2.100.2 (vpa1p): 2. Politische Lage.

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Das Kabinett von Papen Band 1Das Kabinett von Papen Bild 183-R1230-505Wahllokal in Berlin Bild 102-03497AGöring, Esser und Rauch B 145 Bild-P046294Ausnahmezustand in Berlin während des „Preußenschlages“.Bild 102-13679

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2. Politische Lage3.

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Die Niederschrift zu diesem Tagesordnungspunkt auch abgedr. in Vogelsang, Zur Politik Schleichers gegenüber der NSDAP 1932, in: VfZG 6 (1958), S. 87, 93–98; Ursachen und Folgen, Bd. VIII, Dok. Nr. 1879; Huber, Dokumente, Bd. 3, Dok. Nr. 454. – Über diesen Tagesordnungspunkt wurde von StS Meissner eine gesonderte Niederschrift angefertigt, die – unter Voranstellung einer knappen Schilderung des Verlaufs der Besprechung des RK mit Hindenburg am Vormittag des 10. 8. – die Ausführungen der Kabinettsmitglieder kurz zusammenfaßt, wobei sie in einigen Punkten von dem Protokoll der Reichskanzlei geringfügig abweicht. Die Niederschrift Meissners ist gedr. in Hubatsch, Hindenburg und der Staat, Dok. Nr. 87.

Der Reichskanzler teilte mit, daß er dem Herrn Reichspräsidenten am Vormittage über die politische Lage Bericht erstattet habe4. Auf die Frage des[379] Herrn Reichspräsidenten, wie der Reichskanzler die gegenwärtige Lage auffasse, habe er in dem Sinne geantwortet, daß die Reichsregierung von dem Reichspräsidenten mit dem bestimmten Auftrag eingesetzt worden sei, eine Synthese der nationalen Elemente zu schaffen. Zu diesem Zweck habe die Reichsregierung Neuwahlen zum Reichstag veranlaßt. Der Ausgang dieser Wahl habe das Vorgehen der Reichsregierung gerechtfertigt. Die Stimmenzahl der Nationalsozialisten habe eine gewisse Höhe erreicht. Im Wahlkampf seien den Nationalsozialisten alle Chancen zugestanden worden, sich weiter zu entwickeln. Ihr wahres Kräfteverhältnis stehe nunmehr fest. Jetzt handele es sich darum, das Fazit aus der Neuwahl zu ziehen und die Rechtsbewegung an den Staat heranzuziehen. Es sei die Frage zu lösen, wie diese Heranziehung zu gestalten sei. Bei den Nationalsozialisten sei eine gewisse Enttäuschung unverkennbar, daß sie trotz stärkster Propaganda nur 37½% der Wählerstimmen auf sich vereinigt hätten. Die Bewegung dränge nunmehr dahin, durch gewaltsame Vorstöße das zahlenmäßige Manko auszugleichen. Die Terrorakte der letzten Zeit5 seien ein Teil dieses Planes. Die nationalsozialistische Presse schreibe ja offen unter Hinweis auf die schweren Ausschreitungen, daß nur Hitler die öffentliche Ruhe wiederherstellen könne und daß man ihn daher an die Staatsführung heranlassen müsse. Dieselbe Presse schreibe auch, daß die Nationalsozialisten nicht daran dächten, in ein farbloses Kabinett einzutreten, daß sie vielmehr die Staatsführung restlos für sich beanspruchen6. In der Tat scheine es nötig, die Bewegung in die verantwortliche Staatsführung mit hereinzunehmen. Man müsse die Führer festlegen und dürfe die Bewegung nicht im Rücken haben; sonst bedeute sie für die Reichsregierung ein ständiges Hemmnis. Die Frage sei also, ob man einen Mittelweg finden könne zwischen der Beibehaltung eines Präsidialkabinetts und den Wünschen der Nationalsozialisten auf Übernahme der Staatsführung7. Über diese Frage werde in den nächsten Tagen mit den maßgebenden[380] Stellen verhandelt werden müssen. Zunächst habe er für den Abend Geheimrat Hugenberg zu einer Besprechung gebeten; für den folgenden Tag sei eine Aussprache mit Vertretern des Zentrums, dem Reichstagsabgeordneten Joos und dem Württembergischen Staatspräsidenten Bolz vorgesehen. Er wisse, daß das Zentrum wahrscheinlich bereit sei, mit den Nationalsozialisten eine Koalition einzugehen. Das Zentrum würde sich eventuell auch mit einer Berufung Hitlers zum Reichskanzler abfinden. Es werde sogar möglicherweise nichts dagegen haben, wenn Hitler in Personal-Union den Posten des Preußischen Ministerpräsidenten mitverwalte. Volle Klarheit werde aber wohl erst die morgige Aussprache ergeben8. Ferner müsse auch Hitler offiziell gehört werden.

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Hierzu vgl. die Niederschrift Meissners vom 10. 8. (s. oben Anm. 3). Auf diese Besprechung Papens mit Hindenburg bezogen sich wahrscheinlich auch die Mitteilungen des zum Mosse-Verlag gehörenden Redakteurs Reiner gegenüber Schäffer am 10. 8.: StS Planck habe ihm, Reiner, „erzählt“, der RK habe den RPräs. über das Ergebnis einer Unterredung Schleichers mit Hitler und Strasser (vgl. unten Anm. 7) unterrichtet, woraufhin Hindenburg „sehr ‚ägriert‘ über die Aussichten gewesen sei. Er hat geäußert, daß er den böhmischen Gefreiten zum Reichskanzler machen solle, sei doch ein etwas starkes Stück. Wenn es irgend geht, will er das vermeiden und vielleicht auch selbst noch einmal mit Hitler reden, daß er diese Hoffnung aufgeben solle. Im übrigen soll Papen mit den Parteien verhandeln. Im Laufe der Unterredung hat sich aber der Reichspräsident doch nicht so gänzlich abgeneigt gezeigt, Hitler zu berufen. Es hänge nun alles vom Reichspräsidenten ab. Wenn der Reichspräsident Hitler durchaus nicht will, dann muß Papen vor den Reichstag gehen. Wahrscheinlich würde aber Papen nach seinen Verhandlungen mit den Parteien dem Reichspräsidenten Hitler selbst als Kanzler vorschlagen.“ (Schäffer-Tagebuch, IfZ ED 93, Bd. 22 a, Eintragung vom 10.8.32).

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Vgl. Anm. 13 zu Dok. Nr. 95.

6

Die Reichsleitung der NSDAP hatte schon am 1. 8. unter Hinweis auf das Wahlergebnis (NSDAP = 13,77 Mio Stimmen, 230 RT-Mandate) erklärt: „Damit ist die Stellung der NSDAP gegenüber den übrigen Parteien so überragend und im Willen des Volkes so stark verwurzelt, daß ihr das Recht auf die Staatsführung im Reiche nicht mehr streitig gemacht werden kann.“ („VB“ vom 1./2. 8.). – Dazu auch Rosenberg in einem „VB“-Leitartikel vom 5. 8. u. a.: „Dabei ist doch klar, daß wir gar nicht daran denken, irgendwo ‚teilzunehmen‘, sondern wir werden uns frei erhalten wie bisher oder die unbestrittene Führung übernehmen und es anderen überlassen, ob sie diese anerkennen wollen oder nicht. Wenn man ganz theoretisch eine jetzt vielberedete Koalition mit dem Zentrum behandeln wollte, so steht zunächst fest, daß die NSDAP dreimal stärker ist als dieses. Das würde bedeuten, daß wir zumindest bei 4 Ministern 3 zu stellen hätten unter eindeutiger Führung unsererseits: also alle politisch entscheidenden Ministerien, bei entsprechender Regelung in Preußen.“

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Über eine vorangegangene diesbez. Besprechung Schleichers mit Hitler und Strasser hatte Planck dem Redakteur Reiner (gemäß Schäffer-Tagebuch, IfZ ED 93, Bd. 22 a, Eintragung vom 10. 8. über Mitteilung Reiners) folgendes „erzählt“: Hitler habe erklärt, „seine Partei verlange, daß er nunmehr die Führung der Reichsgeschäfte übernähme. Er sei davon nicht sehr begeistert, aber er könne sich dem nicht entziehen. Wenn der Präsident ihn um seine Meinung als Parteiführer befrage, dann werde er den Antrag stellen, daß der Präsident ihn mit der Bildung des Kabinetts betraue. Er werde im übrigen keine sehr wesentlichen Änderungen treffen. Strasser soll Reichsminister des Innern werden, Papen das Äußere übernehmen. Die anderen Minister und die Staatssekretäre, auch der Staatssekretär in der Reichskanzlei, sollten im Amte bleiben. Darauf hat Schleicher gefragt, wie sich denn Hitler das weitere Regieren vorstelle. Dieser hat erwidert, er rechne damit, mit seinem Kabinett im Reichstag durchzukommen. Man solle nicht glauben, daß er irgendeinen Bruch der Verfassung oder große Verfassungsänderungen vorhabe. Strasser habe seinerseits bemerkt, daß Hitler auch Ministerpräsident in Preußen werden müsse und daß er, Strasser, auch das Preußische Innenministerium übernehmen werde. Er, Strasser, werde die SA auflösen und nehme an, das ohne Schwierigkeiten zu können. Schleicher hat sich selbst dahin geäußert, daß man Hitler als Reichskanzler nehmen müsse.“ – Über Tag, Ort und Zeit dieser Besprechung Schleichers mit Hitler konnten Unterlagen nicht ermittelt werden. Nach der folgenden Tagebuchnotiz Goebbels’ dürfte sie am 5. 8. stattgefunden haben: „5. August 1932 […]. Gestern: […] Noch kurz mit Hitler beredet. Er fährt zu Schleicher, um unsere Forderungen anzumelden. Frick Innen, Göring Luftfahrt, Strasser Arbeit, Goebbels Volkserziehung, er selbst Kanzler. Das heißt also, die ganze Macht oder nichts. So ist’s recht, nur nicht kleinlich. Er glaubt, daß die Barone nachgeben. Und der alte Herr? […] Heute ausgeschlafen. Draußen Regen. Hoffentlich hat Hitler heute eine glückliche Hand. Ich warte mit Spannung. Der Terror steigt. Erlösung!!!“ (NL Goebbels  – Tagebuch –, Nr. 6).

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Über diese Besprechungen aktenmäßige Unterlagen nicht ermittelt. Bei der Aussprache Papens mit den genannten Zentrumspolitikern am 11. 8. wurden von diesen, wie Joos der Zentrumsfraktion am 29. 8. berichtete, vier Punkte „besonders herausgestellt“, nämlich: „1. Die NSDAP muß offen, klar und sichtbar in die Verantwortung einbezogen werden; 2. das Zentrum wünsche, daß die Reichsregierung sich auf eine Mehrheit des Parlaments stütze und daß sie bereit sei, mit dem Parlament zusammenzuarbeiten; 3. das Zentrum halte ein Präsidialkabinett für unmöglich; 4. für das Zentrum käme nur der verfassungsmäßige Weg in Frage. Die Notverordnung, die die Absetzung der preußischen Regierung vollzog, werde von ihm abgelehnt.“ (Morsey, Zentrumsprotokolle, Nr. 707).

Die wesentlichsten Aufgaben des Reichskabinetts für die nächste Zukunft erblicke er in folgendem:

1. Regelung des verfassungsrechtlichen Verhältnisses Reich – Preußen,

2. Wahlrechtsreform und Schaffung einer ersten Kammer,

3. Verwaltungsreform in Reich und in Preußen.

Die Inangriffnahme des ersten Punktes werde sicherlich große Schwierigkeiten bieten, wenn etwa Hitler Reichskanzler werden sollte. Die süddeutschen Länder würden höchstwahrscheinlich nicht bereit sein, diesen Fragenkomplex unter nationalsozialistischer Führung in Angriff zu nehmen.

Der Reichswehrminister führte aus, er sehe für die zukünftige Gestaltung der Dinge zwei Möglichkeiten:

1. entweder stelle sich das gegenwärtige Kabinett auf Kampf ein, indem es in unveränderter Zusammensetzung auf dem Posten bleibe mit der Hoffnung, durch sachliche Leistungen auf lange Sicht doch die Mehrheit hinter sich zu bringen, der es auf die Dauer bedürfe, oder

2. es verhandele mit den Nationalsozialisten über die Hinzuziehung von Mitgliedern dieser Partei in die Reichsregierung in irgend einer From.

[381] Die Entscheidung zu Gunsten der ersten Alternative bringe das Reichskabinett in eine schwierige Lage beim Zusammentritt des Reichstags. Wahrscheinlich würden alle Parteien sich gegen die Regierung aussprechen mit alleiniger Ausnahme der Deutschnationalen. Als Konsequenz müsse man sodann feststellen, daß es auf absehbare Zeit keine Möglichkeit für eine Regierungsmehrheit gebe, d. h., daß die im Amt befindliche Regierung die Geschäfte weiterführen müsse. Für diesen Fall wolle er ganz besonders betonen, daß eine Gefahr, daß die Machtmittel des Staates nicht voll hinter der Regierung stünden, nicht mehr bestehe. Die Wehrmacht- und die Polizeikräfte würden restlos zu Gunsten der Regierungsgewalt funktionieren, weil man hier nicht mehr das Empfinden habe, daß eine nationale Bewegung unterdrückt werde. Vielmehr sei man überzeugt, daß jeder politischen Richtung in Deutschland eine faire Chance, sich durchzusetzen, gegeben worden sei. Die Wehrmacht insbesondere werde bereit sein, notfalls gegen jeden vorzugehen, der sich der Regierungsautorität widersetze. Aber auch diese Lösung berge große Schwierigkeiten in sich. Beim Zentrum sei eine starke Neigung vorhanden, über das gegenwärtige Kabinett hinweg mit den Nationalsozialisten wegen einer Mehrheitsbildung zu verhandeln. Einstweilen sei das Haupthindernis für eine erfolgreiche Verhandlung Hitler selbst, der ein Verhandeln mit dem Zentrum ablehne. Sollte aber eine Einigung zwischen dem Zentrum und den Nationalsozialisten und damit eine parlamentarische Mehrheit im Reichstag zustande kommen, werde dies zu einer Präsidentenkrise führen, denn der Reichspräsident sei nicht gewillt, sich von einer derartigen Koalition ein Kabinett vorschreiben zu lassen.

Die andere Möglichkeit, mit der das Kabinett zu rechnen habe, sei die Einbeziehung der Nationalsozialisten in die jetzige Reichsregierung. Gewiß würde es die einfachste Lösung bedeuten, wenn man einige Nationalsozialisten in das Kabinett aufnehmen könne. Auf diesem Wege werde man aber wahrscheinlich nicht sehr weit kommen, da man unbedingt Wert darauf legen müsse, Hitler selbst zur Verantwortung heranzuziehen. Dieser aber werde im Interesse seiner Bewegung entscheidendes Gewicht darauf legen müssen, den obersten Posten zu besetzen9.

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Vgl. oben Anm. 7.

Zunächst müsse man sehen, wie weit man mit den in Aussicht genommenen Verhandlungen komme. Alsdann müsse sich das Reichskabinett entscheiden, welcher Weg gegangen werden müsse.

Der Reichsminister des Innern erklärte, die Reichsregierung müsse damit rechnen, daß in den nächsten Monaten außergewöhnliche Schwierigkeiten zu überwinden seien. Zu den Nationalsozialisten zähle nur ein starkes Drittel der Wähler. Zudem komme es auf die Zahl der Wähler allein nicht an, da sich unter diesen sehr viele Mitläufer befänden. Man dürfe die in der Wahlziffer zum Ausdruck kommende Stärke nicht überschätzen. Die in der SPD organisierte Arbeiterschaft, zusammen mit den Kommunisten, sei kaum weniger stark. Zwischen diesen beiden Säulen stehe das Zentrum als geschlossene Macht. Wenn in Deutschland eine von den Nationalsozialisten geführte Regierung ans Ruder kommen würde, werde dies einen erbitterten Widerstand auf der Linken auslösen.[382] Die Kommunisten würden sich vollständig auf Organisierung einer antifaschistischen Front verlegen. Ein erbitterter Kampf mit Terrorakten von noch nicht dagewesener Stärke würde die Folge sein. Beruhigend sei allerdings die Versicherung des Reichswehrministers, daß die Wehrmacht nicht einseitig den Nationalsozialisten zur Verfügung stehen werde. Andererseits aber würden den Nationalsozialisten, wenn sie die Regierungsgewalt in Händen hätten, die großen staatlichen Machtmittel zur Verfügung stehen. Man werde es wahrscheinlich erleben, daß für die bisherige Unterdrückung der Nationalsozialisten einseitig Rache genommen werde. Denn, daß eine Regierung über den Parteien stehen müsse, würden die dann verantwortlichen Nationalsozialisten noch nicht ganz begriffen haben.

Ferner werde sich unter den politisch unruhigen Verhältnissen die deutsche Wirtschaftslage auch erheblich verschlechtern. Schließlich glaube er auch nicht, daß ein nationalsozialistisches Kabinett die notwendige Reform des Verhältnisses des Reichs zu Preußen durchführen werde. Deshalb sei er grundsätzlich der Meinung, daß die jetzige Reichsregierung auf ihrem Posten ausharren müsse. Fraglich sei nur, ob die Reichsregierung diesen Entschluß durchhalten könne, d. h. ob es möglich sei, die Nationalsozialisten mit zur Verantwortung heranzuziehen, ohne den jetzigen Charakter der Regierung in das Gegenteil zu verkehren. Der Charakter des Kabinetts werde nach seiner Meinung aufgehoben, wenn es mit Nationalsozialisten durchsetzt werde. Man komme dadurch zu der Parlamentsherrschaft mit allen ihren Fehlern zurück. Wenn es dazu kommen sollte, daß die Nationalsozialisten sich mit dem Zentrum einigten, werde eine Krise in absehbarer Zeit unausbleiblich folgen, denn er halte es für ausgeschlossen, daß das Zentrum auf lange Sicht mit den Nationalsozialisten auskommen könne. Wenn man es aber ablehne, die Nationalsozialisten in die Reichsregierung hereinzunehmen, werde das jetzige Kabinett einen Kampf auf Leben und Tod zu führen haben. Letzten Endes bedeute dies eine Revolution von oben. Das Kabinett werde durchzuhalten haben, bis sich die Leistung durchgesetzt habe. Es gebe dann nur die Möglichkeit, den Reichstag erneut aufzulösen und Neuwahlen einstweilen zu vertagen. Neuwahlen dürften nur stattfinden auf Grund eines neuen zu oktroyierenden Wahlgesetzes. Die Regierung müsse so handeln, wie es das Gewissen ihr vorschlage und wie es für das Volk das beste sei. Zweifellos komme man mit der Verfassung in Konflikt, aber das zu vertreten, sei in letzter Linie Sache des Herrn Reichspräsidenten. Zusammenfassend meint er, daß man zunächst den Weg der Verhandlung versuchen müsse. Dabei müsse ein schroff ablehnender Standpunkt vermieden werden. In weiten Kreisen herrsche die Auffassung vor, daß die Beibehaltung des jetzigen Kabinetts die erträglichere Lösung sei gegenüber der Alternative, den Nationalsozialisten die volle Herrschaft zu überlassen. Wenn die Verhandlungen nicht zu einem befriedigenden Ergebnis führen sollten, müsse man an den Herrn Reichspräsidenten herantreten mit der Frage, ob er bereit sei, die politischen Verhältnisse mit dem gegenwärtigen Kabinett zu meistern.

Der Reichsminister des Auswärtigen schloß sich den Ausführungen des Reichsministers des Innern vollinhaltlich an. Er wies darauf hin, daß die nationalsozialistische Bewegung in Süddeutschland bei weitem nicht den Rückhalt[383] habe wie in Norddeutschland. Vom außenpolitischen Standpunkt aus betrachtet, werde die Herrschaft der Nationalsozialisten den deutschen Ruin bedeuten. Gewiß werde das Ausland sich mit den gegebenen Verhältnissen abfinden und mit den Nationalsozialisten verhandeln. Mit dem politischen Kredit Deutschlands sei es dann aber letzten Endes aus. Seine Meinung gehe daher dahin, daß das Kabinett den Kampf aufnehmen und auf dem Posten verbleiben müsse.

Der Reichsarbeitsminister erklärte, daß er nur als Fachminister zur Sache sprechen könne. Speziell in Süddeutschland werde man jedes kommende Kabinett in erster Linie danach beurteilen, ob es in der Lage sei, einen Ausgangspunkt für die wirtschaftliche Überwindung der Lage zu schaffen. Nach seiner Meinung könne das jetzige Kabinett den nötigen Kampf dann wagen, wenn es eine Möglichkeit gäbe, der Wirtschaft einen kräftigen Antrieb zu verschaffen. Man müsse daher zunächst einmal überlegen, ob dies möglich sei. In Süddeutschland sei die Stimmung für das gegenwärtige Kabinett gar nicht mal so schlecht. Man werde dort die jetzige Reichsregierung stützen, wenn man sehe, daß die Regierung der Wirtschaft weiterhelfen könne. Auf den wirtschaftlichen Fortschritt komme nach seiner Meinung alles an.

Der Reichswirtschaftsminister erklärte ebenfalls, sich nur als Fachminister äußern zu können. In Amerika sei im gegenwärtigen Augenblick eine Haussebewegung an der Börse erkennbar. Nach seiner Meinung habe diese Bewegung nicht viel zu bedeuten; sie werde nicht von langer Dauer sein. Mit einer wirklichen wirtschaftlichen Aufwärtsbewegung werde man in Amerika erst nach den Wahlen, also im nächsten Frühjahr rechnen können10. Ob es Deutschland gelingen werde, sich alsdann dieser Aufwärtsbewegung anzuschließen und aus ihr Nutzen zu ziehen, hänge ausschlaggebend davon ab, daß in Deutschland die Verhältnisse ruhig bleiben. Trete in Deutschland keine Beruhigung der Verhältnisse ein, so helfe uns ein wirtschaftlicher Aufstieg in der übrigen Welt nichts. Wenn aber die Verhältnisse in Deutschland geordnet blieben, sei es durchaus möglich, daß Deutschland aus dem wirtschaftlichen Aufstieg in der Welt Nutzen ziehen könne. Für ihn komme es also darauf an, die Formel zu finden, die geeignet ist, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, so daß man auf einen wirtschaftlichen Aufstieg im nächsten Frühjahr hoffen dürfe. Es komme alles darauf an, zu vermeiden, daß die Lage in Deutschland im Winter politisch und wirtschaftlich verschärft werde. Insbesondere dürfe es nicht zu einer Präsidentenkrise kommen. Man dürfe auch nicht der nationalsozialistischen Bewegung freie Hand lassen, sich fortzuentwickeln. Den Nationalsozialisten die alleinige Führung zu überlassen, sehe auch er als gefährlich an. Man müsse also Zeit gewinnen und nach einer Zwischenlösung suchen.

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Die amerik. Präsidentschaftswahlen fanden im November 1932 statt, der neugewählte Präs. Roosevelt trat sein Amt am 4.3.33 an.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft meinte, jede Regierung, sowohl das gegenwärtige Kabinett wie auch eine nationalsozialistische Regierung, könne wirtschaftlich gut und schlecht regieren. Worauf es in der Hauptsache ankomme, sei Stabilität der Verhältnisse. Er sehe zur Zeit folgende Fragen, über die man sich klar werden müsse: Wie wird sich das Verhältnis[384] des Reichs zu Preußen gestalten? Wie werden sich die SS- und SA-Formationen stellen? Je nachdem, ob die Nationalsozialisten an die Regierung kommen oder nicht. Zweifellos wirke sich die Gestaltung der Beziehungen des Reichs zu Preußen auch auf die wirtschaftliche Entwicklung aus. Wenn das jetzige Reichskabinett sich einer nationalsozialistischen Führung widersetze, werde dies von Süddeutschland sicherlich begrüßt werden. Was aber werde sich bei den SS- und SA-Formationen ereignen, wenn die Nationalsozialisten die Regierung in die Hand bekommen würden? Es handele sich um 400 000 Mann, die auf Kampf eingestellt seien. Wenn Herr Hitler Reichskanzler und Herr Straßer Reichsminister des Innern werden sollten, werde es innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung sicherlich starke Absonderungen geben. Es würde zu starken Auseinandersetzungen der ruhigeren Elemente mit den übrigen Teilen der Bewegung kommen. Ferner werde man auch mit Auseinandersetzungen zwischen SA-Formationen und den staatlichen Machtmitteln zu rechnen haben. Fragen müsse man sich auch, ob die Dinge anders aussehen würden, wenn das gegenwärtige Kabinett unverändert im Amte bleibe. Wenn die gegenwärtige Reichsregierung von einem einheitlichen Willen geführt werde, werde man wahrscheinlich den gefahrvollen Weg gehen können. Dabei komme es ausschlaggebend darauf an, wie der Reichswehrminister die Einstellung der Wehrmacht zu den SS- und SA-Formationen beurteile, für den Fall, daß die Nationalsozialisten nicht zur Regierung kommen sollten.

Der Reichswehrminister erwiderte, daß der Eintritt von Nationalsozialisten in die Reichsregierung zwangsläufig zu Kämpfen der in die Regierung eingetretenen Nationalsozialisten mit den SS- und SA-Formationen führen müsse. Wenn Nationalsozialisten in der Regierung seien, würden diese danach streben müssen, die SS- und SA-Formationen abzuhalftern. Andernfalls würden diese Formationen weiter wie bisher gestreichelt werden. Jedenfalls halte er für sehr wahrscheinlich, daß die Führer der Nationalsozialisten sich nach dem Eintreten in die Regierung der SS- und SA-Abteilung selbst entledigen würden11. Sicher lasse sich dies allerdings nicht voraussagen.

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Vgl. oben Anm. 7.

Der Reichsminister der Finanzen schloß sich dem Standpunkt des Reichswirtschaftsministers an. Auch er meinte, daß die Wirtschaftskrise gegenwärtig auf dem Boden angekommen sei. In Amerika rechne man für das Frühjahr mit einer langsamen Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse12. Man müsse sich also fragen, ob Deutschland bis dahin wirtschaftlich durchhalten könne. Er sehe nach dieser Richtung sehr schwarz. Die finanzielle Entwicklung in den Ländern und Gemeinden sei nach allem, was er von den maßgebenden Stellen höre, sehr schlecht. Das Schicksal jeder Regierung hänge ausschlaggebend davon ab, ob es ihr gelinge, zwei Millionen Arbeitslose von der Straße wegzuschaffen oder nicht. Die Erreichung dieses Zieles hänge wesentlich davon ab, ob das Vertrauen in eine ruhige politische Weiterentwicklung hergestellt werden könne.[385] Gegen den von dem Herrn Reichsminister des Innern vorgeschlagenen Weg der Lösung der Krise habe er gewisse Bedenken. Wenn die öffentliche Meinung damit rechnen müsse, daß die gegenwärtige Regierung noch nicht endgültig im Sattel sitze und daß die Nationalsozialisten noch ante portas seien, trete die politische Beruhigung sicherlich nicht ein. Er halte den Eintritt der Nationalsozialisten in die Reichsregierung für weniger gefährlich als das Fortbestehen des ungewissen Schwebezustandes. Wenn man sich frage, ob man den Bürgerkrieg besser vermeide durch das Hineinziehen der Nationalsozialisten oder durch deren Ausschaltung mit Fortbestand der SS- und SA-Formationen, so müsse er sagen, daß er es für richtiger halte, den Wilddieb zum Förster zu machen, d. h. die Nationalsozialisten in die Regierung hineinzunehmen.

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Hoover betont in seinen Memoiren (Bd. III, S. 164): „Es ist eine geschichtliche Tatsache, daß uns die große Depression gegen Ende Juni oder Anfang Juli 1932 den Rücken kehrte.“ Auch Kindleberger (Die Weltwirtschaftskrise, S. 203) verweist darauf, daß in den Vereinigten Staaten die „Zeichen einer Wende“ ab Juli 1932 „unverkennbar“ gewesen seien.

Der Reichsminister der Justiz führte aus, daß der vom Reichsminister des Innern vorgeschlagene Weg, nämlich daß das jetzige Kabinett unverändert im Amte bleibe, ohne Verstoß gegen die Reichsverfassung nicht gegangen werden könne. Er beurteile die Verhältnisse so, daß im deutschen Parlament mit zwei großen Säulen gerechnet werden müsse, die zahlenmäßig in dem Verhältnis 222 zu 230 ständen (133 SPD + 89 KPD einerseits gegen 230 NSDAP). Die Frage sei also die, ob eine dieser Säulen allein die Regierung tragen könne. Das Schicksal des deutschen Volkes werde durch die Entscheidung bestimmt, welche Idee vom Staat sich letzten Endes durchsetzen werde. Die nationalsozialistische Staatsidee stütze sich stark auf den Vergeltungsinstinkt. Sie wende sich gegen zwei Kategorien von Staatsbürgern, 1. gegen die Juden, die für sie das Symbol des Finanzelends seien, und 2. gegen die wirtschaftlichen Sünder, die sie mit dem Schlagwort „Marxisten“ bekämpfen. Wenn man sich entschließen sollte, den von dem Reichsminister des Innern vorgeschlagenen Weg des Fortbestandes des Präsidialkabinetts zu gehen, werde er als Reichsminister der Justiz dem Herrn Reichspräsidenten auf die zweifellos von diesem zu erwartende Frage nach den verfassungsrechtlichen Möglichkeiten dieses Weges pflichtgemäß antworten müssen, daß der Weg ohne Bruch der Verfassung nicht gegangen werden könne. Die Entscheidung werde daher letzten Endes bei dem Herrn Reichspräsidenten liegen. Bei der Betrachtung der zweiten Möglichkeit, nämlich der Beteiligung der Nationalsozialisten an der Regierung, sei er davon überzeugt, daß die Einbeziehung der Nationalsozialisten, ohne Übertragung der Führung an sie, ein Wunschbild bleibe.

Der Reichskanzler faßte das Ergebnis der Aussprache dahin zusammen, daß sich alles auf die Frage zuspitze, in welchem Maße man den Nationalsozialisten eine Beteiligung an der Reichsregierung zubilligen müsse, um sie davon abzuhalten, in Opposition zu verharren. Klarheit nach dieser Richtung könne nur durch die zu führenden Verhandlungen geschaffen werden.

Reichskommissar Bracht bemerkte abschließend, daß der gegenwärtige Zustand in Preußen derart sei, daß unbedingt baldigst absolute Klarheit geschaffen werden müsse. Der gegenwärtige Zustand sei auch nur für wenige Wochen nicht mehr haltbar. Die Exekutivbehörden müssen klare Weisung erhalten, woran sie sich in Zukunft zu halten hätten. Gegenwärtig herrsche große Verwirrung. Er sei der Meinung, daß man die Nationalsozialisten baldigst in die Regierung hereinnehmen müsse.

[386] Der Reichskanzler schloß die Sitzung mit dem Bemerken, daß er die übereinstimmende Auffassung des Reichskabinetts dahin verstehe, daß versucht werden müsse, einen Weg zu finden, der dem gegenwärtigen Kabinett soviel Macht erhalte als irgend möglich.

Der Reichsminister des Innern bat, noch ausdrücklich festzustellen, daß die Übertragung der Führung an die Nationalsozialisten in keinem Falle hingenommen werden könne.

Der Reichskanzler erwiderte, daß diese Frage nur durch die weiteren Verhandlungen geklärt werden könne13.

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Zum Fortgang s. Dok. Nr. 101.

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