1.49.2 (mu22p): 3. Politische Lage.

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Kabinett Müller II. Band 2 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

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RTF

3. Politische Lage2.

2

Über die politische Lage hatte Pünder an Meissner einen Bericht gesandt, mit dem sich zuvor der RJM, der RFM und der RAM einverstanden erklärt hatten. Der StSRkei hatte darin ausgeführt, bei der Rückkehr des RK liege ein Kompromißantrag über die ALV nicht einmal in Umrissen vor. Da die vom RR verabschiedeten Gesetze in der RT-Drucks. 1311  die Unterschrift eines MinDir. des RArbMin. (Sitzler) tragen würden, glaube die Öffentlichkeit nicht mehr „an die Festigkeit der RReg. hinsichtlich ihrer eigenen Stellungnahme“. Weil die SPD dem befristeten Gesetz nicht zustimmen werde, sei bei gesonderter Behandlung der ALV eine Einigung nicht zu erzielen. „Eine Lösung kann nur dann gefunden werden, wenn die mit der Erledigung des Young-Plans zusammenhängenden Reformpläne, namentlich hinsichtlich der finanziellen Erleichterung der deutschen Wirtschaft mit in den Kreis der Erörterungen gezogen werden.“ Bei Beginn der Besprechungen solle der RK die Erörterungen „gleich auf diese weitere Basis“ stellen. Ein Finanzreformprogramm sei im RFMin. von Hilferding und Popitz aufgestellt worden. Dies Programm solle den Parteiführern vorgelegt werden. Werde auch dann keine Einigung erzielt, gebe es keinen Ausweg aus der politischen Lage. Komme es aber zur Einigung, so sei „eine lange und leidliche ruhige Arbeit“ der Koalition möglich. Die ALV-Gesetze könnten in einer Woche im RT erledigt werden, und auf der neuen Basis seien die weiteren Gesetze für die „parlamentarische Winterarbeit“ vorzubereiten (26. 9.; BA: Nachlaß Pünder  129).

Der Reichskanzler führte aus, daß die Öffentlichkeit jetzt vielfach zur Arbeitslosenversicherungsreform vom Reichskabinett eine neue Vorlage erwarte.[969] Nach seiner Ansicht sei das unmöglich. Er habe sich jedoch Mühe gegeben festzustellen, wie nach Ansicht des Reichstags die Basis für eine neue Vorlage des Reichskabinetts aussehen solle. Vielfach werde vom Reichstag die Auffassung vertreten, das Reich solle die Zuschüsse an die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung begrenzen und dem Präsidenten der Reichsanstalt unter bestimmten Voraussetzungen eine Ermächtigung zur Herabsetzung der Unterstützungsleistungen geben.

Es werde bekannt sein, daß das Reichsfinanzministerium ein umfangreiches Finanzprogramm ausgearbeitet habe. Das Kabinett werde sich mit diesem Programm befassen müssen. Es entstehe jetzt die Frage, ob eine Verknüpfung der Reform der Arbeitslosenversicherung mit dem Finanzprogramm stattfinden solle. Vielleicht könne eine Atmosphäre gefunden werden, in der die Gesetzentwürfe zur Reform der Arbeitslosenversicherung durchgebracht werden könnten. Wenn das dem jetzigen Kabinett nicht gelingen sollte, wisse er nicht, wie eine neue Mehrheit für ein anderes Gesetz zu finden sei.

Der Reichsminister der Finanzen führte aus, daß durch Annahme des Young-Plans für das Etatsjahr 1929 eine Ersparnis von 464,2 Millionen Mark erzielt werde. Diese Ersparnis werde3 für den Nachtragshaushalt 1929 gebraucht werden. In Wirklichkeit sei der Haushalt 1929 ein Defizithaushalt. Er wolle nur u. a. darauf hinweisen, daß auf der Einnahmeseite ein Ausfall von 130–150 Millionen Mark zu erwarten sei. Dieser Ausfall sei dadurch zu erklären, daß auf Wunsch der Parteien die Steuereinnahmen zum Teil zu hoch eingesetzt seien. Es sei ferner aus dem Etatsjahre 1928 ein Rest von 155 Millionen Mark vorhanden. Im übrigen entstünden zwangsläufig eine Reihe von Mehrausgaben, nämlich:

3

Dahinter gestrichen: „im wesentlichen“.

a)

Besatzungskosten 50–70 Millionen Mark (30 Millionen M Besatzungskosten auf Grund der Haager Vereinbarungen, 36 Millionen Mark Verzicht auf Claims bis zum 1.10.1929),

b)

Zahlungen auf Grund des belgischen Markabkommens 14,2 Millionen Mark,

c)

Erhöhung der Anleihe- und Kreditzinsen 40–45 Millionen Mark,

d)

Erhöhung des Pensionsfonds 20–30 Millionen Mark.

[970] Wenn durch den Nachtragshaushalt für 1929 auch das Defizit für 1928 ausgeräumt werde, werde naturgemäß eine Erleichterung der Kassenlage eintreten. Es werde dann vielleicht auch möglich sein, eine ausländische Anleihe zu vernünftigen Bedingungen zu erhalten.

Was die anfangs erwähnten Besatzungskosten anlange, so müsse er ergänzend bemerken, daß die Gesamtkosten der Räumung sich auf ungefähr 146 Millionen Mark belaufen würden. Diese Kosten würden allerdings nicht sofort entstehen. Es hätten über diese Kosten eingehende Besprechungen mit dem Reichsministerium für die besetzten Gebiete stattgefunden, in denen man sich auf die erwähnte Summe geeinigt habe.

Der Reichsminister des Auswärtigen bezeichnete diese Summe als erstaunlich hoch. Er bat um Übersendung einer genauen ziffernmäßigen Aufstellung.

Der Reichsminister der Finanzen erklärte sich hierzu bereit4.

4

In einer Randnotiz vermerkte Wienstein, er habe das RFMin. an die Aufstellung erinnert (R 43 I /1439 , Bl. 165, hier: Bl. 165).

Er ging sodann weiter zu dem Etat von 1930 über und erklärte, daß selbstverständlich die echten Streichungen des Etatsjahres 1929 auch für 1930 aufrechterhalten werden müßten. Die Ersparnisse aus dem Young-Plan würden für 1930 704 Millionen Mark insgesamt ausmachen. Er habe nun, beginnend mit dem Jahre 1930, ein großes Finanzprogramm im Entwurf fertiggestellt, das sich auf insgesamt 5 Jahre erstrecken solle. Im einzelnen denke er an folgendes:

a)

Halbierung der Zuckersteuer.

Hierdurch werde ein Einnahmeausfall von 70 Millionen Mark entstehen. Er hoffe in Übereinstimmung mit Wirtschaftskreisen, daß durch die Senkung der Zuckersteuer eine Steigerung des Konsums entstehen werde5. In Deutschland sei der Konsum an Zucker noch weit geringer als z. B. in England und in Skandinavien. Die Senkung der Zuckersteuer sei eine alte Forderung der Landwirtschaft.

5

Der Zuckerverbrauch, der 1913/14 pro Kopf der Bevölkerung 18,99 kg betragen hatte, war von 13,32 kg im Jahr 1923/24 auf 23,86 kg im Jahr 1928/29 (bis zum 15.9.29) angestiegen (Statist. Handbuch 1929, S. 295).

b)

Senkung der Einkommensteuer.

Die Senkung der Einkommenssteuer solle in 3 Etappen, und zwar in Abständen von jedesmal 1½ Jahren erfolgen. Insgesamt solle der höchste vorgesehene Steuersatz von 35% ein Drittel des Einkommens nicht übersteigen. Der genannte Höchstsatz solle auch nur bei Einkommen von über 100 000 M Anwendung finden.

c)

Heraufsetzung des existenzfreien Minimums.

Er plane, das existenzfreie Minimum ab 1. Juli 1930 von 1200 auf 1400 M, ab 1. Januar 1932 auf 1560 und ab 1. Juli 1933 auf 1800 M heraufzusetzen. Die genannten Sätze sollten für einen ledigen Steuerpflichtigen gelten.

Für einen Verheirateten mit 2 Kindern werde sich die Heraufsetzung des steuerfreien Minimums in der Weise auswirken, daß von den genannten 3 Terminen ab 2940, 3060 und 3300 M steuerfrei blieben.

[971] Nach Ablauf von 5 Jahren würde die genannte Steuerreform insgesamt eine Mindereinnahme von 1 Milliarde Mark ausmachen und in jedem einzelnen der 5 Jahre eine Mindereinnahme von 200 Millionen Mark.

Auf die Frage des Reichswirtschaftsministers, wieviel von dieser Mindereinnahme auf die Lohnsteuer entfalle, erwiderte

der Reichsminister der Finanzen daß die Mindereinnahme an Lohnsteuer 500 Millionen Mark ausmachen werde. Die geplante Neuregelung werde zur Folge haben, daß viele ungelernte sowie weibliche Arbeiter von der Lohnsteuer ganz befreit würden.

d)

Senkung der Realsteuern.

Der Reichsminister der Finanzen führte aus, daß für die Annahme der auf diesem Gebiet geplanten Reformen eine ⅔-Mehrheit im Reichstag erforderlich sei. Er plane zunächst ein Sperrgesetz für 5 Jahre, das die Erhöhung der Realsteuern verbiete. Im 1. Jahre wolle er eine Senkung der Realsteuern um 10% vorschreiben. Von den ausfallenden 10% wolle er im 1. Jahr den vollen Betrag den Ländern und Gemeinden erstatten, im 2. Jahr nur 8%, im 3. Jahr 6%, im 4. Jahr 4%, im 5. Jahr 2%. Danach solle ein Ersatz des Ausfalls durch das Reich nicht mehr in Frage kommen. Von dem genannten Ersatz in Höhe von 10% sollten 5% den Gemeinden unmittelbar zufließen, die anderen 5% wolle er den Ländern für einen Lastenausgleichsfonds überweisen.

Die Pläne auf Senkung der Realsteuern ständen im gewissen Zusammenhange mit dem Steuervereinheitlichungsgesetz, das von den gesetzgebenden Körperschaften noch nicht verabschiedet worden sei. Die Regierung müsse betonen, daß sie auf baldige Erledigung dieses Gesetzentwurfs Wert lege. Durch die geplante Senkung der Realsteuern werde ein Einnahmeausfall für das Reich von insgesamt 200 Millionen Mark eintreten.

e)

Erhöhung der Biersteuer.

Die durch Annahme des Young-Plans erzielten Ersparnisse würden nun nicht ausreichen, um den Etat von 1930 ab zu balancieren. Er (der Reichsminister der Finanzen) halte deshalb eine Biersteuererhöhung in dem Ausmaße für nötig, wie er sie für den Etat 1929 vorgeschlagen habe.

Er verkenne nicht, daß die Biersteuer eine gewisse Sonderbelastung für Bayern darstelle, weil die Bierproduktion und der Bierkonsum in Bayern relativ am größten seien. Andererseits halte er jedoch die Erhöhung der Biersteuer für unvermeidbar. Im Zusammenhange damit denke er an eine

f)

Änderung des Finanzausgleichs.

Die Änderung solle in folgender Weise erfolgen:

Es sollten erhalten:

von dem Aufkommen an Einkommen- und Körperschaftssteuer das Reich 40% (bisher 25%), die Länder 60%;

von dem Aufkommen an Umsatzsteuer das Reich 75% (bisher 70%), die Länder 25%;

von dem Aufkommen an Biersteuer das Reich 30%, die Länder 70%;

aus dem Spiritus- und Branntweinmonopol das Reich 30%, die Länder 70%.

[972] Im Endergebnis würden die Länder gegenüber dem Soll des Etats 1929 nach Durchführung der genannten Änderung des Finanzausgleichs 50 Millionen Mark mehr erhalten, Bayern allein 18–20 Millionen Mark mehr. Der § 35 des Finanzausgleichs solle fallen6.

6

Mecklenburg-Schwerin erklärte zu dem beabsichtigten Wegfall des § 35, daß es hierdurch in große finanzielle Not gebracht werde. Dem Gesandten des Landes, Tischbein, sagte dazu der StSRkei, das RKab. habe nicht die Absicht, die Reichsreform durch ungerechte Steuermaßnahmen zu fördern und kleinere Länder durch „finanzielle Auspowerung“ zum Anschluß an Preußen zu zwingen (Vermerk Pünders v. 1. 11.; R 43 I /2362 , Bl. 107, hier: Bl. 107). Zum Protest der Lippischen Landesregierung gegen Verhandlungen des Reichs und Preußens über den § 35 ohne Rücksicht auf die anderen Länder (25. 11.; R 43 I /2389 , S. 135-137, hier: S. 135-137) erklärte der RK, die Frage des Finanzausgleichs sei nur im Rahmen eines umfassenden Finanzreformprogramms nach Verabschiedung des Young-Plans zu lösen. Sobald die notwendigen Voraussetzungen gegeben seien, werde der RFM mit den Ländern in Verbindung treten (2.12.29; R 43 I /2389 , S. 139 f., hier: S. 139 f.).

Er halte fernerhin noch eine Änderung

g)

der Industriebelastung

für erforderlich. Die Industriebelastung müsse innerhalb von 5 Jahren möglichst abgebaut werden.

Schließlich müsse eine

h)

Beseitigung der Rentenbankzinsen

stattfinden. Im Zusammenhang hiermit werde allerdings wahrscheinlich eine Erhöhung des Kapitals der Rentenbank-Kredit-Anstalt nötig sein.

Endlich denke er an

i)

die Einführung eines beweglichen Faktors im Zusammenhang mit der Senkung der Realsteuern.

Es solle eine Erhöhung der Realsteuern nicht ohne Erhöhung dieses beweglichen Faktors möglich sein. Er denke sich als beweglichen Faktor eine Gemeindebürgersteuer von 6 Mark auf den Kopf des Wahlberechtigten. Es müsse die Möglichkeit bestehen, daß diese Gemeindebürgersteuer um 50–100% erhöht werde. Vielleicht könne man auch an die Gemeindegetränkesteuer als beweglichen Faktor denken. In diesen Punkten befürchte er Schwierigkeiten bei den Parteien. Im übrigen glaube er, keine wesentlichen Schwierigkeiten bei den Parteien befürchten zu müssen.

Endlich wolle er noch eine

k)

Erhöhung der Freigrenze bei der Vermögenssteuer

von 5000 auf 20 000 M durchführen. Hiervon verspreche er sich vor allem eine große Verwaltungsersparnis, da zur Zeit 700 000 Steuerpflichtige veranlagt werden müßten, die ein Vermögen zwischen 5000 und 20 000 M hätten. Diese 700 000 Steuerpflichtigen – übrigens 51% der Vermögenssteuerpflichtigen – erbrächten nur einen Gesamt-Steuerertrag von 17 Millionen Mark.

Auf die Frage des Reichsministers des Auswärtigen, wieviel Beamte durch diese Maßnahme erspart werden könnten, erwiderte der Reichsminister der Finanzen daß in den ersten Jahren ein Beamtenabbau nicht erwogen werden könne, vielmehr sollten die Beamten sich sorgfältig der Veranlagung der großen Vermögen widmen können. Auch werde die[973] Durchführung des Steuervereinheitlichungsgesetzes große Arbeit bereiten. Nach einigen Jahren werde jedoch vielleicht ein Personalabbau erwogen werden können.

Der Reichskanzler bat zu überlegen, wie man nun taktisch vorgehen solle. Es sei vielleicht möglich, nur die Vorsitzenden der Fraktionen von diesem Finanzprogramm in Kenntnis zu setzen. Die Fraktionsvorsitzenden würden jedoch nicht ohne Anhörung ihrer Fraktionen ihre grundsätzliche Zustimmung zu dem Finanzprogramm erklären wollen.

Der Reichsminister der Finanzen erwiderte, daß die Grundzüge seines Programms nach seiner Auffassung von den Regierungsparteien gebilligt werden könnten. Er befürchte von dieser Seite keine allzugroßen Schwierigkeiten, nachdem er im übrigen die Grundzüge des Programms mit einigen Sachverständigen der Fraktionen bereits besprochen habe. Starken Widerstand erwarte er jedoch von den Ländern. Das für die Realsteuern gedachte Sperrgesetz müsse auf 5 Jahre befristet werden, dann müsse das Steuervereinheitlichungsgesetz ergänzend eingreifen.

Was nun die Reform der Arbeitslosenversicherung anlange, so halte er vor allem Verhandlungen zwischen den Regierungsparteien über den § 2 des Sondergesetzes und über den § 4, d. h. die Beitragserhöhung von ½%, für erforderlich. Die Anträge der Deutschnationalen beziehungsweise der Deutschen Volkspartei, die ohne Beitragserhöhung auskommen wollten, würden im Reichstag keine Mehrheit finden. Die Beitragserhöhung von ½% werde im ganzen 140 Millionen Mark Mehreinnahmen für die Reichsanstalt bringen. Von diesen 140 Millionen Mark müßten die Arbeitgeber die Hälfte, also 70 Millionen Mark, tragen. Vielleicht könne man die Deutsche Volkspartei darauf hinweisen, daß dieser Mehrbelastung der Arbeitgeber in Höhe von 70 Millionen Mark eine Entlastung der Wirtschaft nach 5 Jahren um 1 Milliarde gegenüberstehe. Dieser Vergleich müsse unbedingt Eindruck machen.

Im übrigen sei zu bedenken, daß für die Durchführung eines Teils des Finanzprogramms eine ⅔-Mehrheit im Reichstag erforderlich sein werde. Das Finanzprogramm werde also nicht gegen die Sozialdemokratische Partei angenommen werden können, zumal die Wirtschaftspartei das Programm kaum billigen werde. Nach seiner Ansicht solle sich nunmehr das Reichskabinett auf den Boden des dargelegten Finanzprogramms stellen.

In außenpolitischer Hinsicht sei im übrigen auch zu bedenken, daß die Annahme des Young-Plans nicht nur Ersparnisse für den deutschen Reichshaushalt, sondern auch die Rheinlandräumung bedeute. Die deutsche Öffentlichkeit müsse hierauf mehr als bisher hingewiesen werden.

Der Reichsminister des Auswärtigen stimmte den zum Schluß geäußerten außenpolitischen Ausführungen des Reichsministers der Finanzen zu. Er erklärte jedoch im übrigen, sehr große Bedenken außenpolitischer Art dagegen zu haben, daß das Finanzprogramm jetzt öffentlich bekannt werde. Er müsse darauf aufmerksam machen, daß Deutschland nach Wunsch fremder Staaten auf den Überschuß aus Liquidationen verzichten solle. Es handle sich hierbei zum Teil um beträchtliche Summen. Die Stellung unserer Unterhändler in diesen und anderen Fragen werde aufs äußerste gefährdet werden, wenn das Ausland[974] erfahre, daß die Reichsregierung ein großes Steuersenkungsprogramm plane. Es sei daher unmöglich, dieses Finanzprogramm taktisch mit dem Programm der Reform der Arbeitslosenversicherung zu verbinden. Er habe deshalb vor einigen Tagen dem Staatssekretär in der Reichskanzlei mitgeteilt, daß nach seiner Ansicht das Problem der Reform der Arbeitslosenversicherung am besten noch etwas vertagt werde7.

7

Siehe Dok. Nr. 298, Anm. 1.

Der Reichskanzler schloß sich den Bedenken des Reichsministers des Auswärtigen dagegen an, das dargelegte Finanzprogramm jetzt bekannt werden zu lassen.

Der Reichsminister der Justiz führte aus, daß die Autorität der Reichsregierung durch die Verschleppung der Reform der Arbeitslosenversicherung bereits stark gelitten habe. Die Reform müsse nunmehr endlich durchgeführt werden.

Das vom Reichsminister der Finanzen dargelegte Finanzprogramm dürfe hauptsächlich aus außenpolitischen Gründen nicht in der Öffentlichkeit bekannt werden. Es entstehe jedoch die Frage, ob es jetzt, nachdem das Reichskabinett das Finanzprogramm kenne, möglich sei, in der Reform der Arbeitslosenversicherung weiterzukommen. Man müsse das Finanzprogramm mit maßgebenden Leuten der einzelnen Fraktionen besprechen. Vielleicht könne man dann in der Reform der Arbeitslosenversicherung weiter kommen. Auf keinen Fall dürften die Redner der Regierungsparteien in der Plenarsitzung des Reichstags am Montag, dem 30. September, in schroffer Weise gegeneinander sprechen. Das Zentrum werde bereit sein, nochmals einen Zuschuß an die Reichsanstalt von 50 Millionen Mark zu bewilligen, im Zusammenhang hiermit [sei] jedoch die Reichsanstalt zu ermächtigen, erforderlichenfalls die Unterstützungssätze herunterzusetzen. Auf den Grundgedanken des Antrages Riesener könne das Zentrum nicht ganz verzichten. Die vorgesehene besondere Beitragserhöhung für Saisonarbeiter könne das Zentrum nicht bewilligen. Es werde jedoch bereit sein, einer befristeten Beitragserhöhung von ½% zuzustimmen. Nach Auffassung des Zentrums werde man von einer Zahl von 1 100 000 Erwerbslosen ausgehen müssen. Das Zentrum sei bereit, mit allem Ernst und mit gutem Willen an der Reform der Arbeitslosenversicherung mitzuarbeiten.

Zum Finanzprogramm wolle er nur bemerken, daß es fraglich sein könne, ob die geplante Erhöhung der Biersteuer genügen werde. Was die Industriebelastung angehe, so wünsche das Zentrum, daß auch Vermögen bis zu 100 000 Mark von dieser Belastung befreit würden. Die Kopfsteuer könne vielleicht nach dem Miquelschen Vorbilde gestaltet werden8.

8

Gemeint ist die preußische Finanzreform von 1891, in der u. a. eine progressive Einkommensteuer vorgesehen war, die auf Selbsteinschätzung beruhte. Siehe dazu Drucks. Nr. 5 der 17. Session des Pr. Abgeordnetenhauses und das Gesetz vom 24.6.1891, Pr. Gesetzessammlung 1891, S. 175 ff.

Der Reichsminister der Finanzen führte aus, daß er die vom Reichsminister des Auswärtigen vorgetragenen Argumente gegen ein vorzeitiges Bekanntwerden des Finanzprogramms durchaus anerkenne. Er habe auch die wenigen Abgeordneten,[975] mit denen er bisher über das Programm gesprochen habe, um strengste Geheimhaltung gebeten. Es werde nicht möglich sein, die Fraktionen mit dem Finanzprogramm zu befassen.

Auch der Reichsverkehrsminister erklärte, er teile die Bedenken des Reichsministers des Auswärtigen gegen ein vorzeitiges Bekanntwerden des Finanzprogramms. Es sei jedoch andererseits unmöglich, ohne Eingehen auf Einzelheiten mit den Fraktionen über das Finanzprogramm zu sprechen, um ihre Zustimmung zur Reform der Arbeitslosenversicherung durch Darlegung des Finanzprogramms zu gewinnen.

Notwendig sei im Finanzprogramm nach seiner Ansicht:

a)

eine Begünstigung der neuen Kapitalbildung und damit eine Verhinderung der Steuerflucht,

b)

eine Vereinfachung der Steuerverwaltung,

c)

eine Erziehung der Länder und Gemeinden zur Sparsamkeit.

Diese Ziele würden durch das neue Finanzprogramm nach seiner Auffassung nur in mangelhafter Weise erreicht.

Bei einer Reform der Arbeitslosenversicherung sei eine Beitragserhöhung unerläßlich. Es sei zu bedenken, daß es keinen anderen Staat gebe, der im Falle anormaler Arbeitslosigkeit nicht Zuschüsse leiste. Schließlich sei zu berücksichtigen, daß die Reichsanstalt nicht nur die Aufgabe der Arbeitslosenversicherung, sondern auch die Aufgabe der Arbeitsvermittlung habe.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft lehnte eine Verbindung des Finanzprogramms und der Reform der Arbeitslosenversicherung ab. Er erklärte, im übrigen, gegen das Finanzprogramm sachliche Bedenken zu haben. Der Reichsverkehrsminister habe bereits ausgeführt, daß die Länder und Gemeinden zur Sparsamkeit erzogen werden müßten. Gerade das jetzige System gewährleiste nicht diese Erziehung. Einige Steuern müßten den Ländern und Gemeinden ganz überlassen werden, einige dem Reich. Er vermisse im übrigen Mitteilungen über die Hauszinssteuer. Die Senkung der Einkommen- und Lohnsteuer sei richtig. Über die Senkung der Zuckersteuer wolle er sich nicht äußern. Die Kopfsteuer sei unmöglich.

Aus Anlaß der Reform der Arbeitslosenversicherung jetzt eine Krisis herbeizuführen, sei unmöglich. Die Demokratische Partei wolle alles tun, um eine Regierungskrise zu vermeiden. Es müßten jedoch alle Parteien auf dieses Ziel hinarbeiten. Wenn die Deutsche Volkspartei den Gesetzentwürfen zur Reform der Arbeitslosenversicherung nicht zustimme, würden mindestens 12 Abgeordnete der Demokratischen Partei gegen die Entwürfe stimmen. Letzten Endes handele es sich jetzt um die endgültige Entscheidung im Kampf um die Republik9.

9

Über die parlamentarische Krise hatte sich der RK bereits Anfang September gegenüber dem Chefredakteur des „Vorwärts“ Stampfer geäußert, als er ihm zur ALV-Reform geschrieben hatte: „Ich sehe der Entwicklung dieser Frage mit großer Sorge entgegen. Wenn Sie im Vorwärts in diesem Zusammenhang auch mehrfach von der Auflösung des RT gesprochen haben, so wird diese Lösung keine praktische Bedeutung bekommen. Keine bürgerliche Partei, ausgenommen die National-Sozialisten, hätte ein Interesse daran; auch die Deutschnationalen nicht. Zu profitieren hätten wir auch nichts. Angesichts der gespannten Kassenlage des Reichs wären sogar während der Wahlbewegung Gefahrenmomente da, die in ihrer Auswirkung gar nicht ernst genug genommen werden könnten. – Käme eine Krise, so gäbe es also keine Auflösung, sondern eine Regierung der Mitte, die wir mindestens solange stützen müßten, bis die letzten Haager Konferenzergebnisse unter Dach und Fach gekommen wären. Eine sehr vergnügliche Aufgabe. Ich kenne die Verhältnisse in den bürgerlichen Parteien genau und zweifele nicht im geringsten daran, daß diese Regierung der Mitte käme, da die Deutschnationalen noch nicht wieder reif sind zum Eintritt in die Regierung. – Also keine Überstürzung, keine Scharfmacherei. Wenn die Krise kommen soll, dann kommt sie immer noch früh genug“ (2. 9.; SPD: Nachlaß Müller  O VI).

[976] Der Reichsverkehrsminister betonte gleichfalls, daß zahlreiche Abgeordnete des Zentrums gegen die Gesetzentwürfe zur Reform der Arbeitslosenversicherung stimmen würden, falls die Deutsche Volkspartei gegen die Entwürfe stimme.

Der Reichswirtschaftsminister stimmte dem Reichsminister der Finanzen in dem dargelegten Finanzprogramm insoweit zu, als die Ersparnisse aus dem Young-Plan für 1929 voraussichtlich im Nachtragshaushalt für 1929 in vollem Umfange gebraucht würden. Für 1930 würden durch den Young-Plan 704 Millionen RM Ersparnisse eintreten. Nach dem Programm des Reichsministers der Finanzen solle die Wirtschaft jedoch nur um 480 Millionen RM entlastet werden. Nach seiner Auffassung müsse im Jahre 1930 noch eine stärkere Entlastung Platz greifen. Er könne im übrigen nicht verstehen, weshalb vom Jahre 1930 ab den Ländern noch mehr an dem Steueraufkommen vom Reich überlassen werden solle als bisher. Man müsse vielleicht dem Gedanken Stolpers Rechnung tragen, eine reinliche Scheidung der Steuerquellen vorzunehmen10. Es sei ihm im übrigen eine Aufzeichnung darüber erwünscht, was die Senkung der Einkommensteuer bei den typischen Einkommenstufen bedeuten werde11. Er vermisse ein Wort über die Hauszinssteuer und über die Kapitalertragssteuer.

10

Stolper befürwortete eine Steuerteilung, bei der das Reich die Einkommensteuer, Länder und Gemeinden die Verbrauchs- und Realsteuern erhielten; siehe G. Stolper, Ein Finanzplan, Vorschläge zur deutschen Finanzreform, Berlin 1929, dort S. 144 f.

11

In einer Randnotiz vermerkte Wienstein, die Aufzeichnung solle „demnächst“ von Popitz dem RWiM persönlich übergeben werden (R 43 I /1439 , Bl. 172, hier: Bl. 172). Sie wurde in R 43 I nicht ermittelt.

Daß verschiedene Mitglieder des Reichskabinetts eine Verbindung des Finanzprogramms mit der Reform der Arbeitslosenversicherung ablehnten, könne er verstehen. Nach der Regierungsvorlage betrage das Gesamtdefizit bei der Reichsanstalt 279 Millionen RM, die Hälfte dieses Defizits solle durch die Beitragserhöhung gedeckt werden. Durch alle bisherigen Vorschläge sei aber noch nicht gewährleistet, daß die andere Hälfte des Defizits gleichfalls Deckung finde. Er halte den Gedanken für erwägenswert, für die Arbeitslosen, die keine volle Anwartschaft hätten, auf eine Art Fürsorge zurückzukommen. Die Beitragserhöhung stelle eine ungeheuere Belastung der Wirtschaft dar. Er sehe kaum die Möglichkeit, daß die grundsätzlich ablehnende Stellung der Deutschen Volkspartei gegen die Beitragserhöhung sich ändere. Vor allem müsse einmal klar gesagt werden, wie denn im Falle einer Beitragserhöhung um ½% das übrig bleibende Defizit gedeckt werden solle.

Der Reichspostminister führte aus, er habe gleichfalls Bedenken gegen eine Verbindung des Finanzprogramms mit der Reform der Arbeitslosenversicherung.

[977] Im übrigen werde seine Partei das Finanzprogramm nicht mitmachen. Die Bayerische Volkspartei habe stets eine klare Stellung zu der Frage der Biersteuererhöhung und dem § 35 des Finanzausgleichgesetzes eingenommen. Zu den übrigen Punkten des Finanzprogramms wolle er sich noch nicht äußern.

Bei der Reform der Arbeitslosenversicherung sei die Bayerische Volkspartei zur Mitarbeit gern bereit. Vielleicht sei der Vorschlag erwägenswert, nur begrenzte Reichszuschüsse zu gewähren12.

12

Zur Beratung der RT-Fraktion der BVP in München über die ALV-Reform hatte der Vertreter der RReg. am 27. 9. berichtet: „Die endgültige Stellungnahme will die Fraktion […] abhängig machen von der weiteren Gestaltung des Gesetzes. Sie verlangte aber, daß die Reichsanstalt auf eigene Füße gestellt werde und daß gleichzeitig alle Mängel beseitigt werden, die zu einem Mißbrauch der ALV anreizen“ (R 43 I /2255 , Bl. 347, hier: Bl. 347).

Der Reichsminister der Finanzen führte aus, daß weitere Steuersenkungen als die mitgeteilten vom Jahre 1930 ab kaum möglich sein würden. Bei den bereits herausgegebenen Papieren werde er auf die Kapitalertragssteuer nicht verzichten können, aber vielleicht bei den neu herauszugebenden.

Der Reichskanzler führte aus, es müsse zunächst die Frage geprüft werden, ob durch eine Verbindung des Problems der Arbeitslosenversicherung mit dem Finanzprogramm eine taktische Erleichterung erzielt werden könne. Nach seiner Ansicht müsse diese Frage verneint werden. Auch wenn man nur die Fraktionsvorstände von dem Finanzprogramm unterrichte, werde doch etwas in der Öffentlichkeit bekannt werden. Verhandlungen mit den Fraktionen seien nach seiner Ansicht nicht vor Montag, den 30. September, nachmittags oder vor Dienstagfrüh (1. Oktober) möglich. Vorläufig habe er die Regierungsparteien gebeten, dafür zu sorgen, daß sie im Plenum nicht zu scharf gegeneinander sprächen. Neue Lösungsmöglichkeiten für die Reform der Arbeitslosenversicherung könne er zur Zeit nicht sehen. Es müsse dem Reichsminister der Finanzen überlassen bleiben, inwieweit er Spezialisten der Fraktionen über das Finanzprogramm unterrichten wolle.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft regte an, doch zu nächst im Kabinett eine Lösung der Schwierigkeiten zu versuchen.

Der Reichsminister des Innern erklärte, die Anregung des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft sei dann zweckentsprechend, wenn das Reichskabinett bisher einig gewesen wäre. Das sei jedoch nicht der Fall. Nach seiner Ansicht müsse man die Besprechungen mit den Regierungsparteien abwarten.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft bezeichnete eine Einigung im Kabinett und unter den Regierungsparteien dann für möglich, wenn die Volkspartei in der Frage der Beitragserhöhung nachgebe, die Sozialdemokratie in der Frage des Leistungsabbaus in der Richtung des Antrages Riesener.

Demgegenüber blieb der Reichskanzler dabei, daß er z. Z. keinen Weg für eine gemeinsame Basis in der Reform der Arbeitslosenversicherung sehe. Es müßten zunächst die Besprechungen mit den Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien abgewartet werden.

[978] Der Reichsminister des Auswärtigen schloß sich dieser Auffassung des Reichskanzlers an.

Die Besprechung über diesen Punkt wurde sodann geschlossen.

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