1.72.1 (wir2p): [Innerpolitische Lage]

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[926][Innerpolitische Lage]

Es wurde die politische Lage besprochen, insbesondere die für Dienstag in Aussicht genommene Demonstration1.

1

Siehe Dok. Nr. 306 Anm. 3.

Der Reichskanzler äußerte seine Besorgnis darüber, daß insbesondere auch bei der Eisenbahn eine Stillegung beschlossen sei, für die die Eisenbahnverwaltung jegliche Verantwortung ablehnen müsse. Auch gewisse Vorfälle auf der Grube Ilse ließen die Möglichkeit nicht von der Hand weisen, daß nicht nur gegen Rechts, sondern auch gegen Plünderungen von Links eine Abwehr vorgenommen werden müsse.

Abg. Wels teilte die Entstehungsgeschichte des Aufrufs der Gewerkschaften usw. mit und ließ dahingestellt, ob die Demonstration am Dienstag nötig sei oder nicht. Die Gewerkschaften seien an die drei politischen Parteien herangetreten, die den Aufruf mitunterzeichnet hätten. Eine Prüfung, ob durch die Stillegung des Eisenbahnbetriebes nicht eine Gefährdung eintrete, sei seitens der Parteien nicht erfolgt, weil sie geglaubt hätten, daß diese Frage von den Gewerkschaften eingehend erörtert worden sei.

Minister Severing und ReichskohlenkommissarStutz machten Mitteilung über die Vorgänge im Senftenberger Bezirk.

Die Abg. Dr. Petersen und Stegerwald bedauerten den Beschluß des Demonstrationsstreiks. Die ihnen angehörenden Beamten und Arbeiter würden sich daran nicht beteiligen, um die Sache nicht zu verschlimmern.

Abg. Müller-Franken glaubt nicht, daß die Stimmung der Gewerkschaften abflauen würde, solange nicht der Gesetzentwurf angenommen sei2. Sie hätten es als Pflicht erachtet, bei den Verhandlungen mit den Gewerkschaften dabei zu bleiben, um sie an einem weiteren Abtreiben zu hindern.

2

Gemeint ist die Republikschutzgesetzgebung (siehe Dok. Nr. 325 Am. 1).

Über die politische Lage teilte er mit, daß sie gar nicht darum herumgekonnt hätten, nachdem sich bereits ein Umschwung in der Auffassung der USPD bemerkbar machte, zuzugreifen und dafür zu sorgen, daß diese Partei durch ihre Beteiligung an der Verantwortung mit für die Republik eingespannt würde. Er habe die Pflicht gefühlt, den Prozeß der USPD in ihrer Mehrheit für die Regierung zu beschleunigen und als Partei an die USPD die Frage gerichtet, ob sie bereit sei, zur Sicherung der republikanischen Regierung in diese einzutreten. Lange programmatische Erörterung halte er nicht für gut. Es komme auf die Mitarbeit an. Falls ein Zusammenschluß in der Regierungskoalition nicht erfolge, so würde eventuell die Frage einer Arbeitsgemeinschaft zu klären sein. Ob sich daraus eventuell für die MSPD ein Ausscheiden aus der Koalition ergebe, stehe dahin. Die Entscheidung der Auffassung der USPD würde morgen fallen. Im großen und ganzen glaubte er, zusammen mit den Gewerkschaften die Sache in der Hand zu haben. Das schließe natürlich nicht aus, daß einzelne Ausschreitungen stattfinden würden. Auf die Frage des Abg. Spahn, ob die Zusammenarbeit mit der USPD auf dem Boden der gegenwärtigen Verfassung geschehe, erwiderte Müller, daß über einen Eintritt in die Regierung noch nicht verhandelt[927] sei. Die USPD prüfe zunächst, ob ein Eintritt in die Regierung mit ihrem letzten Beschluß in Leipzig im Hinblick auf die Ermordung von Rathenau erträglich sei. Selbstverständlich würde ein Eintritt in die Regierung nur unter absoluter Anerkennung der Verfassung vom 11. August 1919 in Frage kommen.

Abg. Marx bezeichnete als Ziel der Besprechung die Beruhigung der Massen. Das wirksamste in dieser Hinsicht sei durch Festnahme einzelner Mörder und Beteiligten geschehen. Ob die Demonstration zur Beruhigung beitragen werde, scheine ihm zweifelhaft. Im übrigen müsse man prüfen, ob man nicht alle auf einen vorübergehenden Zustand abzielenden Bestimmungen in die Verordnung und nicht in das Gesetz übernehmen solle. Endlich glaube er, daß man in dem Gesetz lediglich den Tatbestand feststellen müsse.

Minister Severing macht auf Grund soeben eingeholter telephonischer Erkundigung beim Landrat in Kalau Mitteilungen über die Vorgänge in Senftenberg. Ferner machte er Mitteilung von einem Aufmarschplan für die Demonstration am Dienstag, der nach Mitteilung des Polizeipräsidenten Richter unter allen Umständen zu groben Störungen führen müsse, da der Platz an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche und die Ableitung der Züge durch den Kurfürstendamm bis Halensee kaum ohne Störung abgehen könne.

Es wurden nunmehr die Vertreter der Gewerkschaften: Leipart, Graßmann, Wissell, Knoll und Brunner zu der Besprechung hinzugezogen.

Der Reichskanzler und Minister Severing begründeten die Befürchtung, daß die geplante Demonstration, insbesondere hinsichtlich der Wahl des Orts und des Aufmarsches, zu Störungen führen könne.

Die Herren Wissell und Leipart erklären sich bereit, mit der Gewerkschaftskommission Berlin darüber noch Fühlung zu nehmen.

Der Reichskanzler stellte sodann die Frage des Lohnabzugs der Arbeiter zu Debatte.

VizekanzlerBauer ging davon aus, daß der Lohn nicht bezahlt werden könne, was im übrigen auch den gewerkschaftlichen Grundsätzen entspreche. Er glaube nicht, daß die Privatbetriebe den Lohn zahlen würden, und halte es für besser, es den Gewerkschaften zu sagen, daß derartige Kämpfe unter gewissen Verlusten naturgemäß ausgeführt werden müßten.

Abg. Wels erkannte den Standpunkt des Vizekanzlers als grundsätzlich richtig an, war aber der Auffassung, daß er über die Bedeutung der Demonstration von falschen Voraussetzungen ausgehe. Es handle sich hier um eine Parallelaktion zu der bei der Leichenfeier Rathenaus von der Regierung aufgerufenen Demonstration. Die Regierung solle nicht kleinlich wegen des Lohnabzugs feilschen.

Abg. Stegerwald erklärte, daß er den Standpunkt des Vizekanzlers billige; auch mit Rücksicht auf das Ausland sei die Demonstration unerwünscht.

Leipart war Herrn Wels für seine Ausführungen dankbar. Es handle sich hier nicht um einen Streik, sondern um eine Demonstration zum Schutze der Republik, zu der die Aufforderung der Beteiligung an alle Republikaner gerichtet sei, nicht einseitig an die Arbeiter.

Der Reichskanzler bat die Gewerkschaften, dafür einzutreten, daß wegen[928] der Gesetzesvorlagen und des Banknotendruckes der Streik in der Reichsdruckerei sofort beigelegt werden solle.

Abg. Dr. Petersen teilte mit, daß die Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften aufgefordert worden wären, sich nicht an der Demonstration zu beteiligen. Er sei der Auffassung, daß die Demonstration der Republik nicht nützen werde. Sie würde die ruhige Besinnung und Einkehr vieler bisher anders Denkenden aufhalten und am allerwenigsten im Sinne des Ermordeten sein.

Ministerpräsident Braun hielt die Demonstration gleichfalls für unerwünscht, glaubte aber, daß sie nicht mehr zurückgepfiffen werden könne. Es käme darauf an, sie so zu gestalten, daß kein Schaden für die Republik entstehe. Die Lohnfrage habe seines Erachtens keine große Bedeutung, und die größte Gefahr bestehe darin, daß es in Berlin und anderen Städten zu Störungen der öffentlichen Ordnung komme, wodurch der Reaktion der größte Gefallen getan werden würde. Es bestehe durchaus die Gefahr, daß nationalradikalistische Kreise gerade in der Gegend, in der die Demonstration stattfinden solle, provozieren würden, und daß dann, falls sich dort Unglücksfälle ereignen sollten, der Republik am meisten geschadet werden würde. Seine Auffassung sei, daß alles darangesetzt werden müsse, die Demonstration in Ruhe und Ordnung zu halten und die Umzüge so zu arrangieren, daß ein Marsch über den Kurfürstendamm vermieden werde. In Zukunft würde es zweckmäßiger sein, wenn vor derartigen Demonstrationen die Gewerkschaften sich mit der Regierung in Verbindung setzen würden.

Der Reichskanzler wies darauf hin, daß der Aufruf in der heutigen Morgenausgabe der „Roten Fahne“ nicht geeignet sei, die Lage im Reichstag zu erleichtern.

Reichsminister Giesberts berichtete über die Lage in der Reichsdruckerei und bat die Gewerkschaften eindringlichst, für eine Wiederaufnahme der Arbeit am Montag einzutreten3.

3

Der Buchdruckerstreik hatte am 27.6.1922 auf Grund von Lohnforderungen begonnen und sich am 1.7.1922 auch auf die Reichsdruckereien ausgedehnt; er wurde am 12.7.1922 beigelegt (Schultheß 1922, S. 92).

Herr Graßmann betonte, daß auch er in der Beurteilung des Buchdruckerstreiks, den er für zweckwidrig und gefährlich halte, mit dem Reichspostminister einig gehe. Er werde versuchen, auf die Beteiligten einzuwirken.

Was die Demonstration anlange, so seien die Gewerkschaften entschlossen, die Demonstration nicht mit einem bloßen Spaziergang beenden zu lassen. Sie wollten nicht nur die Regierung unterstützen, sondern auf sie und das Parlament einen Druck ausüben; es müsse endlich das nachgeholt werden, was 1920 versäumt sei. Sie wollten durchgreifen und gerade durch die Viertel, in denen man bisher Demonstrationen nicht gesehen habe, die Demonstration führen. Ihr größtes Bestreben sei, die Bewegung in der Hand zu behalten, nicht ein Pflasterstein solle verrückt werden. Deshalb wollten sie mit den Kommunisten gehen. Denn wenn sie dies nicht getan und sie dadurch nicht an die Kette gelegt hätten, würde vermutlich noch Schlimmeres passiert sein. Die Ordnung würde aufrecht erhalten werden, und es sollte gerade im Westen, in diesen Kreisen,[929] kein Zweifel darüber gelassen werden, daß die Arbeiter bereit wären, für die Republik einzustehen und mit ihr zu fallen.

Herr Stegerwald machte nochmals auf das Bedenkliche der Lohnzahlung aufmerksam.

Herr Wissell begründete in eindringlicher Weise die Notwendigkeit der Demonstration und war der Auffassung, daß die Regierung ihnen Dank statt Vorwürfe schulde, daß sie sich an die Spitze der Bewegung gestellt hätten. Sie würden die Dinge meistern und jegliche Störung verhindern. Hätten sie die Demonstration abgelehnt, dann würde sie über ihren Kopf hinweg doch erfolgt sein. Die Arbeiterschaft sei bis ins Innerste erregt und wolle endgültig mit der Reaktion aufräumen.

Reichsminister Giesberts betonte, daß ihm Vorwürfe gänzlich ferngelegen hätten. Er halte nur die Frage der Lohnzahlung für kritisch.

Abg. Dr. Petersen hielt die Auffassung von Herrn Graßmann, daß die Gewerkschaften einen Druck auf Parlament und Regierung ausüben wollten, nicht mit der Demokratie als vereinbar.

Nachdem die Vertreter der Gewerkschaften den Sitzungssaal verlassen hatten, um mit dem Vizekanzler und dem Vertreter des Verkehrsministeriums die Frage der Stillegung des Eisenbahnbetriebes zu erörtern, wurde unter den Parteiführern die Besprechung fortgesetzt.

Der Reichskanzler gab der Auffassung Ausdruck, daß ein Lohnabzug nicht möglich sei. Man solle die Sache laufen lassen und dafür sorgen, daß kein Unglück entstehe. Er schlug ferner vor, einen Aufruf der Republik und der Regierung dahin vorzubereiten, um auf eine ruhige Abwicklung der Demonstration hinzuweisen, und bat die Regierungsparteien, die Lohnkürzung nicht vorzunehmen.

Es wurde sodann noch über das Gesetz zum Schutze der Sicherung der Republik gesprochen.

Abg. Dr. Petersen empfahl, die Erörterung bis nach Stellungnahme des Reichsrats zu dem Gesetzentwurf zu verschieben. Er hielt den Erlaß eines Gesetzes ausschließlich gegen eine Partei für falsch, wie er seinerzeit auch gegen die anderen Ausnahmegesetze gewesen wäre. Er machte sodann Ausführungen über die mutmaßlichen Beweggründe der Täter.

Der Reichskanzler bat die Vertreter der Demokratie und des Zentrums, in ihren Äußerungen und Parteireden äußerst vorsichtig zu sein, da ein Abrücken aus der Kampffront die Arbeiter leicht zur Selbsthilfe treiben könnte.

Minister Severing schloß sich diesen Ausführungen des Reichskanzlers an. Er machte sodann noch einzelne Mitteilungen über die rechts-radikalen Organisationen. Auch er war der Auffassung, daß das Gesetz kommen müsse, wenn nicht ganz schlimme Zustände eintreten sollten.

Abg. Müller-Franken machte auf den Unterschied des Sozialistengesetzes und dieses Gesetzentwurfes aufmerksam. Er bat gleichfalls, in den Reden bei dem Gesetzentwurf vorsichtig zu sein, da sonst die Auflösung des Reichstags wohl kaum zu umgehen sein würde.

Abg. Marx wiederholte nochmals, daß ein Zustandekommen des Gesetzes notwendig sei. Er bäte nochmals zu überlegen, ob man nicht einige Bestimmungen[930] in die Verordnung aufnehmen könne; im übrigen bat er, mit der bayerischen Volkspartei und der Deutschen Volkspartei Fühlung zu nehmen.

Abg. Dr. Petersen bemerkte noch, daß er und seine Partei das Gesetz mitmachen wollten, er habe nur heute eine gewisse Klarstellung herbeiführen wollen.

Hierauf wurde die Kabinettssitzung fortgesetzt4.

4

Siehe Dok. Nr. 306, Schluß.

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