1.5 (mu11p): Die innenpolitische Unruhe in Deutschland

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Das Kabinett Müller IHermann Müller Bild 146-1979-122-28APlakat der SPD zur Reichstagswahl 1920Plak 002-020-002Wahlplakat der DNVP Plak 002-029-006Wahlplakat der DDP Plak 002-027-005

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Die innenpolitische Unruhe in Deutschland

Klar und unmißverständlich war nach dem Kapp-Putsch der Ruf laut geworden, daß sich ein derartiges Ereignis nicht wiederholen dürfe und daß die Putschisten und die Sympathisanten zu bestrafen und aus ihren Ämtern zu entlassen seien163. Ferner sollte Vorsorge getroffen werden, die Reichsbehörden[XLIII] in einer Form zu besetzen, daß Republikfeinde keine Gelegenheit erhielten, ihre Position zum Schaden des Staats auszunutzen. Aber vergeblich versuchten Gewerkschaften und Beamtenverbände, darauf zu bestehen, daß die Versprechen, die ihnen nach dem Zusammenbruch des Putsches gemacht worden waren, auch eingehalten würden. Sie mußten feststellen, daß in den Ministerien noch immer reaktionäre Beamte über weitreichenden politischen Einfluß verfügten und weder in der Reichswehr noch in der Verwaltung Reformen eingeleitet worden waren. Über die Bildung unbewaffneter Arbeiterwehren sollte, wie das Kabinett den Arbeitnehmervertretern erklärte, erst nach der Konferenz von Spa entschieden werden163a.

163

Schiffer bemerkte zu den Entlassungen: „Die Katastrophe hatte auch über die Ministerien hinaus in den nachgeordneten Stellen zahlreiche Veränderungen und Eingriffe zur Folge. Unter den verabschiedeten oder von ihren Stellungen enthobenen Offizieren befanden sich die Generäle Maercker, von Groddeck, Oberstleutnant von Klewitz und Admiral von Levetzow. Zu den verabschiedeten Beamten gehörte mein alter Fraktionsgenosse und Freund Dr. von Campe, Regierungspräsident in Aurich. Er wurde das Opfer einer verfehlten Neutralitätspolitik, wie sie damals vielfach Unheil anrichtete. Aus seiner Verwaltungspraxis mochte gerade ihm die Idee gekommen sein, daß die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung das Wichtigste und wichtiger sei als die Aufrechterhaltung des Rechts; und aus seiner früheren richterlichen Tätigkeit hatte er wohl die Vorstellung zurückbehalten, daß er in der Streitsache Kapp und Lüttwitz wider Ebert und Noske ‚unparteiisch‘ zwischen und über beiden Teilen stehen könne und müsse. Er sah nicht, daß es im Kampf ums Recht, wenn es sich um fundamentales Recht handelt, keine Neutralität geben kann; vielmehr gilt hier das Wort: ‚Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.‘ Wer in solchen Fällen nicht das Unrecht bekämpft, begünstigt es. Wer parteilos zu sein wünscht, ist farblos gerade da, wo Farbe bekannt werden muß“ (BA: NL Schiffer  16).

163a

Dok. Nr. 114; 128.

Den Hauptakteuren des Putsches war die Flucht gelungen. Wolfgang Kapp befand sich in Schweden, wo er wegen unerlaubter Einreise verhaftet worden war. Das Reichskabinett mußte sich den Bestimmungen des deutsch-schwedischen Auslieferungsvertrags beugen, der die Überstellung politischer Täter ausschloß. Diese Auskunft wurde auf eine Interpellation in der Nationalversammlung gegeben. Minister Bauer, der sich aus innerpolitischen Gründen für ein Auslieferungsbegehren einsetzte, hielten andere Kabinettskollegen entgegen, es sei besser, wenn Deutschland einen derartigen Vertrag des Völkerrechts nicht zur Diskussion stelle164.

164

Dok. Nr. 55, P. 3.

Einige Putschisten, die gefaßt worden waren, sollten, wie Vertreter Preußens dem Reichspräsidenten im Mai mitteilten, vor Gericht gestellt werden. Zur Verfolgung der Flüchtigen, die zum Teil in Bayern vermutet wurden165, war an den Einsatz besonders befähigter Kriminalbeamter gedacht166. Den Teilen der Bevölkerung, die sich zur Republik bekannten, schienen diese Maßnahmen ungenügend; es herrschte „Enttäuschung und Empörung über das zögernde Vorgehen der Regierung“167. Auffällig erschien, daß gegen Linksputschisten bisher wesentlich schärfer durchgegriffen worden war168. Die hessische Landesregierung erklärte daher, sie werde nach Absprache mit anderen[XLIV] süddeutschen Ländern selbständig vorgehen, wenn die Reichsregierung nicht alsbald ausreichende Strafmaßnahmen einleite. Doch das Kabinett konnte nicht handeln, da die Gerichte zuständig waren und die Mehrzahl der Putschbeschuldigungen ohne rechtlich greifbare Substanz blieben169. Immerhin sorgte die Regierung dafür, daß die preußischen Untersuchungskommissionen auch gegen Reichsbeamte ermitteln konnten170.

165

Das galt z. B. für Kapitän Erhard, der sich bis zum Rathenaumord dort verborgen halten konnte.

166

Dok. Nr. 118, P. 3.

167

Auch aus den Ententeländern wurde berichtet, man sei über das mangelnde Durchgreifen der Regierung verwundert.

168

Immerhin beschloß das Kabinett, politische Straftaten in Abwehr des Kapp-Putsches zu amnestieren. Doch diese Amnestie wurde von den Standgerichten im Ruhrgebiet einfach übergangen, Dok. Nr. 45; 60, Anm. 6.

169

Dok. Nr. 6; vgl. dazu auch die Beschwerde des badischen Innenministers Remmele, Dok. Nr. 34.

170

Dok. Nr. 42, P. 17.

Wie bei den Maßnahmen gegen den Ruhraufstand sah sich das Kabinett Vorwürfen von zwei Seiten ausgesetzt. Neben der Kritik an der unzureichenden Verfolgung der Putschisten stand die Rüge der Unternehmer und bürgerlichen Gruppen, daß die Einflußnahme der Arbeitnehmer auf die Reichspolitik nach dem Kapp-Putsch überhand genommen und die Reichsregierung sich für den Generalstreik als Mittel des politischen Kampfes ausgesprochen habe. Die Industriellen in Westdeutschland verlangten daher auch die Übernahme der Löhne, die für die Zeit des Generalstreiks nachgezahlt werden sollten, auf das Reich. Demgegenüber erwartete das Kabinett zunächst, daß zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern eine Übereinkunft getroffen werde. Als diese Hoffnung trog, versuchte die Reichsregierung, die Entschädigung für die Lohnfortzahlung auf dem Verordnungsweg zu regeln, scheiterte damit aber im Reichsrat171.

171

Dok. Nr. 36; 42, P. 22; 59; 81, P. 4; 92, P. 7.

Die Sorge, daß es zu einem neuen Rechtsputsch kommen könne, begleitete die Amtszeit des ersten Kabinetts Müller und wurde besonders Anfang April bestärkt, als die deutschnationalen Abgeordneten Schiele und Schultz-Bromberg den Kanzler aufsuchten, um ihm von einem Gerücht Mitteilung zu machen, wonach ein neuer Putsch bevorstehe. Sie betonten, daß die DNVP mit einem solchen Unternehmen in keinerlei Verbindung stehe, gaben aber zu, daß die Lage in Pommern undurchsichtig sei172. Die DNVP sehe in einem neuen Staatsstreichversuch ein nationales Unglück; aber die Reichsregierung müsse sich weiterer Angriffe gegen die Rechtsparteien enthalten. Die beiden Abgeordneten wiesen schließlich darauf hin, daß sich unter den Offizieren wegen der bevorstehenden Entlassungen eine Desperadostimmung verbreite, die zu einer Zusammenarbeit mit den Kommunisten verleite. Dem Reichskanzler waren solcherlei Gerüchte bereits bekannt und er erklärte, daß auch die Ententekommissionen von ihnen wüßten. Für Berlin bestehe keine direkte Gefahr, nachdem die bisher in Döberitz liegende Brigade abgezogen worden sei, aber in Schlesien seien große Waffenlager von rechtsradikalen Gruppen angelegt worden. Ein neuer Putsch der Rechten werde die Arbeitermassen radikalisieren und vor allem auf dem Land zu einer Konfrontation der Großgrundbesitzer mit den ärmeren Bevölkerungsteilen führen, die eine schlimmere Katastrophe als der Dreißigjährige Krieg zur Folge haben werde. Die DNVP habe sich gegen einen Aufstand, der Deutschland zerreiße und zerrütte, zu wenden. Eine besondere Gefahr stelle[XLV] in dieser Hinsicht der pommersche Landbund dar. Da die Nationalversammlung bis zu ihrer Auflösung noch sachliche Arbeit zu leisten habe, werde von ihr aus kein Anlaß zu neuen politischen Auseinandersetzungen gegeben werden173.

172

Zu den Verhältnissen in Pommern s. Anm. 1–3 zu Dok. Nr. 60.

173

Dok. Nr. 38.

Die Sorge vor einer neuen Erhebung rechtsextremer und nationalkonservativer Gruppen und Parteigänger verlor sich nach dem Ende des Kapp-Putsches nur langsam. Das republikfeindliche Verhalten einiger Freikorps nötigte zu verstärkter Aufmerksamkeit174; aber die eigentliche Furcht galt einem großangelegten kommunistischen Umsturzversuch175. Der Aufstand im Ruhrgebiet zeigte, daß selbst diese lose disziplinierten Einheiten der Arbeiterschaft auf Grund ihrer Erfahrungen aus dem Weltkrieg in der Lage gewesen waren, Regierungstruppen und Polizei längere Zeit zu binden. Hinzu kam, daß mangelhafte Informationen und gezielte Falschmeldungen über die KPD, die von der Reichswehr ausgegangen zu sein scheinen, nicht wenig dazu beigetragen haben, diese Partei, die noch das Dasein einer Splittergruppe fristete, und ihre Möglichkeiten zu überschätzen176.

174

Dok. Nr. 38; 60, P. 8; 71; 105.

175

Dok. Nr. 22; 41; 43; 100; 123; 128; 130.

176

Zur Schwächung der KPD im Frühjahr 1920 trug wesentlich die Gründung der KAPD Anfang April bei, Dok. Nr. 40.

Unter den linksradikalen Bewegungen im Anschluß an den Kapp-Putsch nimmt der Zug des Max Hölz durch das Vogtland einen besonderen Platz ein177. Die Akten der Reichskanzlei ergeben hierzu nur wenig, aber gleichzeitige Zeitungsberichte und die späteren Lebenserinnerungen von Hölz lassen erkennen, daß hier weniger ein politischer Fanatiker als ein politisch engagierter „Schinderhannes“ (E. Andersson) am Werk war, der für die KPD durch seine Unberechenbarkeit untragbar und daher zeitweise aus der Partei ausgeschlossen worden war. Bei alledem kann jedoch nicht außer acht gelassen werden, daß Hölzens Vorgehen – nämlich Erpressung der Abgabe von Waffen, repressives Abbrennen von Villen beim Heranrücken der Reichswehr und ähnliches – den Einsatz von Ordnungskräften erforderlich machte; denn die Arbeiter von Chemnitz und im Vogtland konnten sich nicht entschließen, gegen Hölz, dessen Aktionen sie verurteilten, selbst vorzugehen. Hölz gelang 1920 die Flucht in die Tschechoslowakei, die seine Auslieferung verweigerte, da seine Taten politische Motive besäßen178.

177

Dok. Nr. 52.

178

Vgl. M. Hölz, Vom „Weißen Kreuz“ zur Roten Fahne, S. 85 ff.

Die Ausschreitungen linksextremer Gruppen im Ruhrgebiet und im Vogtland hatten eine panische Angst vor „den Kommunisten“ erzeugt. Dabei hatte sich die Zentrale der KPD nur zögernd mit den kämpfenden Arbeitern an der Ruhr solidarisiert und sie nach dem Bielefelder Abkommen sogar aufgefordert, die Waffen niederzulegen und keinen weiteren Widerstand zu leisten. Das Verhalten von Max Hölz im Vogtland ist von der Parteileitung ausdrücklich mißbilligt worden. Genaue Befragungen hätten ergeben müssen, daß vielfach Anarchisten und Syndikalisten am Werk waren, die sich der Kontrolle der extremen Linksparteien entzogen.

[XLVI] Da das tatsächliche Ausmaß der „kommunistischen Gefahr“ falsch beurteilt wurde, waren die Gegenmaßnahmen der Reichswehr und der Zivilbehörden von übertriebener Strenge179. Die Freikorps, die auch vom Kabinett Müller gegen die Linken eingesetzt wurden, rächten sich an ihren Gegnern für ihre Niederlage beim Kapp-Putsch. Dadurch verlor die Arbeiterschaft das Vertrauen zu einer Regierung, die nicht in der Lage war, sich ohne Rückgriff auf die reaktionären Gegner der Verfassung zu helfen180.

179

Dok. Nr. 80; 101.

180

Am 6.4.20 bemerkte Schiffer in einer Tagebuchaufzeichnung hierzu: „Der Kapp-Putsch war in seiner Vorbereitung und seiner Ausführung unzulänglich, seinem Verlauf grotesk, seinem Ende kläglich. Trotzdem hatte er eine große, wenn auch freilich sehr unerfreuliche Bedeutung. Er hat nämlich das aufkeimende Vertrauen der Arbeiterschaft für unabsehbare Zeit zerstört. […] Die Arbeiterschaft erinnert sich, daß beinahe alle Revolutionen der Geschichte durch aber nicht für die unteren Klassen gemacht worden sind; daß sie stets als Rammbock benutzt, aber selten als gleichberechtigt anerkannt worden sind. Sie hat es wohl gemerkt, daß das Bürgertum, auch das sich liberal nennende, seine innere Sympathie mit den Putschisten nicht oder doch nur mühsam verbergen konnte und am liebsten eine abwartende Stellung bezogen hätte, um, ohne die werte eigene Haut zu Markt zu tragen, seine Wolle tragenden Schäfchen ins Trockene zu bringen. Sie wird die Erfahrung nicht so leicht vergessen“ (BA: NL Schiffer  4).

Mit besonderer Aufmerksamkeit wurden die Kommunisten in Bayern überwacht, wo die KPD seit der Rätezeit in München verboten war. Jeder Versuch einer Ersatzgründung erregte Mißtrauen. Ähnlich verhielt sich der preußische Staatskommissar für die Überwachung von Sicherheit und Ordnung, der die Kommunisten für verfassungsfeindlich erklärte, da sie im Gegensatz zu USPD und DNVP, die eine Systemänderung auf legalem Wege anstrebten, den Parlamentarismus ablehne; daher seien die Kommunisten, wie er meinte, mit allen Mitteln zu bekämpfen181. Das dies in Bayern geschah, bezeugt ein Schreiben der kommunistischen Ortsgruppe von Nürnberg, die sich über die Behinderungen beschwerte, denen sie bei der Vorbereitung der Reichstagswahl ausgesetzt war182. Im Ruhrgebiet, dessen politische Situation wesentlich gefährlicher war, konnte dagegen der Wahlkampf ohne äußere Eingriffe verlaufen183. Weil eine Beunruhigung der Bevölkerung vor den Wahlen vermieden werden sollte, wandte sich sogar der preußische Staatskommissar für Sicherheit und Ordnung gegen den Einsatz von Militär in Mecklenburg, wo die Großgrundbesitzer einen kommunistischen Aufstand befürchteten. Staatskommissar Weismann schlug stattdessen vor, zu Demonstrationszwecken Kavalleriepatrouillen zu entsenden184.

181

Dok. Nr. 22.

182

Dok. Nr. 101.

183

Dok. Nr. 98.

184

Dok. Nr. 123.

Daß allerdings auch Unruhen provoziert werden könnten mit dem Ziel, die östlichen Grenzen von Truppen zu entblößen, ging aus einem Gespräch des sozialdemokratischen Abgeordneten Sidow mit einem bolschewistischen Emissär hervor, der versuchte, den Abgeordneten zur Zusammenarbeit mit der Sowjetregierung zu bewegen, damit die Reichsregierung gestürzt werden könne; die Sowjetregierung werde sonst nach einem Sieg über Polen ihre[XLVII] Truppen in Deutschland einmarschieren lassen. Die Behauptung, daß die baltischen Randstaaten bereits unterminiert seien, schien sich durch Berichte Staatskommissars Weismanns zu bestätigen185.

185

Dok. Nr. 128; 130.

Solchen Gefahren versuchte die Reichswehr, mit Befriedungsaktionen zuvorzukommen, die ihr nach ihrer Meinung allerdings nicht immer voll gelangen. So berichtete der Reichswehrminister, daß Ruhe und Ordnung in Sachsen nur teilweise habe wiederhergestellt werden können. Die Aktionen des Max Hölz seien zwar unterbunden worden, doch in den Händen der Linksextremisten befänden sich noch zahlreiche Waffen. Auch die Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände sei nicht vollständig gelungen, da noch in vielen Orten die Vollzugsräte bestünden und die sächsische Landesregierung die Reichswehr sogar aufgefordert habe, mit diesen Institutionen zusammenzuarbeiten. Der Minister meinte, daß diese Vollzugsräte die Staatsautorität erschütterten, und forderte daher, daß von der sächsischen Regierung zu verlangen sei, daß sie sich dieser Räte mit Hilfe der Reichswehr entledige. Doch das sächsische Kabinett vertrat die Ansicht, die Vollzugsräte bedeuteten keine Gefahr, solange sie sich keiner Amtsanmaßung schuldig machten. Eher sei zu befürchten, daß bewaffnetes Vorgehen des Militärs die Reichstagswahlen gefährde186.

186

Dok. Nr. 82; 120.

Die Landesregierung von Altenburg sah sich zu einem scharfen Protest veranlaßt, als das – nach ihrer Meinung von rechtsradikalen Gruppen verbreitete – Gerücht in Umlauf kam, in diesem thüringischen Land werde ein kommunistischer Aufstand vorbereitet. Die Landesregierung vermutete dahinter die Absicht, das Land militärisch besetzen zu lassen, um eine Brücke von Bayern zu verfassungsfeindlichen Gebieten Norddeutschlands zu schlagen, damit bei einem neuen Rechtsputsch Berlin von den verfassungstreuen Landesteilen abgeschnitten sei. Den Reichspräsidenten bat die altenburgische Regierung daher um Schutz vor „reaktionären Desperados“187.

187

Dok. Nr. 71.

Eine entgegengesetzte Entwicklung nahm das politische Geschehen in Gotha. Dort hatte die aus extremen Linkspolitikern gebildete Landesregierung nach dem Kapp-Putsch Vollzugsräte eingesetzt und verfassungstreue Reichswehrtruppen bekämpft. Die demokratischen Parteien von der SPD bis hin zur DVP sagten daraufhin die Arbeit im Landtag auf und wandten sich um Hilfe an die Reichsregierung. Auf Antrag Minister Kochs wurde ein Reichskommissar eingesetzt, der vorzeitig Neuwahlen ausschrieb und die verfassungsmäßige Ordnung des Landes wiederherstellte188.

188

Dok. Nr. 7.

Die politische Situation in Deutschland bestärkte das Kabinett in der Meinung, Gefahr drohe vor allem von Linksextremisten. In einem Bericht über die politische Lage, der den diplomatischen Vertretungen im Ausland zuging, betonte sie, nach den Erfahrungen mit Hölz wolle die KPD Einzelaktionen vermeiden und sich mit Hilfe Lenins und Radeks auf einen großen Aufstand vorbereiten. Zum Beweis berief sich die Regierung auf Spitzelberichte, die[XLVIII] allerdings gefälscht sein dürften, und auf aufgefangene Funksprüche. Die befürchtete Zusammenarbeit der Kommunisten mit den Bolschewisten, ließ es der Regierung richtig erscheinen, über ausreichende Bewaffnung zu verfügen. Diese Notwendigkeit solle im Ausland mit dem Zusatz betont werden, daß hierüber im Inland nichts verlauten dürfe, da die kommunistische Bedrohung andernfalls im Wahlkampf von den rechtsradikalen Gruppen propagandistisch gegen das Kabinett Müller ausgenutzt werde189.

189

Dok. Nr. 100.

Reichswehrminister Geßler hatte bald erkannt, daß die Konfrontation von Militär und Zivilbevölkerung in den Wochen nach dem Kapp-Putsch eine unüberwindbare Kluft aufreißen würde. Daher stellte er den Antrag, daß die vollziehende Gewalt nach Artikel 48 der Verfassung nicht auf die Militärbefehlshaber übergehen solle, sondern besser bei der Zivilverwaltung bleibe, so daß die Reichswehr keine politische Verantwortung trage. In der Ansicht, daß das Militär lediglich die Polizei bei Exekutivmaßnahmen zu unterstützen habe, stimmte das Kabinett dem Reichswehrminister zu. Allerdings sollte ein Hilfsersuchen von Länderregierungen oder Reichskommissaren bei der Reichswehr keinen Eingriff in die militärische Befehlsgewalt bedeuten. Doch stellte sich in der Praxis heraus, daß die Reichswehr nicht mehr allein bestimmen konnte, mit welchen Mitteln sie die angestrebten Ziele erreichen könne. Bezeichnend hierfür war, daß vor größeren Aktionen neben dem federführenden Reichswehrminister auch der Reichsinnenminister unterrichtet werden mußte und daß der Reichspräsident über den Reichskanzler bei Anwendung des Artikels 48 zu orientieren war190. Daß diese Prinzipien dauerhaft waren, zeigt sich daran, daß in der Folgezeit die Reichswehr bei Unruhen nur noch selten eingesetzt wurde.

190

Dok. Nr. 14.

Spannungsfrei ließ sich die Änderung der Ausnahmevorschriften nicht erreichen. Oberpräsident Würmeling aus Münster, der auch als Reichskommissar fungierte, wandte sich gegen die Aufhebung der Standgerichte im Ruhrgebiet, da hierdurch die Waffenablieferung behindert und damit der Truppenvormarsch eingeschränkt werde191. Ferner sah der Kanzler Anlaß bei seiner Besprechung mit den Chefs der süddeutschen Länder, diese nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß die Ausnahmevorschriften während der Wahlzeit aufzuheben oder zumindest Presse- und Versammlungsfreiheit wiederherzustellen seien. Da Bayern seine Ausnahmevorschriften beizubehalten wünschte, wurde ein Einverständnis in der Form erzielt, daß wenigstens Wahlveranstaltungen ungehindert stattfinden dürften192.

191

Dok. Nr. 27.

192

Dok. Nr. 91, P. 3.

Wie hier sich das Länderinteresse durchzusetzen vermocht hatte, so wurde auch in anderen Fällen auf die besonderen Zustände und die Aussagen der zuständigen Stellen Rücksicht genommen. Der Polizeipräsident von Berlin konnte sich daher für die Aufhebung des Ausnahmezustandes in seiner Stadt einsetzen193; und Innenminister Koch war nur begrenzte Zeit imstande, den[XLIX] Ausnahmezustand für das Ruhrgebiet beizubehalten, als der Reichspräsident und das Preußische Staatsministerium dessen Beendigung verlangten194.

193

Dok. Nr. 40.

194

Dok. Nr. 125, P. 2; 131, P. 2; 135, P. 2.

Zur Überwachung des Ausnahmezustands hielt es das Kabinett für erforderlich, Regierungskommissare einzusetzen, deren Ernennung der Innenminister mit dem Kanzler vereinbaren sollte195. Minister sollten in dieses Amt nach Möglichkeit nicht eingesetzt werden, da sie von ihren Parlamenten abhängig waren und dadurch in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt erschienen196. Aber dann erwies es sich, daß die politische Tätigkeit der Regierungskommissare unter ihren unzureichenden Befugnissen litten, da sie keine Möglichkeit besaßen, sich effektiv in die Untersuchung politischer Vorgänge einzuschalten197. Jeder Versuch in dieser Richtung wurde von den Verwaltungsbehörden als Störung der eigenen Tätigkeit disqualifiziert. Eine ähnliche Einstellung zeigten die Länder gegenüber dem von der Reichsregierung berufenen Kommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung. Nicht nur die süddeutschen Länder widersprachen diesem Amt, da sie einen Eingriff in die föderative Reichsstruktur befürchteten, sondern auch der Vertreter Preußens im Reichsrat Ministerialdirektor Nobis polemisierte gegen diese Institution, obwohl zwischen Reich und Preußen Absprachen über die Arbeitsweise des Kommissars getroffen worden waren198.

195

Die Einsetzung der Regierungskommissare im Ruhrgebiet löste einen Protest des Zentrums aus, da nur Mitglieder der SPD ernannt worden waren, Dok. Nr. 58.

196

Dok. Nr. 14.

197

Exemplarisch erscheint in diesem Zusammenhang die Situation des ostpreußischen Regierungskommissars Borowski, Dok. Nr. 125, P. 2; 131, P. 7.

198

Dok. Nr. 24, P. 16; 88; 91, P. 2.

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