2.175.1 (mu21p): Reparationsfragen.

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Kabinett Müller II. Band 1 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

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Reparationsfragen.

Der Reichskanzler leitete die Sitzung mit der Erklärung ein, daß er dem Kabinett Gelegenheit zur Unterrichtung über den Verlauf und den gegenwärtigen Stand der Pariser Reparationsverhandlungen habe geben wollen1.

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Siehe Dok. Nr. 173 und 174.

Reichsminister Hilferding erstattete darauf einen Generalbericht, in welchem er klarlegte, daß der Gang der Verhandlungen der Sachverständigenkommission bisher ausschließlich von den Mitgliedern der Expertengruppe selbst bestimmt worden sei und daß sich die Reichsregierung einer Beeinflussung durch Direktiven und Instruktionen möglichst enthalten habe. Sehr eingehend schilderte er die letzten entscheidenden Phasen der Verhandlung. Am Mittwoch, dem 17., sei in einer Vollsitzung ein deutsches Memorandum übergeben worden. Außer diesem deutschen Memorandum habe der Sachverständigenkommission ein Memorandum der vier Hauptgläubigermächte, Frankreich, England, Belgien und Italien vorgelegen sowie ein Memorandum des Vorsitzenden der Kommission Owen Young. Über den Inhalt der Memoranden machte Reichsminister Hilferding nähere Mitteilungen. Der Wortlaut des deutschen Memorandums wurde den Herren Reichsministern überreicht. Dieses deutsche Memorandum sei, wie Reichsminister Hilferding weiter ausführte, in der Vollsitzung vom 17. eingehend debattiert worden2. Die Sitzung habe mit der[561] Einsetzung eines Unterausschusses unter dem Vorsitz des englischen Sachverständigen Revelstoke geendet. Der Unterausschuß habe die Aufgabe gehabt zu versuchen, angesichts der beträchtlichen Differenzen zwischen den drei Memoranden eine Einigung über einen Zahlungsplan für die nächsten 10–15 Jahre zustande zu bringen. Der Unterausschuß habe zunächst am Vormittag des 18. (Donnerstag) unter dem Vorsitz von Revelstoke getagt. In dieser Sitzung habe Dr. Schacht den deutschen Standpunkt sehr wirkungsvoll vertreten3. In der Nachmittagssitzung desselben Unterausschusses, die von Owen Young geleitet worden sei, sei es zur Krise gekommen. Dr. Schacht habe auf die sehr präzise und wiederholt gestellte Frage des englischen Delegierten Stamp nach weiteren deutschen Konzessionen mit einem entschiedenen Nein geantwortet, und darüber sei es zum Abbruch der Verhandlungen gekommen4. Der Unterausschuß habe in der auf heute, Freitag, den 19. April, anberaumten Vollsitzung der Sachverständigenkommission über den ergebnislosen Verlauf der Unterausschußsitzung berichten wollen. Die Vollsitzung sei jedoch, gleich nach ihrer Eröffnung, wegen des plötzlich eingetretenen Todes des englischen Delegierten Revelstoke abgebrochen und auf Montag, den 22. April, vertagt worden5. Der Inhalt, insbesondere auch die Zahlen, des deutschen Memorandums seien der Reichsregierung vor der Übergabe in Paris nicht bekannt gewesen. Die deutsche Gruppe habe die Reichsregierung erst später davon in Kenntnis gesetzt. Die an den Reparationsfragen in erster Linie beteiligten Reichsminister hätten die Sachlage in den letzten Tagen im engeren Kreise beraten und die Entwicklung der Dinge, wie nicht verhehlt werden solle, mit großer Besorgnis verfolgt. Die deutsche Gruppe habe stets erklärt gehabt, daß sie sich vor entscheidenden Schritten gegenüber der Sachverständigenkonferenz mit der Reichsregierung ins Benehmen setzen würde. An diese Zusage hätten sich die deutschen Experten offensichtlich nicht gehalten, denn jetzt sei die Regierung mit dem deutschen Angebot vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Bei den Besprechungen im engeren Kreis habe man ernstlich erwogen, ob es sich empfehle, jetzt noch in den Gang der Dinge irgendwie einzugreifen. Die Entscheidung sei sehr schwer gefallen, da man die Haltung der deutschen Sachverständigen in den Augen der Gegenseite nicht habe desavouieren dürfen. Zudem bestehe auch keine Garantie dafür, daß die Sachverständigen etwaigen[562] Vorschlägen der Regierung folgen würden. Immerhin habe man sich angesichts der Zusage der Experten, vor entscheidenden Schritten mit der Reichsregierung ins Benehmen treten zu wollen, zu einem Eingreifen grundsätzlich für berechtigt gehalten und habe dies in sehr milder Form getan, indem man angefragt habe, ob eine Vertagungsmöglichkeit für die weiteren Beratungen in der Vollsitzung der Sachverständigenkommission bestünde. Die Antwort Dr. Schachts habe dahin gelautet, daß er Vertagung beantragen werde, sofern dies ohne Kompromittierung der deutschen Experten möglich sei. Tatsächlich sei die Vertagung ja auch erfolgt, ob lediglich wegen des Todes Revelstokes, oder ob hierbei auch der Wunsch der deutschen Delegierten mitgewirkt habe, sei nicht bekannt. Ministerialdirektor Dorn werde vielleicht in der Lage sein, nähere Mitteilung zu machen, da er gerade ein Telephongespräch mit Paris geführt habe.

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Einen Bericht über diese Sitzung gab Ruppel in seinem Schreiben Nr. K. 463 vom 17.4.29 (R 43 I /291 , Bl. 102-107).

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Schacht hatte in der Vormittagssitzung darauf hingewiesen, daß der Transfer Deutschlands mit geliehenen Geldern erfolge, nach den Bestimmungen des Dawes-Plans aber aus Exportüberschüssen erfolgen solle. Eine weitere Verschuldung werde Deutschlands Kredit untergraben (Bericht Ruppels Nr. 471 vom 19. 4.; R 43 I /291 , Bl. 130-134. Dem RFMin. war durch Fernschreiber bereits am 18. 4. Bericht erstattet worden; R 2 /2924 , Bl. 259-263).

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Der Beschluß über den Verhandlungsabbruch hatte gelautet: „The Sub-Committee have been asked to find a basis of agreement upon annuities for the first 10 or 15 years. The German Group declared that no suggestions which it had heard formulated to increase the capacity of payment of Germany would permit it to envisage an average annuity above 1650 millions for 37 years. – In these conditions the Sub-Committee can only report the impossibility of realising an agreement in the questions submitted“ (Fernschreibbericht an das RFMin. vom 18. 4.; R 2 /2924 , Bl. 259-263, hier: Bl. 262 und Anlage zu Ruppels Bericht Nr. 471 vom 19. 4.; R 43 I /291 , Bl. 130-136, hier: Bl. 136).

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Den Tod Lord Revelstokes hatte Ruppel durch ein Telegramm nach Berlin mitgeteilt, das dort um 13.50 Uhr am 19. 4. eingetroffen war (R 2 /2932 , Bl. 88).

Ministerialdirektor Dorn teilte daraufhin mit, aus Paris sei fernmündlich mitgeteilt worden, daß für den Fall, daß die Reichsregierung den Wunsch habe, vor der nächsten Vollsitzung vom 22. April mit der deutschen Gruppe in Verbindung zu treten, die zwei Hauptdelegierten Sonntag, den 21. April in Düsseldorf zur Verfügung stehen könnten.

Reichsminister Hilferding bemerkte noch, daß Dr. Schacht – Zeitungsnachrichten zufolge – einem amerikanischen Journalisten gegenüber die Erklärung abgegeben habe, daß sein Vorschlag, den er dem Revelstoke-Unterausschuß unterbreitet habe, keineswegs Deutschlands letztes Wort gewesen sei, und daß er immer bereit sei, Verhandlungen und Erörterungen fortzusetzen6. Weiteres sei über die Absichten Dr. Schachts indessen noch nicht festzustellen gewesen.

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Entsprechende Äußerungen hatte Schacht gegenüber einem Vertreter der Zeitung „Journal“ gemacht, wie die MNN am 21. 4. meldeten. Darunter setzte die deutsche Zeitung eine Meldung aus New York, Schacht habe dem Bankhaus Harris Forber in einem Kabeltelegramm mitgeteilt, die Summe von 1650 Mio RM sei der Höchstbetrag, den Deutschland aufbringen könne.

Anschließend erklärte Reichsminister Dr. Stresemann, daß er dem Kabinett von einem Briefwechsel mit Dr. Schacht Kenntnis geben wolle, den er mit Dr. Schacht in einer besonderen Angelegenheit geführt habe7. Durch eine offizielle Demarche des hiesigen britischen Botschafters habe er erfahren, daß der frühere deutsche Botschafter Herr von Kühlmann sich in Paris mit dem dortigen britischen Botschafter Tyrell in Verbindung gesetzt und in einem Privatbrief im Zusammenhang mit dem Reparationsproblem ziemlich genau präzisierte deutsche Kolonialwünsche angebracht habe. Kühlmann habe bei diesem Schritt ganz offensichtlich im Einvernehmen mit Dr. Schacht gehandelt. Das Auswärtige Amt sei indessen von der ganzen Angelegenheit nicht in Kenntnis gesetzt worden und sei von ihr erst durch den Schritt des britischen Botschafters beim Auswärtigen Amt davon unterrichtet worden. Das Ziel des britischen Schrittes sei dahin gegangen, das Befremden des britischen Außenministers Chamberlain über die Angelegenheit zum Ausdruck zu bringen. Der[563] britische Botschafter habe seine Demarche als erledigt angesehen, nachdem ihm eröffnet worden sei, daß das Auswärtige Amt an der Sache völlig unbeteiligt sei. Staatssekretär Dr. von Schubert habe später in der Sache mit Herrn von Kühlmann korrespondiert. Herr von Kühlmann habe die Mitteilung einer Abschrift seines Briefes an Tyrrell zugesagt. Ebenso habe er versprochen, die Abschrift eines zweiten Briefes an Tyrrell mitzuteilen. Bis heute habe Herr von Kühlmann diese Zusage jedoch nicht gehalten, obschon eine geraume Wartezeit verstrichen sei. Er, Dr. Stresemann, habe in der Sache auch an Herrn Dr. Schacht geschrieben. Dafür habe Dr. Schacht die befremdliche Antwort erteilt, daß er ihn, den deutschen Außenminister, mit der ganzen Verantwortung dafür belaste, daß die Angelegenheit jetzt in das politische Fahrwasser geleitet worden sei, während die deutschen Experten sie als eine reine Wirtschaftsfrage zu behandeln gewünscht hätten.

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Siehe hierzu die ausführliche Darstellung in der Arbeit des Reichsarchivs über „die Entstehung des Young-Plans“ Teil II (BA: Nachlaß Pantlen  7) sowie die Kontroverse in Stresemann Vermächtnis III, S. 395 ff.

Bezüglich des Berichts des Reichsministers der Finanzen erklärte Reichsminister Dr. Stresemann, er habe schon bei einer früheren Gelegenheit im Auswärtigen Ausschuß kein Hehl daraus gemacht, daß er die Ausgangslinie Dr. Schachts in der Reparationsfrage insofern nicht für richtig halte, als die ganze Reparationslast auf 37 Jahre zusammengedrängt werden solle. Nach seiner Meinung solle man der jetzigen Generation, die den Krieg durchgemacht, ferner ihr Vermögen in der Inflation verloren und die schweren Lasten der Nachkriegszeit getragen habe, nicht auch die ganze Reparationslast aufbürden. Wenn Owen Young gesagt habe, daß ein Wirtschaftler nur die Entwicklung der nächsten 10–15 Jahre überblicken könne, so gelte dies auch für den Politiker von der Vorausschau auf die politische Entwicklung der Zukunft. Kein Politiker könne heute sagen, wie die politische Lage nach 10–15 Jahren sein werde. Er halte es daher für das beste, eine Verständigung mit der Gegenseite auf der Basis der Owen Youngschen Plattform für die nächsten 10–15 Jahre zu suchen. Ein Abbruch der Verhandlungen werde sich möglicherweise dahin auswirken, daß die Auslandskredite abgestoppt und bereits gewährte Kredite zurückgerufen würden. Deshalb sei er besonders deprimiert darüber, daß die deutsche Expertengruppe die Reichsregierung bei den Verhandlungen jetzt vor vollendete Tatsachen gestellt habe. Das deutsche Memorandum werde eine politische Einheitsfront gegen Deutschland zustandebringen. Es sei etwas anderes, die Behebung politischer Mißstände anzuregen, als die Erfüllung politischer Wünsche zur Bedingung zu machen. Die Gegenseite werde stets sagen, daß die Verhandlungen an den politischen Forderungen der deutschen Experten gescheitert seien. Dieses Ergebnis werde nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch große Komplikationen im Gefolge haben, zumal die gegenwärtige Regierungskoalition ihre Entstehung sehr stark der Hoffnung verdanke, daß die Reparationsverhandlungen zu einem positiven Ergebnis führen würden. Unter diesen Umständen müsse unter allen Umständen auf die Experten eingewirkt werden, und er empfehle, auf das Angebot einer Aussprache in Düsseldorf einzugehen.

Der Reichskanzler bestätigte, daß die Reichsregierung über Wortlaut und Inhalt des deutschen Memorandums vor der Übergabe an die Sachverständigenkommission nicht unterrichtet gewesen sei und daß sie auch von dem von[564] Herrn Kühlmann unternommenen Schritt keine Kenntnis gehabt habe. Was jedoch den von Dr. Schacht vertretenen Standpunkt anlange, daß er bei den Pariser Verhandlungen eine Verpflichtung zur Übernahme von Reparationen nur für die Dauer von 37 Jahren anerkennen wolle, so sei diese Einstellung Dr. Schachts stets bekannt gewesen. Die Regierung habe ihm auch niemals widersprochen. Man habe sich dahin verständigt, daß die Höhe der finanziellen Belastung des Zeitraumes nach 37 Jahren offen bleiben könne. Zur Aufstellung politischer Forderungen sei die deutsche Expertengruppe weder beauftragt noch ermächtigt gewesen. Dr. Kastl habe bei einem Besuch in Berlin am 1. März 1929 berichtet, daß von amerikanischer Seite Anregungen über politische Nebenwünsche an die deutsche Gruppe herangebracht worden seien8. Die Haltung, die er damals Herrn Kastl gegenüber zur Sache eingenommen habe, ergebe sich aus der Niederschrift über die Besprechung, [Wiedergabe des letzten Abschnitts aus der Niederschrift über die Besprechung am 1.3.29].

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Siehe Dok. Nr. 139.

Herr Geheimrat Kastl sei mit dieser Auffassung völlig einverstanden gewesen und habe noch erklärt, daß die bisherigen amerikanisch-deutschen vertraulichen losen Vorbesprechungen nicht anders aufgefaßt werden dürften.

In ganz ähnlichem Sinne seien weitere Vorbesprechungen über den gleichen Gegenstand mit Dr. Schacht am 16. März 1929 verlaufen9.

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Siehe Dok. Nr. 152.

Zu dem Vorschlage der Sachverständigen über eine Aussprache mit Mitgliedern des Kabinetts in Düsseldorf empfahl der Reichskanzler dessen Annahme, damit den Sachverständigen die Bedenken der Reichsregierung gegen einen Abbruch der Verhandlungen nicht unbekannt blieben.

Der Reichskanzler empfahl weiter, daß der Botschafter von Hoesch beauftragt werden möge, den französischen Außenminister Briand aufzusuchen und ihm darzulegen, daß die deutsche Regierung sich bisher jeder Einmischung in die Reparationsverhandlungen enthalten habe und daher wohl erwarten dürfe, daß auch der französische Ministerpräsident Poincaré ein gleiches tue und sich in der für Montag, den 22. April 1929 angekündigten öffentlichen Rede größtmöglichste Beschränkung auferlege10.

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In seiner Rede in Bar-le-Duc erklärte Poincaré, daß die Untersuchungen der Sachverständigen die Berechtigung der französischen Forderungen ergeben hätten. Durch das deutsche Memorandum seien die Hoffnungen auf eine Einigung illusorisch geworden „et nul ne sait encore s’il sera possible de poursuivre les conversations avec des chances serieuses de succes.“ Bei einem Fehlschlag werde man sich an den Dawes-Plan halten, der durch den in Kraft tretenden Wohlstandsindex eine Erhöhung der deutschen Annuitäten zur Folge haben werde (Telegramm v. Hoeschs Nr. 305 vom 22.4.; R 2 /2932 , Bl. 97). Briand betonte gegenüber dem deutschen Botschafter, er habe auf dessen Demarche hin auf den MinPräs. eingewirkt, so daß dessen Rede „durchaus gemäßigt“ gewesen sei (Telegramm v. Hoeschs Nr. 317 vom 25. 4.; R 43 I /298 , gefunden in R 43 I /282 , Bl. 112-115).

Reichsminister Hilferding führte aus, falls die Mehrheit des Kabinetts den Wunsch haben sollte, einzelne Mitglieder des Kabinetts zur Aussprache mit den Pariser Hauptdelegierten nach Düsseldorf zu entsenden, so müsse man sich der Tragweite und der etwaigen Konsequenzen dieses Schrittes sehr bewußt sein. Die Regierung greife in eine Situation ein, die eigentlich bereits vollendet sei. Die deutsche Gruppe habe sich in Paris absolut festgelegt. Wenn[565] sie jetzt ihre Haltung ändern werde, so übernehme die Regierung hierfür die Verantwortung. Von dieser Tatsache werde die deutsche Delegation später möglicherweise öffentlich Gebrauch machen. Die Verantwortung der Regierung sei um so größer, als eine Abweichung von der bisherigen Haltung nur bei einem Hinausgehen über die Ziffern des deutschen Memorandums möglich sein werde. Gleichwohl spreche er sich persönlich für eine Aussprache von Kabinettsmitgliedern mit den Delegierten in Düsseldorf aus.

Reichsminister Curtius erklärte, daß er nach reiflicher Überlegung zu der Auffassung gelangt sei, daß man die zwei Pariser Hauptsachverständigen veranlassen müsse, zur Unterrichtung des Gesamtkabinetts nach Berlin zu kommen. Für eine präzise Beurteilung des Standes der Pariser Verhandlungen sei noch zu vieles ungeklärt, so daß er sich nicht vorstellen könne, daß man einzelne Kabinettsmitglieder mit der Aufgabe betrauen könne, die Meinung des Gesamtkabinetts richtig und vollständig zum Ausdruck zu bringen, wenn ihnen in Düsseldorf die vollständige Unterrichtung durch die Hauptsachverständigen zuteil werde.

Reichsminister Severing führte aus, daß auch er von dem Gedanken, nur einzelne Kabinettsmitglieder nach Düsseldorf zu entsenden, nicht begeistert sei und daß er es lieber sehen würde, wenn die Sachverständigen nach Berlin kämen. Er halte es für einen großen politischen Fehler, daß von den Sachverständigen in dem deutschen Memorandum politische Forderungen aufgestellt worden seien. Wenn es zum Scheitern der Konferenz komme, würden innerpolitische Schwierigkeiten die Folge sein. Das Reichskabinett müsse den Sachverständigen daher unter allen Umständen davon Kenntnis geben, was es von den politischen Forderungen halte. Aus diesem Grunde sei die Entsendung von Kabinettsmitgliedern nach Düsseldorf kaum zu umgehen.

Reichsminister Wirth erklärte, daß die bestehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Kabinett und den Sachverständigen so, wie sie sich auf Grund der vorliegenden Berichte darstellten, so groß seien, daß eine Aussprache der Sachverständigen mit dem Gesamtkabinett unerläßlich sei. Er riet daher dringend an, die Sachverständigen nach Berlin zu bitten.

Reichsminister Stegerwald kam auf Grund längerer Erwägungen über die Sachlage zu dem gleichen Ergebnis wie Reichsminister Curtius und schloß sich dessen Vorschlag an, die Sachverständigen zur Aussprache nach Berlin zu bitten.

Reichsminister Dietrich erklärte, er sehe die Sache so an, daß die Aufgabe der Sachverständigen lediglich in der Erstattung eines Gutachtens bestehe, daß das letzte Wort über die Annahme oder Verwerfung des Gutachtens aber bei den Regierungen liege. Wenn das Kabinett jetzt eingreife, so werde es ihm sicherlich nicht gelingen, die Sachverständigen von ihren wirtschaftlichen Überzeugungen abzubringen. Darum sei es besser, man lasse sie unbeeinflußt zu ihrem Gutachten kommen und entscheide sich erst später, ob man das Gutachten annehmen wolle oder nicht. Greife man jetzt ein, so laufe man auf eine Situation los, die noch gefährlicher werde, wie sie ohnehin schon sei, da die Regierung durch das Eingreifen für das Gutachten mit verantwortlich werde, über das sie später frei zu entscheiden wünsche.

[566] Der Reichskanzler gab zu bedenken, daß ihm an der Beurteilung der Pariser Sachlage ein sehr wesentlicher Punkt noch immer unaufgeklärt erscheine. Nach den vorliegenden Berichten müsse man annehmen, daß in Paris zur Zeit nur der Plan B des deutschen Memorandums zur Erörterung gestellt und diskutiert worden sei, nicht aber auch der Plan A. Die politischen Bedingungen seien aber nur mit dem Plan A verknüpft11.

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In der Vollsitzung am 17. 4. hatte Moreau erklärt, „daß es sich tatsächlich in dem Memorandum nur um ein System handele, nämlich die Anlage B, da Anlage A nicht auf tatsächlichen Verhältnissen beruhe“ (Bericht Ruppels Nr. 463 vom 17.4.29; R 43 I /291 , Bl. 102-107, hier: Bl. 102). In der Vormittagssitzung des Revelstocke-Ausschusses am 18. 4. hatte Pirelli zur Tabelle B gemeint, sie stehe „allein zur Verhandlung“ (Bericht Ruppels Nr. 471 vom 19. 4.; R 43 I /291 , Bl. 130-134, hier: Bl. 131).

Reichsminister von Guérard empfahl daher, vor einer entscheidenden Stellungnahme des Reichskabinetts zunächst zu versuchen, durch Fernschreiber diesen überaus wesentlichen Punkt näher aufzuklären.

Reichsminister Stresemann sprach sich gegen die Entsendung von Kabinettsmitgliedern nach Düsseldorf aus. Zur Begründung führte er aus, daß die Reichsregierung den Sachverständigen vor der Öffentlichkeit absolute Verhandlungsfreiheit belassen habe. Es sei unmöglich, eine Reise von Kabinettsmitgliedern nach Düsseldorf geheim zu halten, und es werde durch eine vertrauliche Reise ohne Not in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, als suche die Reichsregierung etwas zu verbergen. Darum sei es richtiger, die Sachverständigen nach Berlin zu bitten, da niemand etwas daran finden könne, wenn die Reichsregierung in ihrer Gesamtheit den Wunsch habe, sich von ihren Sachverständigen über den Gang der Verhandlungen unterrichten zu lassen.

Auch Reichsminister Schätzel sprach sich in dem Sinne aus, daß die Sachverständigen zur Berichterstattung nach Berlin eingeladen werden sollten.

Der Reichskanzler stellte abschließend die einmütige Auffassung des Reichskabinetts dahin fest, Botschafter von Hoesch solle beauftragt werden, dem französischen Außenminister den Wunsch der Reichsregierung zum Ausdruck zu bringen, Ministerpräsident Poincaré möge bei seiner angekündigten öffentlichen Rede die gleiche Zurückhaltung über Reparationsfragen bekunden, welche die deutsche Regierung sich bisher auferlegt habe. Ferner stellte der Reichskanzler fest, daß das Kabinett die deutschen Sachverständigen Dr. Schacht und Dr. Vögler zur Unterrichtung über den Verlauf der Pariser Verhandlungen nach Berlin einzuladen wünsche.

Unmittelbar vor Schluß der Kabinettssitzung gab Ministerialdirektor Schäffer bekannt, daß soeben eine fernmündliche Mitteilung aus Paris eingetroffen sei, derzufolge die Herren Sachverständigen Dr. Schacht und Dr. Vögler selbst den Wunsch äußerten, sich mit der Reichsregierung über die in Paris geschaffene Lage auszusprechen, und daß sie bereit seien, nach Berlin zu kommen, sofern bei der Reichsregierung dieser Wunsch bestehe12.

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Das entsprechende Gespräch über Fernschreiber befindet sich in R 2 /2924 , Bl. 267-270.

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