2.15 (str1p): Nr. 15 Der Reichsernährungsminister an den Reichskanzler. 22. August 1923

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RTF

Nr. 15
Der Reichsernährungsminister an den Reichskanzler. 22. August 1923

R 43 I /2436 , Bl. 72–751

1

Ein Umdruck dieses Schreibens, der wahrscheinlich für die RM bestimmt war, befindet sich in R 43 I /2436 , Bl. 79–81. Die erste Seite dieses Umdrucks enthält den hs. Vermerk Kempners: „Auf Reise nach München [25./26. 8.] als Material mitgenommen.“ – Das Schreiben ist abgedruckt bei P. Beusch, Währungszerfall und Währungsstabilisierung, S. 113 ff.

[Betrifft: Schaffung eines wertbeständigen Zahlungsmittels.]2

2

Zu einem von Grävell entworfenen Schreiben an den RFM mit der Bitte, die vom REM aufgeworfenen Fragen zu prüfen, bemerkte Kempner am 25.8.23 am Rande: „Ich halte in diesem Fall Schreiben an FinMin. nicht für nötig, da die Fragen jetzt Gegenstand ernstester Erörterung im FinMin. sind“ (R 43 I /2436 , Bl. 76–77).

Ich wiederhole meinen seit längerer Zeit schon im alten Kabinett und sofort dringend beim neuen Kabinett gestellten Antrag auf sofortige Schaffung eines wertbeständigen Zahlungsmittels3. Die Angelegenheit verträgt nach meiner Überzeugung keinerlei Aufschub mehr. Ich will das des Näheren an der Frage der Hereinschaffung und Bezahlung der neuen Getreideernte erläutern:

3

S. hierzu u. a. Luthers Antragspunkt 4 in Dok. Nr. 3, P. 2; vgl. H. Luther, Politiker ohne Partei, S. 111, 113.

Was mit den vorhandenen Mitteln angesichts der ungeheuren täglichen Schwankungen des Markstandes möglich ist, um das Getreide in Bewegung zu bringen, ist geschehen. Den Landwirten ist ein Steuerdruck auferlegt4, der sie zum Verkauf nötigt, und auf der anderen Seite hat sich die Reichsgetreidestelle bereit erklärt, jede ihr angediente Roggenmenge neuer Ernte aufzunehmen5, wobei der Preis unter Anlehnung an die Notierung der Berliner Produktenbörse so auszuhandeln ist, daß der Weltmarktpreis nicht überschritten wird. Diese Maßnahmen werden sicher ein Teilerfolg sein, obwohl ein solcher bisher nicht in Erscheinung getreten ist. Die Brotversorgung kann aber nur sichergestellt werden, wenn der Landwirt nicht nur unter Steuerdruck, sondern unter natürlichem wirtschaftlichen Antrieb verkauft und wenn die Händler, Mühlen und Genossenschaften zu kaufen bereit und in der Lage sind. Beide Voraussetzungen sind solange nicht zu erfüllen, als das Getreidegeschäft wegen der ungeheuren Markschwankungen den Charakter einer wilden Spekulation[61] trägt. Auch das Hingeben von Krediten an den Handel und die Genossenschaften stellt keine Abhilfe dar. Denn nicht wertbeständige Kredite schließen bei den jetzigen Verhältnissen die große Gefahr ein, daß das Getreide aus spekulativen Gründen in der Zwischenhand hängen bleibt. Auf wertbeständige Kredite aber kann die Zwischenhand solange nicht eingehen, wie nicht auch der Verbraucher wertbeständig zahlt. Die Geschäfte, die trotz aller dieser Schwierigkeiten schließlich zustande kommen, vielfach wohl auf Grund besonderer geschäftlicher Beziehungen außerhalb der Börse, werden bei solcher Gestaltung des Marktes naturgemäß mit hohen Risikozuschlägen versehen, die dem Verbraucher das Brot verteuern.

4

Vgl. hierzu Dok. Nr. 22.

5

S. a. P. 3 der Dok. Nr. 13; vgl. ferner die Ausführungen des RFM vor den Parteiführern in Dok. Nr. 14.

Der einfachste Ausweg aus allen diesen Schwierigkeiten, nämlich die Einfuhr von ausländischem Getreide, durch das die Preisentwicklung gehemmt und die Verknappung des Marktes behoben werden könnte, ist durch die ungeheure Schwierigkeit in der Beschaffung von Devisen behindert. Dabei sei vorsorglich bemerkt, daß die Brotversorgung auf keinen Fall, auch nicht bei Einführung einer wertbeständigen Währung, ja nicht einmal bei einer zwangsweisen Erfassung des Getreides, ohne nennenswerte Einfuhren sichergestellt werden kann. Das beruht einmal darauf, daß selbst bei günstigem Ernteertrag unsere Getreidemenge nicht ausreichen kann, um gleichzeitig die Brotversorgung der Bevölkerung und das selbst für einen herabgesetzten Viehstand erforderliche Futtergetreide zu sichern. Zum zweiten aber kann das besetzte Gebiet überhaupt nur auf dem Wasserweg des Rheins mit Brotgetreide versehen werden, also nur mit ausländischem Getreide6. Allein der Devisenbedarf für diesen letzteren Zweck ist auf monatlich rund 10 Millionen Goldmark zu schätzen.

6

Zur Ernährungslage im besetzten Gebiet s. Dok. Nr. 3, P. 2; Dok. Nr. 27.

Im Hinblick auf all diese Schwierigkeiten ist von manchen Seiten die Frage angeregt worden, ob nicht irgend welche wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen zur Erfassung des Getreides sachdienlich sind. In erster Linie ist hier ein Getreide-Handelsmonopol angeregt worden, wobei der leitende Gedanke war, die Aufspeicherung des Getreides in der Zwischenhand zu verhindern. Die Errichtung eines solchen Monopols in kurzer Frist ist unmöglich; die Zahl der Angestellten, die den Aufkauf zu besorgen hätten, würde 10 000 und mehr betragen; bei alldem wäre eine Gewähr dafür, daß der Landwirt verkauft, nicht gegeben. Weiter ist der Gedanke eines Getreide-Handelsmonopols früher immer nur von Erzeugerseite als Mittel zur Preisstützung betrieben, nicht aber von Verbraucherseite als Mittel der Versorgungssicherung betrachtet worden. Geht man vom Gedanken der Versorgungssicherung aus, so führt das, sobald man an Zwangsmaßnahmen denkt, logisch zur vollen Zwangswirtschaft, die als solche auch dann bestehen würde, wenn man sie etwa in die mehr private Form eines Getreidesyndikats kleidete. Die sehr schweren politischen Bedenken gegen eine zwangsmäßige Erfassung des Getreides liegen auf der Hand. Die Sachlage nach dieser Richtung ist meines Erachtens so schwierig, daß ohne gleichzeitige Einführung eines wertbeständigen Zahlungsmittels der Zwang, von allen anderen Folgen abgesehen, voraussichtlich nicht einmal zur Erfassung einer hinreichenden Getreidemenge führen würde, wie man das aber auch bewerten mag,[62] entscheidend ist meines Erachtens der Umstand, daß, wenn ein wertbeständiges Zahlungsmittel zur Verfügung steht, der Zwang überhaupt überflüssig ist.

Da demnach von einem Zwange abzusehen ist, andererseits aber die Brotversorgung angesichts der jetzigen Verhältnisse vom 15. Oktober an nicht in dem bisher beabsichtigten Umfang der freien Wirtschaft überlassen bleiben kann7, so werde ich demnächst dem Kabinett eine Vorlage für eine neue gesetzliche Regelung machen, deren Hauptinhalt folgender ist:

7

Die amtliche Regelung der Brotversorgung wurde durch VO vom 28.8.23 bis zum 15.10.23 geführt (RGBl. I, S. 843 ).

Die Reichsregierung hatte seinerseits dem Reichstag für die Brotversorgung 1923 eine Vorlage gemacht, wonach die Markenbrotversorgung ganz oder teilweise „bis auf weiteres“ fortgesetzt werden, und die nötige Getreidemenge als sogenannte Reserve durch Lieferungsverträge und Einfuhr sich gestellt werden sollte8. Der Reichstag hat die Reserve auf 1 Millionen Tonnen begrenzt, die Lieferungsverträge beseitigt und das Ende der Markenbrotversorgung auf spätestens den 15. Oktober festgelegt. Auf den ursprünglichen Regierungsplan zurückzukommen, ist schon deshalb unmöglich, weil nicht mehr mit entsprechend großen Einfuhrmengen gerechnet werden kann. Ich werde deshalb nur vorschlagen, die Reserve über den Betrag von 1 Million Tonnen hinaus zu erhöhen und den Bedarfskommunalverbänden ein Recht auf Belieferung daraus in der Weise zu geben, daß jeder Kommunalverband, der nicht nach den Verhältnissen der letzten Jahre das erforderliche Getreide aus sich selbst aufbringen kann, bei der Reichsgetreidestelle zum Tagespreis nach einem Maßstab von 150 gr. Mehl täglich auf den Kopf der versorgungsberechtigten Bevölkerung Getreide anfordern kann. Nur im besetzten Gebiet, das in Wirklichkeit, wenn Versorgungsstörungen ausgeschlossen sein sollen, allein durch die Reichsgetreidestelle versorgt werden kann, soll es bei dem bisherigen Satz von 200 gr. bleiben. Ob der einzelne Kommunalverband auf dieser Grundlage eine Markenbrotverteilung aufrecht erhält, soll ihm völlig überlassen sein. Die Regelung möchte ich jedenfalls bis zum 15. April gesichert haben9. Es steht zu hoffen, daß bei dieser Art der Regelung die Kommunalverbände, vielfach wohl auch auf Antrieb des ortsansässigen Getreidehandels, die Reichsgetreidestelle nicht in Anspruch nehmen, sondern dafür sorgen werden, daß das Getreide im freien Markte aufkommt. Aber für alle Fälle ist die erforderliche Sicherheit vorhanden. Die Begrenzung bis zum 15. April gibt die Möglichkeit, daß je nach der Entwicklung der Dinge entweder die Reserve der Reichsgetreidestelle noch verstärkt wird, oder, wenn ihr weniger Getreide abgefordert wird, die allgemeine Reserve für das Sommerhalbjahr dann zur Verfügung steht. Die Reichsgetreidestelle wird, falls es nicht doch noch gelingt, Devisen für Auslandsgetreide zu erhalten, versuchen müssen, die somit erhöhte Reserve auf dem freien Inlandsmarkt zu beschaffen, wobei ihr zweifellos der Umstand zu Hilfe kommen wird, daß sie jederzeit in der Lage ist, das ihr angediente Getreide sofort bar zu bezahlen. Auch bereits vorbereitete Verhandlungen mit Landwirtschaft, Genossenschaften[63] und Handel dürften den Weg erleichtern. Die Preisfrage aber bleibt selbstverständlich bedenklich, solange nicht Devisen in hinreichender Menge für den Einkauf ausländischen Getreides zur Verfügung stehen.

8

S. hierzu Anm. 64 zu Dok. Nr. 13.

9

S. hierzu die Äußerungen des REM zur Versorgungslage im Ruhrgebiet in Dok. Nr. 18.

Auf dem vorgeschilderten Wege kann das nötige Brot für die Bevölkerung nur gesichert werden, wenn neben der Belieferung durch die Reichsgetreidestelle ein flüssiges privates Getreidegeschäft sich entwickelt. Dafür ist wieder Voraussetzung das Vorhandensein eines wertbeständigen Zahlungsmittels.

Sobald unsere Volkswirtschaft auf ein wertbeständiges Zahlungsmittel umgestellt ist, wird die Beschaffung der Devisen auch keine Schwierigkeiten mehr machen. Dies wird namentlich dann richtig sein, wenn gleichzeitig Goldkonten eingerichtet werden. Diese Goldkonten werden die Devisen hervorlocken, deren Zurückhaltung ja auch für die Privatunternehmung und den Privatmann mangels Zinsertrages ein unwirtschaftliches Verfahren darstellt, das obendrein eine unbegründete Bereicherung des Auslandes enthält10.

10

Zur Frage der Goldkonten s. a. Dok. Nr. 16 und 24.

Man kann die Getreideversorgungsfrage also drehen und wenden wie man will: Es bleibt immer das gleiche Ergebnis, daß ohne ein wertbeständiges Zahlungsmittel die Brotversorgung der Bevölkerung nicht zu sichern ist. Gleiches wird für alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse gelten, die nach ihrer Art und nach der Art des landwirtschaftlichen Betriebes zurückgehalten werden können.

Eines Einzelvorschlages, wie das wertbeständige Zahlungsmittel zu schaffen ist, enthalte ich mich, möchte aber auf den in paragraphierter Form vorliegenden Entwurf hinweisen, den Herr Dr. Helfferich, MdR, dem Herrn Reichsfinanzminister zur Verfügung gestellt hat11. Die Goldanleihe kann aus den bekannten Gründen einen Ersatz für ein wertbeständiges Zahlungsmittel nicht bieten. Den Herrn Reichsfinanzminister bitte ich gleichzeitig unter Übersendung einer Abschrift dieses Schreibens sofort in kommissarische Verhandlungen mit meinem Ministerium wegen Schaffung einer wertbeständigen Währung einzutreten12. Ich bitte den Herrn Reichskanzler, dieses, mein Ersuchen beim Herrn Reichsfinanzminister auf das dringendste zu unterstützen13.

11

S. Anm. 22 zu Dok. Nr. 9. Auf dem Vermerk Grävells für den RK vermerkte Kempner am Rande: „Ich habe Abschrift für Rkei erbeten“ (R 43 I /2436 , Bl. 78). Ein Exemplar des Helfferichschen Plans zur Währungsreform konnte in R 43 I nicht ermittelt werden.

12

RVM Oeser bemerkte in einem Schreiben an den REM, auch er halte die Schaffung einer wertbeständigen Währung für dringend erforderlich. Da die Frage alle Ressorts berühre, solle eine Kabinettssitzung einberufen werden, die von Vertretern der Ressorts vorzubereiten sei (28.8.23; R 43 I /2436 , Bl. 82).

13

Unter seinem Vermerk für den RK notierte Grävell am 28.8.23: „Unter Bezugnahme auf die gestrige Besprechung mit den Herren Stinnes, Vögler, Klöckner, Minoux etc. schlage ich vor, daß der Finanzminister nunmehr möglichst beschleunigt einen Sachverständigenausschuß einberuft u. die Tatsache dieser Einberufung veröffentlicht wird“ (R 43 I /2436 , Bl. 78). Es dürfte sich hier um die Besprechung handeln, auf die der RK in der KabS vom 30.8.23, P. 1 (Dok. Nr. 33) Bezug nahm. Im Terminkalender sind die Namen Minoux, Stinnes, Vögler, Peter Klöckner, Goldschmidt, v. Raumer für den 28. [!] 8. 23, 20.30 Uhr notiert (BA: NL von Stockhausen  15).

Dr. Luther

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