1.60.1 (wir2p): [Innerpolitische Maßnahmen]

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[Innerpolitische Maßnahmen]

Reichskanzler Die Regierung habe früher erklärt, daß alsbald nach Erledigung der oberschlesischen Frage die Neuwahl des Reichspräsidenten erörtert werden müsse. Man dürfe die Initiative in dieser Frage nicht den Rechtsparteien überlassen, sie müsse vielmehr bei den Regierungsparteien liegen. Der Herr[885] Reichspräsident sei mit dieser Auffassung einverstanden. Aus diesem Grunde habe er in Stuttgart vor der Presse diese Frage angeschnitten; man werde sich in Kürze weiter darüber unterhalten müssen1. Jedenfalls müsse betont werden, daß das erste Wort hierzu von der Reichsregierung gefallen sei.

1

Siehe Dok. Nr. 297, P. 3.

Zur parlamentarischen Lage:

Eine innerpolitische Krise müsse zur Zeit vermieden werden, deshalb müsse man sich über die Haltung der Parteien zur Zwangsanleihe und den damit zusammenhängenden Steuern2 und zur Getreideumlage3 klar werden.

2

Siehe Dok. Nr. 261, P. 1.

3

Siehe Dok. Nr. 282 Anm. 4.

Abgeordneter Müller-Franken: Eine Krise in den Sommerwochen halte er für äußerst unerwünscht, denn die im Reparationsproblem gesponnenen Fäden müßten fortgeführt werden. Zuzugeben sei aber, daß die Lage gespannt sei. Gestern morgen hätten Besprechungen darüber stattgefunden, wie die Zwangsanleihe und die dazu gehörenden Steueranträge behandelt werden sollten. Sie würden wahrscheinlich in der nächsten Woche an die Kommission kommen, so daß dann der Reichstag in der übernächsten Woche in die Sommerferien gehen könnte. Voraussetzung sei hierbei aber, daß keine grundlegenden Änderungen an dem Gesetz mehr vorgenommen würden.

Er hoffe, daß an der Zwangsanleihe gemäß dem Steuerkompromiß4 von allen beteiligten Parteien, auch von der Volkspartei, festgehalten würde. Wenn jedoch Versuche gemacht würden, die Zwangsanleihe stark zu verwässern, so würde die Mehrheitssozialdemokratie mit allen Mitteln hiergegen vorgehen.

4

Zum Steuerkompromiß siehe Dok. Nr. 205 Anm. 1.

Auf der Getreideumlage bestehe seine Partei unter allen Umständen. Die Preise für Nahrungsmittel seien vielfach um das 60- bis 80fache des Friedenspreises gestiegen. Für Getreide und Brot würde dies unerträglich sein. Mit einer gewissen Erhöhung werde man allerdings infolge Erhöhung der Produktionskosten zu rechnen haben. Wenn eine völlig freie Wirtschaft auch für Getreide einträte, so würde der Brotpreis bis auf 45 M steigen. Das wäre unerträglich, um so mehr, als nach Ansicht industrieller Kreise im Spätherbst mit einer Krise in der Industrie und daher mit Arbeitslosigkeit zu rechnen sei.

Abgeordneter Koch: Die Lage im Herbst könne ernst werden. Eine Krise müsse jetzt vermieden werden. Bei der Zwangsanleihe würde seine Partei mitwirken unter Vorbehalt von Einzelheiten. Zum Kompromiß bemerke er, daß eine Änderung der Erbschaftssteuer notwendig sei. Die Demokraten hätten den diesbezüglichen Antrag der Volkspartei nicht unterstützt, um einen Riß innerhalb der Koalitionsparteien zu vermeiden. Er bitte aber doch um eine gewisse Nachgiebigkeit bei Beratung dieser Vorlage, die der Abgeordnete Müller-Franken ja auch zugesagt habe.

Was die Getreideumlage anlange, so wolle er offen mitteilen, daß nicht die ganze demokratische Fraktion dafür zu haben sein werde. Daß die Zwangswirtschaft im allgemeinen auf die Dauer nicht haltbar war, darüber herrsche Einigkeit. Die Unterschiede bezögen sich eigentlich nur auf das Tempo des Abbaues.[886] Die Führung der Demokratischen Partei halte an der Umlage fest. In Einzelheiten müsse aber auch die Lage in seiner Partei und die Stimmung der Landbevölkerung in Rechnung gesetzt werden. Der Reichsrat habe Entgegenkommen in der Preisfrage gezeigt. Man müsse auch den kleinen Grundbesitz schonen und es ermöglichen, daß die Länder die Umlage nach der Größe der Kulturflächen bemessen. Werde ein Entgegenkommen in den gewünschten Punkten gezeigt, so würde seine Fraktion dafür sorgen, daß ein möglichst großer Teil der Partei für die Umlage einträte.

Abgeordneter v. Guérard: Das Zentrum werde loyal für die Erfüllung des Steuerkompromisses eintreten. Über die Getreideumlage habe die Fraktion noch keinen Beschluß gefaßt, daher könne er heute nichts darüber sagen.

Abgeordneter Müller-Franken: Mit einer gewissen Anpassung des Tarifs der Erbschaftssteuer an die Geldentwertung sei er einverstanden. Dann müsse auch das Nötige getan werden, um den kleinen und mittleren Landwirt bei der Getreideumlage möglichst zu schonen. Wenn ein Teil der Demokraten und des Zentrums bei der Getreideumlage absplittere, so entstehe eine äußerst schwierige Lage. Im vorigen Jahre sei die Getreideumlage durch die Deutschnationalen gerettet worden. Dies würden sie in diesem Jahre nicht wieder tun. Die Haltung der Unabhängigen sei, seitdem Crispien die Führung übernommen habe, undurchsichtig. Die Möglichkeit des Falls der Vorlage sei also gegeben. Für den dann entstehenden Getreidepreis übernehme seine Partei die Verantwortung nicht, sie würde dann aus der Regierung ausscheiden. Dann sehe er nur die Möglichkeit der Reichstagsauflösung, wozu die Zeit seines Erachtens günstig sei, da ein Ultimatum nicht drohe.

Reichskanzler Die Rechtsparteien würden sicher gegen die Umlage stimmen. Die U.S.P. würde vielleicht heute gleichfalls gegen die Regierung stimmen. Die Haltung der Kommunisten sei unklar. Die Bayerische Volkspartei würde wahrscheinlich gegen die Vorlage stimmen. Wenn dann noch Demokraten und Zentrum teilweise absplitterten, so würde die Vorlage fallen. Jedenfalls müsse sie mit den Regierungsparteien vor der Beratung in der Kommission durchgesprochen werden. Erfolgt wegen der Getreideumlage eine Auflösung des Reichstags, so würde das Volk in zwei Teile gespalten.

Abgeordneter Erkelenz: Er habe gehört, daß für die Umlage ein höherer Preis eingesetzt werden solle. Damit würde ihr Wert gleich null werden. Er lege Wert darauf, daß die kleinen Bauern frei blieben und der Preis für das Umlagegetreide niedrig sei.

Reichskanzler Die Umlage habe, auch abgesehen vom Preis, große Bedeutung. Mache man sie nicht, so würde in Verbindung mit den Erörterungen über die internationale Anleihe die Spekulation das Getreide zurückhalten, um den Preis zu treiben. Deshalb könne man die Umlage unter keinen Umständen fallenlassen.

Abgeordneter Becker-Arnsberg: In der Frage der Steuern und der Zwangsanleihe sei eine Verständigung auch mit der Volkspartei möglich. Die Getreidefrage sehe auch er als kritisch an. Die Lage im Zentrum sei ähnlich wie bei den Demokraten, ein Teil sei dagegen, weil er die Agitation der Rechten bei ländlichen Kreisen fürchte. Weiter spiele die Möglichkeit eine Rolle, daß die[887] Entente das Getreideumlagegesetz für die Rheinlande außer Kraft setze, wodurch die Separatistengefahr gesteigert werden könnte. Falle das Gesetz, dann hätten wir die Krise und Neuwahlen, bei denen die Konsumenten gegen die Produzenten stehen würden. Hierdurch würde auch ein Riß in die einzelnen Parteien selbst, wohl auch in die Rechtsparteien, getragen werden. Wenn die Bayerische Volkspartei abspringe, so sei eine sehr schwierige Lage geschaffen.

Reichskanzler Der Minister Fehr müsse die Frage mit den Regierungsparteien besprechen.

Abgeordneter Löbe: Die Getreideumlagedebatte sei am Montag [19. 6. 22]5. Die Besprechung des Ministers Fehr würde zweckmäßig nach der ersten Lesung stattfinden.

5

Siehe RT Bd. 355, S. 7875  ff.

Den Reichskanzler frage er, ob die Reparationsdebatte am Mittwoch stattfinden könne.

Reichskanzler Da Poincaré heute in London sei, halte er dies für möglich.

Der Kanzler verläßt die Sitzung.

Abgeordneter Müller-Franken: Die Unabhängigen hätten eine Interpellation wegen der Landbünde eingebracht und wollten sie mit der Besprechung der Getreideumlage verbinden. Sie wollten hierdurch die Möglichkeit bekommen, zwei Redner statt eines sprechen zu lassen. Hiergegen müßten die Regierungsparteien Front machen.

Die Abgeordneten Guérard und Becker-Arnsberg stimmen dieser Auffassung zu.

Abgeordneter Koch bittet nochmals, in der Preisfrage beim Getreide nicht zu unnachgiebig zu sein, da sonst der rechte Flügel der Demokraten nicht mitgehen werde. Die Freilassung der kleinen Bauern würde von großer Bedeutung sein. Das wichtigste schiene ihm, das Getreide in die Hand zu bekommen, um Preisspekulationen zu verhindern.

Abgeordneter Stampfer: Eine Umlage, die den Preis nicht sichtbar ermäßigt, habe keinen Zweck.

Abgeordneter Löbe: Man müsse publizistisch darauf hinweisen, wie wichtig die Getreideumlage für den städtischen Mittelstand sei.

Der Verbindung der Interpellation der Unabhängigen mit der Beratung der Getreideumlage könne man unter der Voraussetzung zustimmen, daß die Unabhängigen hieraus keine rednerischen Vorrechte ableiteten.

Die Abgeordneten Müller-Franken und Becker-Arnsberg erklären sich hiermit einverstanden.

Abgeordneter Löbe stellt fest, daß die Plenarsitzung am Montag nach dem Ergebnis der heutigen Besprechung um 3 Uhr beginnen könne.

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