2.96.1 (mu21p): Bericht über die Verhandlungen in Lugano.

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Bericht über die Verhandlungen in Lugano.

Der Reichsminister des Auswärtigen erstattete zunächst über die wichtigeren Verhandlungspunkte der Ratstagung Bericht. Im polnisch-litauischen Konflikt sei das Ergebnis erzielt worden, daß die Transit-Kommission mit einer Prüfung beauftragt worden sei, inwieweit Verbesserungen des Grenzverkehrs eingeführt werden könnten. Eine dauernde Entspannung der Lage sei auch durch diesen Beschluß nicht zu erwarten2. Die polnischen Absichten gegenüber Litauen seien trotz des gegenwärtigen polnischen Entgegenkommens sehr undurchsichtig.

2

Der Völkerbund hatte beschlossen, daß die polnisch-litauischen Beziehungen auf diplomatischem Wege geregelt werden sollten. Wegen Verkehrsschwierigkeiten sollte die Transitkommission die Verkehrs- und Transitfragen „unter Berücksichtigung der allgemeinen internationalen Vereinbarungen prüfen“ (AA-Runderlaß vom 28.12.28; R 43 I /494 , Bl. 261-267, hier: Bl. 261f).

Sehr überraschend sei der Beschluß zur Auflegung einer Saaranleihe gekommen. Es liege im Interesse der deutschen Politik, gegen das Zustandekommen einer solchen Anleihe zu arbeiten3.

3

Die Saaranleihe belief sich auf 250 Mio Francs. Stresemann hatte um längere Fristen für solche Verhandlungspunkte gebeten, damit auch die Saarbevölkerung gehört werden könne. Es sei darauf zu achten, daß aus der Anleihe keine „Komplikationen für eine Regelung des Saarproblems“ entstehen würden (AA-Runderlaß, R 43 I /494 , Bl. 261-267, hier: Bl. 264).

Der Reichsminister des Auswärtigen schilderte sodann die Entstehung des Konflikts mit dem polnischen Außenminister wegen der oberschlesischen Schulfragen4. Der Bericht Adatcis sei durchaus objektiv ausgefallen und es sei eigentlich vereinbart gewesen, keine weiteren Reden zu halten. Offenbar hätten die polnischen Delegierten aber eine starke propagandistische Wirkung von einer großen Rede ihres Außenministers erhofft. Festgestellt sei, daß die Rede Zaleskis sorgfältig vorbereitet worden sei. Durch die Rede des deutschen Außenministers sei die erhoffte Wirkung für Polen aber völlig zerschlagen worden, und man könne die Schlußworte Briands, in denen mehrfach auf die geheiligten Rechte der Minderheiten hingewiesen sei, als einen gewissen Vorteil für Deutschland buchen.

4

Zum Zusammenstoß zwischen Stresemann und Zaleski wegen dieser Angelegenheit s. Vermächtnis III, S. 412 ff. Bei der Schulbeschwerde ging es um Anmeldefristen, um den Zwang der Anmeldung vor einer polnischen Kommission, bei der der Arbeitgeber der Eltern anzugeben war, und um die ungünstige Situation der deutschen Minderheitenschulen. Das AA meinte, daß z. T. befriedigende Lösungen gefunden worden seien. Das Juristenkomitee werde sich mit der Anmeldungsfrage beschäftigen (Runderlaß vom 28. 12.; R 43 I /494 , Bl. 261-267, hier: Bl. 262f).

[329] Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete sodann über seine Bespresprechungen mit den Herren Briand und Chamberlain.

Die Aussprache über die letzte Rede von Herrn Briand habe gezeigt, daß letzterer, wohl aus Rücksichten der französischen Innenpolitik, den historischen Hergang von Thoiry und Locarno völlig zu entstellen geneigt sei5. Herr Briand habe aber zugesagt, demnächst in öffentlicher Rede nochmals über Thoiry zu sprechen und seine Ausführungen richtigzustellen.

5

Gemeint ist wohl Briands Rede vor der französischen Kammer am 4.12.1928, siehe Egelhaaf 1928, S. 80 f.

Über die Reparationsfragen sei nur wenig gesprochen worden; dagegen sehr eingehend über die Rheinlandräumung. Zwischen dem deutschen und dem französischen Außenminister sei ein hartnäckiger Kampf um die von Frankreich gewünschten Kommissionen entstanden. Eine Einigung sei nicht zu erzielen gewesen, und Herr Briand habe endlich in Aussicht gestellt, seine Meinung schriftlich niederzulegen und an den deutschen Außenminister vertraulich zu senden, in der Erwartung, eine Stellungnahme zu seinen Vorschlägen zu erhalten. Im Auswärtigen Amt werde als Möglichkeit eines Auswegs geprüft, ob vielleicht ein Verfahren eingeführt werden könne, wonach in Streitfällen vor Anrufung des Völkerbundes von Fall zu Fall eine Vorinstanz eingeschaltet werden könne. Ob dieser Weg für Deutschland gangbar sei, könne aber jetzt noch nicht gesagt werden6.

6

StS Meissner hatte StS Pünder zur Übermittlung an den RK mitgeteilt, daß der RPräs. über Berichte der Rechtspresse zu der in Genf angeregten Ausgleichskommission beunruhigt sei. Er wolle sich nicht die Ansicht zu eigen machen, daß Stresemann in Lugano geneigt sei, „etwaigen solchen französischen Wünschen Rechnung zu tragen, insbesondere auch durch eine Zusage über 1935 hinaus“. Die Kommission komme über diesen Zeitpunkt hinaus nicht in Frage. Sei Stresemann auf Grund seiner Unterhaltung in Lugano anderer Meinung, müsse sich ein Ministerrat mit der Frage befassen (Vermerk Pünders vom 13.12.28; R 43 I /494 , Bl. 246).

Es habe Übereinstimmung bestanden, daß die Räumungsverhandlungen weitergeführt werden sollten, auch wenn die Reparationsverhandlungen zum Stillstand kämen. Herr Chamberlain habe sich sehr lebhaft gegen jede partielle Räumung ausgesprochen, da jetzt nur noch die Totalräumung den gewünschten Erfolg der politischen Entspannung haben könne.

Auf Briands Anfrage, ob eine Räumung der 2. Zone in Deutschland freundlich begrüßt werden würde, falls die Reparationsverhandlungen im guten Fortschreiten seien, sei von den deutschen Delegierten geantwortet worden, daß eine solche Geste jetzt eigentlich etwas spät käme.

Auch über die Frage des Rechtsstandpunktes bezüglich der Rheinlandräumung, die allerdings nur gestreift worden sei, habe man sich nicht einigen können7. Der Reichsminister des Auswärtigen erklärte, daß er über die Rechtsfrage demnächst ein Interview an die amerikanische „Baltimore Sun“ geben werde, um den deutschen Standpunkt erneut darzulegen. Einen sehr ungünstigen Eindruck hätten die Erklärungen Briands bezüglich der Saarfrage gemacht. Er habe ausgeführt, daß er dieser Frage wegen große Schwierigkeiten auf französischer Seite erwarte.

7

Chamberlain hatte am 3. 12. vor dem Unterhaus erklärt, Deutschland habe keinen Rechtsanspruch auf die Räumung des Rheinlands, da es seine Reparations-Verpflichtungen noch nicht erfüllt habe (Schultheß 1928, S. 272 f.).

[330] Abgesehen von diesen Besprechungen sei mit den Herren Chamberlain und Briand noch kurz über die Russenpolitik gesprochen worden. Beide hätten nachdrücklich erklärt, daß ihnen jede aggressive Politik gegen Rußland fern liege, da man durch eine solche nur die Evolution der russischen Verhältnisse stören würde.

Die Unterredung mit dem italienischen Unterstaatssekretär Grandi habe keine neuen Ergebnisse gezeitigt.

Der chilenische Delegierte habe von deutscher amtlicher Seite eine Äußerung angeregt, die dem Interesse Deutschlands am Verbleiben Chiles im Völkerbund Ausdruck gebe. Das Auswärtige Amt beabsichtige, zur gegebenen Zeit den deutschen Gesandten in Chile zu einer solchen Äußerung zu ermächtigen.

Der Reichskanzler dankte dem Reichsminister des Auswärtigen für seinen Bericht und schloß hierauf die Ministerbesprechung.

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