2.110 (feh1p): Nr. 110 Der Reichskanzler an das Bayerische Ministerium des Äußern. 11. November 1920

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[278] Nr. 110
Der Reichskanzler an das Bayerische Ministerium des Äußern. 11. November 1920

R 43 I /1246 , Bl. 146–151 Abschrift1

1

Offenbar wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieser Angelegenheit erhielten sämtliche Landesregierungen und das Büro des RPräs. eine Abschrift dieses Schreibens an das Bayer. Ministerium des Äußern. Bei der Vorlage des hier abgedruckten Dokuments handelt es sich um eine solche Abschrift.

Zu den näheren Einzelheiten, die zu diesem Schreiben führten, s. Dok. Nr. 101, P. 2 und Dok. Nr. 106, P. 7, bes. Anm. 10.

[Betrifft: Stellungnahme der Reichsregierung zur Anwendung des Art. 48 Abs. 4 der Reichsverfassung durch die Bayerische Regierung]

Aus dem Bericht der Kommissare, welche die Reichsregierung zur Besprechung der durch den Erlaß der bayerischen Verordnung zur Unterdrückung von Schleichhandel und Preistreiberei vom 25. Oktober 1920 geschaffenen Lage nach München entsandt hat, habe ich mit Befriedigung entnommen, daß den Kommissaren Gelegenheit gegeben worden ist, die ernsten Bedenken, die hier gegenüber dieser Verordnung bestehen, an leitender Stelle zur Sprache zu bringen2. Bei der grundsätzlichen Bedeutung der Angelegenheit halte ich es indessen für geboten, den Standpunkt, den die Reichsregierung gegenüber der Verordnung einnimmt, noch einmal schriftlich kurz darzulegen.

2

Zur Entsendung dieser Kommissare s. Dok. Nr. 106, Anm. 8.

Die Verordnung ist auf Grund des Art. 48 Abs. 4 der Reichsverfassung erlassen worden. Diese Vorschrift ermächtigt die Länder, bei einer erheblichen Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung einstweilige Maßnahmen anzuordnen, sofern Gefahr im Verzuge vorliegt. Aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte der Vorschrift ergibt sich unzweideutig, daß hiermit für die Landesregierungen nur die Möglichkeit geschaffen werden soll, in solchen Fällen selbständig vorzugehen, in denen eine Entschließung des in erster Reihe berufenen Reichspräsidenten nach ihrer Auffassung zu spät kommen würde. Der Wortlaut und die Entstehungsgeschichte ergeben weiter, daß die Anordnungen, welche die Landesregierungen in solchen Fällen treffen, sich als einstweilige Maßnahmen in dem Sinne darstellen, daß sie nur vorbehaltlich der endgültigen Entschließung des Reichspräsidenten ergehen. Dementsprechend hat die Reichsregierung bei dem Erlaß solcher Verordnungen der Länder unverzüglich eine Entschließung des Reichspräsidenten darüber herbeizuführen, ob er die Verordnung dem Reichstage vorlegen und damit zu seiner eigenen machen will. Glaubt die Reichsregierung, dem Reichspräsidenten die Übernahme der Verantwortung für eine solche Verordnung nicht anraten zu können, so bleibt ihr nur übrig, dem Reichspräsidenten zu empfehlen, daß er von seinem verfassungsmäßigen Recht, die Aufhebung der Verordnung zu verlangen, Gebrauch macht.

[279] Aus dieser Rechtslage, die, soweit ich sehe, in der Literatur unbestritten ist und bereits zu einer festen Staatspraxis geführt hat, ergeben sich nach der Auffassung der Reichsregierung eine Reihe von praktischen Folgen. Zunächst ist es geboten, daß die Landesregierungen mit Anordnungen auf Grund des Art. 48 Abs. 4 ihrerseits nur da vorgehen, wo entweder der Reichspräsident aus besonderen Gründen, z. B. infolge von Verkehrsstörungen, nicht erreichbar ist oder aber die Lage so bedrohlich ist, daß auch die geringe Verzögerung, die mit einem Angehen des Reichspräsidenten verbunden sein würde, nicht in Kauf genommen werden kann. Inwieweit diese Voraussetzung im vorliegenden Falle gegeben war, entzieht sich zurzeit noch einer abschließenden Beurteilung durch die Reichsregierung. Aus den Berichten der Kommissare entnehme ich, daß nach der Auffassung der Bayerischen Regierung nicht nur eine erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, sondern auch eine Gefahr im Verzuge in dem oben entwickelten Sinne als vorliegend erachtet worden ist. Um nach dieser Richtung hin jedes Mißverständnis auszuschließen und die Reichsregierung zugleich in den Stand zu setzen, bei einer eventuellen Vorlegung der Verordnung an den Reichstag diesem Rede und Antwort zu stehen, würde ich dankbar sein, wenn mir hierüber noch nähere schriftliche Mitteilungen zugehen würden3.

3

Das Bayer. Ministerium des Äußern nahm dazu in einem Schreiben vom 9.1.1921 Stellung. Siehe dazu Dok. Nr. 150.

Eine weitere Folge, die sich aus der Rechtslage ergibt, besteht nach Auffassung der Reichsregierung darin, daß es sich dringend empfiehlt, bei einem Erlaß von Verordnungen auf Grund des Art. 48 Abs. 4 Entschließungen der Reichsregierung in grundsätzlichen Fragen, soweit dies nach der Sachlage noch irgend erträglich ist, nicht vorzugreifen. Die Reichsregierung, die selbst bereits erwog, inwieweit eine schärfere Bekämpfung des Wuchers für das gesamte Reich zu erzielen sei, würde, wenn im gegebenen Falle der Reichspräsident angegangen wäre, diesem nicht haben empfehlen können, für das Gebiet eines Landes eine so wichtige und praktisch bedeutsame Materie wie die des Preiswuchers und Schleichhandels in einer Weise zu regeln, die nach den verschiedensten Richtungen hin die reichsrechtlichen Vorschriften einschneidend ändert und damit auf diesem Gebiet die Rechtseinheit im Reiche zerstört. Die Reichsregierung würde ferner dem Reichspräsidenten dringend widerraten haben, bei einer solchen Gelegenheit besonders schwierige Probleme des Strafrechts, wie z. B. die Frage der Vermögenseinziehung, in einem Sinne zu entscheiden, der nicht nur den bisherigen Grundsätzen des Reichsrechts, sondern auch der bisher von der Reichsregierung, und zwar auch in der Öffentlichkeit vertretenen Auffassung über die zukünftige Gesetzgebungspolitik zuwiderläuft. Zu bemerken ist hierbei noch, daß die zur Zeit gegen den Wucher gerichteten Strafbestimmungen in ihrer vollen Schärfe nicht angewandt worden sind und gerade in Bayern vom Januar bis Juni 1920 eine Abnahme der Wucherbestrafungen stattgefunden hat.

Aus der dargelegten Rechtsauffassung ergibt sich schließlich, daß es Pflicht der Landesregierungen ist, unverzüglich nach Erlaß einer Verordnung auf[280] Grund des Art. 48 Abs. 4 dem Reichspräsidenten nicht nur von der Verordnung, sondern auch von den Gründen, die zu dem Erlaß der Verordnung geführt haben, Kenntnis zu geben und insbesondere ihn über die Tatsachen zu unterrichten, in denen eine erhebliche Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und eine Gefahr im Verzuge erblickt worden ist. Nur wenn dies geschieht, ist der Reichspräsident in der Lage, die ihm nach der Reichsverfassung obliegende unverzügliche Entschließung darüber zu treffen, ob er die Verordnung durch Vorlegung an den Reichstag zu der seinen machen will oder nicht. Weiter möchte ich aber glauben, daß eine solche sofortige Fühlungnahme mit dem Reichspräsidenten wie auch mit der Reichsregierung auch aus allgemeinpolitischen Erwägungen unabweislich ist. Es muß nach meiner Auffassung auf das Verhältnis des Reichs zu den Landesregierungen ein überaus mißliches Licht werfen, wenn von einer so wichtigen und die Rechte des Reichspräsidenten so unmittelbar berührenden Angelegenheit der Reichspräsident und das Reichsministerium lediglich durch die Zeitungen Kenntnis erhalten.

Das gemeinsame Interesse der Länder und des Reiches fordert meines Erachtens weiter gebieterisch, daß eine Motivierung, wie sie die Bayerische Regierung ihrer Verordnung in dem begleitenden Aufruf gegeben hat, unterbleibt4. Ich kann auch nach den mündlichen Erörterungen mich nicht davon überzeugen, daß diese Motivierung in bestimmten Tatsachen ihre Stütze findet. Aber selbst, wenn die Bayerische Regierung solche Tatsachen für gegeben erachtete, hätte gleichwohl, wie ich glaube, eine Berufung auf die Ergebnislosigkeit langwieriger Verhandlungen mit der Reichsregierung vermieden werden sollen. In einer Zeit, in der die Regierungen um die Staatsautorität an sich schon schwer zu kämpfen haben, muß es überaus bedenklich wirken, wenn eine Landesregierung eine öffentliche Kundgebung erläßt, aus der geschlossen werden muß, daß die Reichsregierung in einer Lebensfrage des deutschen Volkes trotz vielfacher Mahnungen versage. Zugleich aber muß damit auch der Anschein erweckt werden, als ob die nötige enge Fühlung zwischen dem Reich und den Regierungen der Länder verlorengegangen sei. Aus den Berichten meiner Kommissare habe ich gern entnommen, daß der Bayerischen Regierung der Gedanke ferngelegen hat, durch ihren Aufruf der Reichsregierung einen Vorwurf zu machen. Ich möchte indessen glauben, daß die Wendungen des Aufrufs in der Öffentlichkeit kaum anders als im Sinne eines solchen Vorwurfs verstanden werden.

4

Zu dem Aufruf der Bayer. Reg. („Aufruf an das Bayerische Volk“) s. Dok. Nr. 101, Anm. 1 und 3.

Die Reichsregierung ist, wie bei den mündlichen Besprechungen bereits dargelegt worden ist, gern bereit, mit der Bayerischen Landesregierung zusammen einen Weg zu suchen, der aus der nunmehr entstandenen schwierigen Lage hinausführt. Sie wird zu diesem Zwecke den gesetzgebenden Faktoren reichsgesetzliche Maßnahmen vorschlagen, die sich in der Richtung der bayerischen Verordnung bewegen; sie geht dabei davon aus, daß die Bayerische Regierung entsprechend den in München abgegebenen Erklärungen alsbald mit[281] dem Inkrafttreten der neuen reichsrechtlichen Bestimmungen ihre Sonderbestimmungen aufhebt5.

5

Nach Erlaß eines entsprechenden Reichsgesetzes („Gesetz über die Verschärfung der Strafen gegen Schleichhandel, Preistreiberei und verbotene Ausfuhr lebenswichtiger Gegenstände“, RGBl. 1920, S. 2107  f.) hob Bayern am 28.12.1920 seine WucherVO mit Wirkung vom 1.1.1921 wieder auf. Siehe dazu Dok. Nr. 150.

Bei der grundsätzlichen Bedeutung der Angelegenheit und dem Aufsehen, das sie in der Öffentlichkeit erregt hat, habe ich den Regierungen der übrigen Länder Abschrift dieses Schreibens zugehen lassen6.

6

Siehe dazu weiter Dok. Nr. 150.

[…]

gez. Fehrenbach

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