daß Schikanen vermieden werden (zu Ziffer 6).

Das Gesetz über die Krisenfürsorge (Ziffer 8) solle vor weiterer Gewährung der Unterstützung an die Ausgesteuerten eine Prüfung ihrer Verhältnisse und eine kurze Karenzzeit vorsehen. Dann sollen die Sätze der Erwerbslosenunterstützung durch die Arbeitsämter, nicht die Wohlfahrtsfürsorge, weitergezahlt werden. Die Länder müßten für die Bereitstellung von Mitteln ausscheiden; dagegen sollten die Gemeinden mehr als 1/9, den Rest sollte das Reich tragen.

Auf Anfrage des Abgeordneten Wels erklärte der Reichsarbeitsminister daß nicht vorgesehen sei, die vorzugsweise Einstellung von älteren Angestellten und Arbeitern anzuordnen, weil dadurch keine neue Arbeitsgelegenheit geschaffen würde. Jüngere Leute müßten dann aus ihren Stellen verdrängt werden. Auswüchse sollten durch Einwirkung gegen übermäßige Lehrlingshaltung und andere Maßnahmen beseitigt werden.

Die Überstundenarbeit zum Nachteil der Erwerbslosen soll in Gemeinschaft mit den Ländern bekämpft werden. Das Reichswirtschaftsministerium wirkt auf die Unternehmer ein. Die Überwachungsbehörden und die Gerichte sollen zu schärferem Eingreifen veranlaßt werden. Bei öffentlichen Arbeiten wird die Bedingung gestellt, daß keine Überstunden gemacht werden.

Nach den Erklärungen der Parteivertreter wird durch die vorgesehene Regelung die starke Beunruhigung in den Kreisen der Erwerbslosen keineswegs beseitigt. Die Sozialdemokratische Partei hatte damit gerechnet, daß die Bezüge[279] etwa um 25–30% erhöht würden. Die Heraufsetzung auf nur 10% würde außerordentliche Schwierigkeiten herbeiführen, da tatsächlich die Lage vieler Erwerbslosen verzweifelt sei. Über einzelne Nebenforderungen scheine Verständigung möglich zu sein. Der Ältestenrat wird Mittwoch [3. 11.] bereits über den Antrag der Kommunisten entscheiden müssen, daß die Erwerbslosenfürsorge auf die Tagesordnung der ersten Plenarsitzung des Reichstags gesetzt wird3.

3

Die Frage der Erwerbslosenfürsorge wurde in der Plenarsitzung des RT vom 5.11.26 behandelt (RT-Bd. 391, S. 7887  ff.).

Der Reichsarbeitsminister sagte zu, daß sich das Kabinett mit der Frage einer weiteren Erhöhung der Erwerbslosenbezüge noch einmal befassen werde.

III. Besprechung mit den Deutschnationalen.

Anwesend: Marx, Brauns; StS Pünder; MinR Weigert, Lehfeldt; RegR Kretschmann; von der DNVP: Graf Westarp, Rademacher; Protokoll: MinR Feßler.

Die Einwendungen der Deutschnationalen Partei gegen die Pläne der Reichsregierung gingen im wesentlichen darauf hinaus, daß sie dem Grundsatze des Lohnklassensystems4 widersprechen. Die Deutschnationale Partei möchte den Verheirateten und denen helfen, die vor der Erwerbslosigkeit höhere Bezüge hatten und deswegen mit hohen Mieten und anderen unabwendbaren Ausgaben belastet sind. Sie fürchtet, daß durch die vorgesehene Regelung der für den Beginn des zweiten Vierteljahres 19275 in Aussicht genommene Übergang zum Lohnklassensystem im Arbeits[losen]versicherungsgesetz6 wesentlich erschwert würde. Die jetzt zu bestimmenden Sätze würden dann voraussichtlich die Mindestsätze sein. Das würde für die höheren Lohnklassen eine stark gesteigerte Aufwendung bedeuten, so daß die Gesamtausgaben kaum tragbar wären.

4

Vgl. Dok. Nr. 97, Anm. 4.

5

Statt „1927“ im Protokoll irrtümlich „1926“.

6

Der Entwurf des Arbeitslosenversicherungsgesetzes, mit dessen Inkrafttreten zum 1.4.27 gerechnet wurde, sah eine Differenzierung der Unterstützungssätze nach Lohnklassen vor.

Demgegenüber wies der Reichsarbeitsminister darauf hin, daß es gegenwärtig unmöglich sei, das Lohnklassensystem einzuführen, da die umfassenden Vorarbeiten hierzu nicht mit ausreichender Beschleunigung erledigt werden könnten.

Auf die Reichsregierung würde von der Linken ein schwerer Druck dahin ausgeübt, daß die Unterstützungen um mehr als 10% erhöht würden.

Graf Westarp erklärte, daß er der Reichsregierung keine besondere Hilfeleistung seiner Partei in Aussicht stellen könnte, da sie auch über die finanzielle Lage des Reichs nicht ausreichend informiert sei.

IV. In einer Nachbesprechung des Herrn Reichskanzlers mit dem Reichsarbeitsminister Dr. Brauns, Ministerialrat Weigert, Ministerialrat Lehfeldt, Regierungsrat Kretschmann wurde in Aussicht genommen, daß am Dienstag, dem[280] 2. November, im Reichskanzlerhause um 11 Uhr vormittags eine Ministerbesprechung7 und 3 Uhr nachmittags mit den Regierungsparteien eine Besprechung stattfinden solle. Der Ausschuß für Erwerbslosenfürsorge wird um 5 Uhr nachmittags tagen.

7

Die RReg. beschäftigt sich mit der Frage der Erwerbslosenfürsorge in der Kabinettssitzung vom 2. 11. (Dok. Nr. 104).

Der Reichsarbeitsminister wird sobald als möglich umfassendes Material darüber vorlegen, wieweit bei einer Erhöhung der Bezüge die durchschnittlichen Lohnsätze überschnitten werden. Er wird entsprechend den von der Reichsregierung gefaßten Beschlüssen eine Vorlage ausarbeiten, ohne darin den Prozentsatz der Erhöhung der Bezüge zunächst anzugeben.

Nach Erklärung des Vertreters des Reichsfinanzministeriums bedeutet eine Erhöhung der Bezüge um 10% eine Monatsmehrausgabe von 5,5 bis 6 Millionen Mark.

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