1.133.1 (mu22p): Kassenkredit des Reichs.

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Kassenkredit des Reichs.

Der Reichskanzler teilte mit, daß er am Vormittag dem Herrn Reichspräsidenten über die Kassenschwierigkeiten des Reichs und die Haltung des Reichsbankpräsidenten gegenüber den Anleiheverhandlungen der Reichsregierung eingehend Vortrag gehalten habe. Dabei habe er dem Herrn Reichspräsidenten den ganzen Ernst der Situation eindringlichst dargestellt1. Der Herr Reichspräsident habe sich daraufhin dankenswerterweise bereit erklärt, den Reichsbankpräsidenten Dr. Schacht am Nachmittag zu empfangen, um zu versuchen, auf ihn einzuwirken, damit er seine bisher ablehnende Haltung gegenüber den Anleiheplänen der Reichsregierung mildere2. Diese Besprechung mit Dr. Schacht habe indessen zu keinem Ergebnis geführt. Dr. Schacht mache seine Zustimmung zu der Reichsanleihe nach wie vor davon abhängig, daß im Jahre 1930 500 Millionen RM neue Deckungsmittel zur Schuldentilgung bereitgestellt würden. Er berufe sich darauf, daß er diese Forderung den Reichsministern Hilferding und Moldenhauer bereits am 5. Dezember 1929 in einer Unterredung nachdrücklichst vertreten habe, und daß er sich zur Veröffentlichung seines Memorandums nur wegen des unbefriedigenden Ausgangs dieser Unterredung entschlossen habe. An dieser Forderung Dr. Schachts habe auch das Finanzprogramm der Regierung nichts geändert. Er verlange, daß nach außen hin erkenntlich eine Schuldentilgungssumme[1271] in den Reichsetat eingestellt werde. Er denke sich die Erfüllung seiner Forderung in folgender Weise: Die Summe des Reichshaushalts 1929 soll zur Ausgangsbasis genommen werden. Das Aufkommen aus der im Sofortprogramm vorgesehenen Tabaksteuer in Höhe von 220 Millionen Reichsmark solle um 280 Millionen RM, die durch Ersparnisse gewonnen werden sollen, erhöht werden, so daß eine Schuldentilgungssumme von 220 + 280 = 500 Millionen RM erreicht werde. Auf die Frage, auf welche Weise die Ersparnis von 280 Millionen RM ermöglicht werden solle, habe Dr. Schacht erklärt, daß er hierzu keine Vorschläge zu machen habe, daß dies vielmehr Sache des Reichstags sei. Er persönlich könne sich vorstellen, daß die Summe z. B. durch Kürzung der Überweisungen an die Gemeinden ohne weiteres gewonnen werden könne. Allen Vorstellungen gegenüber, daß die Erfüllung der gestellten Forderung unter den gegenwärtigen parlamentarischen Verhältnissen unmöglich sei, habe Dr. Schacht sich unzugänglich gezeigt; er habe sich lediglich dazu bereit erklärt, seine Forderung auch den Fraktionsführern der Koalitionsparteien gegenüber persönlich zu vertreten. Obschon er es für unmöglich halte, daß die Parteien auf die Vorschläge Dr. Schachts eingingen, nachdem die Parteien sich nach schwierigsten Verhandlungen am 14. Dezember auf das Finanzprogramm der Reichsregierung geeinigt hätten, halte er es doch für richtig, Dr. Schacht Gelegenheit zu geben, den Parteiführern seinen Standpunkt vorzutragen. Zu diesem Zweck habe er die Fraktionsführer und Dr. Schacht auf 8 Uhr in die Reichskanzlei eingeladen.

1

Zur Unterstützung seiner Darlegung hatte der RK eine Aufzeichnung über die Finanzlage überreicht. In ihr wurde festgestellt, zu ultimo Dezember sei ein Defizit von 330 Mio RM zu decken. Die hierfür geführten Kreditverhandlungen würden jedoch von Schacht gefährdet. Aber die Kreditbeschaffung sei kein „Schöpfen in ein Danaidenfaß“, weil der Kassenbedarf im Januar auf Grund der starken Steuereingänge nur gering sei. Nach Annahme des Young-Plans werde sich der Bedarf weiter vermindern, da der Unterschied zwischen Dawes- und Young-Plan 465 Mio RM ausmache. Dann könne die Kassenbelastung, die durch die Anforderungen der ALV in Höhe von 150 RM entstehe, ertragen werden. Aus der Schwedenanleihe kämen weitere 500 Mio RM herein. Mißlinge aber die Kreditaufnahme in Amerika, dann bedeute dies die Einstellung der Zahlungen in Höhe von 330 Mio RM. Das werde eine Beunruhigung des Volkes zur Folge haben und den Kredit des Reiches für lange Zeit vernichten. Eingestellt werden müßten die Zahlungen z. B. bei 1. Gehältern und Pensionen der Offiziere und Beamten, 2. Zahlungen der ALV in Höhe von 5 Mio RM täglich, 3. Zahlungen an die Kriegsbeschädigten in Höhe von 140 Mio RM monatlich, 4. Geldern für das Ostpreußenprogramm, 5. Zahlung für die Anleiheablösungsschuld an Inflationsgeschädigte und Kleinrentner, 6. Einlösung der fälligen Kredite (SPD: Nachlaß Müller  O II). Siehe dazu auch Pünders Tagebucheintragung vom 20.12.29, Politik in der Rkei, S. 32.

2

Siehe Dok. Nr. 387.

Daß auch der Reichsregierung ein Eingehen auf die Forderung Dr. Schacht unmöglich sei, brauche er wohl nicht besonders zu betonen. Er habe Dr. Schacht bisher immer nur dahin verstanden, daß er im Jahre 1930 eine Senkung des Kassendefizits um 500 Millionen RM fordere, und er habe diese Forderung durch das Finanzprogramm der Reichsregierung als erfüllt angesehen, da ja durch den Nachtragshaushalt 1929 das Defizit von 1928 und 1929, das 460 [Millionen] RM ausmache, abgedeckt würde. Die Forderung, daß über die Abdeckung dieser Beträge hinaus weitere 500 Millionen RM bereitgestellt werden müßten, sei ihm einigermaßen überraschend gekommen. Wenn man Dr. Schacht nachgäbe, sei an eine Steuersenkung im Jahre 1930 nicht zu denken. Die Situation sei so ernst, daß die Reichsregierung sich für den Fall, daß die Anleiheverhandlungen am Widerstande Dr. Schachts scheitern sollten, möglicherweise in die Notwendigkeit versetzt sehen werde, am folgenden Tage zurückzutreten. Dr. Schacht sei über diese Situation durchaus aufgeklärt worden, und er wisse auch, worum es sich handele.

Der Reichsverkehrsminister bemerkte, daß sich durchaus darüber reden ließe, wie man materiell die geforderte Summe von 500 Millionen RM gewinnen könne; z. B. indem man die geplante Steuersenkung erst vom 1. Oktober 1930 an vorsehe oder indem man die Zuckersteuer noch eine Zeitlang fortbestehen lasse und zur Schuldentilgung verwende oder ähnliche außerordentliche Maßnahmen vorsähe. Um eine derartige materielle Lösung des Problems handele es sich aber nicht. Das Problem, das zu lösen sei, sei ein politisches. Er halte es für ausgeschlossen, daß die Parteien sich dem Wunsche Dr. Schachts fügen würden. Auch für die Reichsregierung sei es politisch unmöglich, der Forderung Dr. Schachts nachzugeben.

[1272] In ähnlichem Sinne sprach sich der Reichspostminister aus.

Das Kabinett billigte den Vorschlag des Reichskanzlers, der dahin geht, daß Dr. Schacht den Fraktionsführern seinen Standpunkt persönlich auseinandersetzen soll3.

3

Siehe Dok. Nr. 390.

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