2.14.1 (mu11p): Ausnahmevorschriften auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung.

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Ausnahmevorschriften auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung2.

2

In Ergänzung der VO des RPräs. zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vom 13.1.20 (RGBl. S. 207  f.) war am 19.3.20 vom RWeM (gez. Seeckt) und vom RJM in Vertretung des RPräs. eine weitere VO herausgegeben worden, die insbesondere das Reichswehrgruppenkommando 1 betraf und durch die die Einrichtung außerordentlicher Gerichte und Standgerichte angeordnet worden war (RGBl. S. 467  ff.). Eine ähnliche VO war bereits am 13.3.20 für den Bereich der Reichswehrbrigade 11 erlassen worden (RGBl. S. 470  ff.). Danach bestand der einfache Ausnahmezustand am 25.3.20 in allen Reichsteilen außer Sachsen, Baden, Württemberg und Bayern, ein verschärfter Ausnahmezustand in Ostpreußen, großen Teilen Pommerns, im RegBez. Schneidemühl, Brandenburg; dazu mit Standgerichten in den RegBez. Düsseldorf, Arnsberg, Münster und in Westthüringen; Vollmachten zur Ausrufung des verschärften Ausnahmezustands bestanden für Schlesien, Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Lübeck, Oldenburg, Sachsen (Freistaat und Provinz), Ostthüringen, Anhalt, Teilen Braunschweigs und für den RegBez. Minden. Besonderer Ausnahmezustand herrschte in der Kreishauptmannschaft Leipzig und in Bayern (R 43 I /2699 , Bl. 131 f.). Am 25. 3. ordnete der RPräs. gegenüber den Reichswehrgruppenkommandos 1 und 2 an, die Vollmachten für den verschärften Ausnahmezustand aufzuheben, jedoch sollten die Standgerichte in den entsprechenden Bezirken bestehen bleiben (R 43 I /2699 , Bl. 136). Am 4.4.20 bestand keinerlei Ausnahmevorschrift in den Thüringischen Staaten, Württemberg, Baden und Teilen von Sachsen; Sonderbestimmungen gab es weiterhin für Bayern und Leipzig; verschärfter Ausnahmezustand herrschte in Düsseldorf, Arnsberg, Münster und Erfurt. In allen anderen Reichsteilen galt der einfache Ausnahmezustand.

In Verfolg eines Antrags des Reichswehrministers Dr. Geßler und einer Vorbesprechung zwischen ihm, dem Reichskanzler und dem Reichsminister des Innern3 wurde besprochen und mit Genehmigung des Herrn Reichspräsidenten beschlossen, künftig Vorschriften auf Grund des Artikel 48 der Reichsverfassung, wenn die Notwendigkeit zu ihrem Erlaß gegeben ist, möglichst so zu gestalten, daß die vollziehende Gewalt nicht auf den Militärbefehlshaber übergeht, sondern bei den Zivilbehörden verbleibt. Dadurch soll erreicht werden, daß die militärischen Behörden von der politischen Verantwortung freigehalten werden. Militär soll nur herangezogen werden, wenn dies zur Unterstützung der Polizeiorgane notwendig wird.

3

Nicht ermittelt.

Auf Grund vorliegender Entwürfe der Reichskanzlei und des Reichsjustizministeriums wurde der anliegende Text festgestellt4.

4

Es handelt sich um die VO des RPräs. vom 11.4.20 (RGBl. S. 479  f.).

Im einzelnen wurde beschlossen:

[32] 1. Der Reichsminister des Innern wird sich vor der Ernennung von Regierungskommissaren mit dem Reichskanzler5 ins Einvernehmen setzen (siehe 5).

5

Danach ausgestrichen: „und dem RWeM“, so auch in der ersten Fassung der Niederschrift. Der RWeM hatte am 24.4.20 dazu mitteilen lassen, er habe „bei der Besprechung seinerzeit nicht in Anregung gebracht, daß er an der Ernennung der RegKom. beteiligt wird. Er steht auf dem Standpunkt, daß die militärischen Dienststellen nicht in der Lage sind, eine Beurteilung von Zivilbeamten in Bezug auf ihre Geeignetheit für ein ihnen vom Ministerium des Innern zu übertragendes Amt abgeben zu können. Dies sei ausschließlich Sache der zuständigen zivilen Dienststellen. – Die Befürchtung liege nahe, daß die Beteiligung des RWeM entweder eine reine Formalsache würde oder daß es bei Verschiedenheiten in der Beurteilung der in Frage kommenden Zivilbeamten zu unliebsamen Erörterungen zwischen militärischen und zivilen Dienststellen kommen würde.“ Unter diesen Umständen bat der RWeM sein Ressort an der Ernennung der RegKom. nicht zu beteiligen (R 43 I /2699 , Bl. 177).

2. Unterstaatssekretär Göhre übernimmt es, sofort eine Äußerung des Preußischen Staatsministeriums darüber herbeizuführen, in welchen preußischen Provinzen die bestehenden Ausnahmevorschriften nach der Auffassung des Staatsministeriums durch die anliegende Verordnung ersetzt werden <können und welche Persönlichkeiten als Regierungskommissare von Preußen vorgeschlagen werden, insbesondere ob die Oberpräsidenten vorgeschlagen werden sollen>6.

6

Der Text der ersten Niederschrift weist eine stilistisch andere Fassung auf; für „können“ dort „müssen“., R 43 I /2699 , Bl. 140 f.

3. Der Reichsminister des Innern wird die vorbereitete Verordnung den Landesregierungen mitteilen – für Thüringen dem Staatsrat – und ihnen empfehlen, falls Ausnahmevorschriften in ihrem Gebiet notwendig werden, bei dem Reichspräsidenten durch den Reichsminister des Innern den Erlaß der anliegenden Verordnung zu beantragen. Soweit in den Ländern zur Zeit Ausnahmevorschriften bestehen, wird er ersuchen, sich zur Frage der Umwandlung zu äußern und die Persönlichkeiten zu bezeichnen, die gegebenenfalls als Regierungskommissare vorgeschlagen werden sollen. Seitens der Reichskanzlei wurde betont, daß in der Regel es sich nicht empfehlen werde, den Ministerpräsidenten oder einen Minister des betroffenen Landes zum Regierungskommissar zu machen, weil sich daraus eine starke Abhängigkeit auch von dem Landesparlament und eine geringere Bewegungsfreiheit des Regierungskommissars praktisch ergeben könne7.

7

Auch hier liegt in der ersten Niederschrift nur eine stilistisch andere Fassung vor. Der RIM bat am 10. 4. den UStSRkei, die Reichswehrkommandeure wegen der Ernennung der RegKom. zu unterrichten. „Ich selbst habe entsprechend der in der Chefbesprechung erfolgten Vereinbarung zunächst den Entwurf der VO den Landesregierungen sowie für Thüringen dem Staatsrat in Weimar zur Stellungnahme telegrafisch mitgeteilt und gleichzeitig ersucht, die Persönlichkeit zu bezeichnen, die als RegKom. in Frage kommt. Sobald die Antworten der Landesregierungen vorliegen und die VO erlassen ist, werde ich die Landesregierungen wie auch die RegKom. bei ihrer Ernennung mit entsprechender Anweisung versehen und von diesen dorthin Mitteilung machen“ (R 43 I /2699 , Bl. 158). Zu RegKom. wurden ernannt die OPräs. in Koblenz, Münster, Stettin, Breslau, Kassel, Hannover, Magdeburg, Kiel und Brandenburg, Stadtrat Borowski für Ostpreußen, der Berliner PolizeiPräs. für den Landespolizeibezirk Berlin, Senatssyndikus Lange für Lübeck; Bürgermeister Wiehe für Schaumburg-Lippe; RegR Dethloff für Mecklenburg-Schwerin; RegPräs. Mühlenbein für Anhalt; Senator Hense für Hamburg (RIM an die RM am 12. bzw. 15.4.20; R 43 I /2699 , Bl. 161,166).

4. Es bestand Einverständnis, daß im Falle eines Ersuchens des Regierungskommissars um militärische Unterstützung (§ 3 Abs. 2) das Ersuchen[33] nicht als bindender Befehl zu betrachten ist, sondern daß die Befehlsverhältnisse in der Reichswehr unberührt bleiben8. Bei größeren militärischen Aktionen soll eine besondere Entschließung des Reichspräsidenten entweder durch den Regierungskommissar über den Reichsminister des Innern, oder durch die angegangene militärische Stelle über den Reichswehrminister eingeholt werden. In diesem Sinne soll der Reichswehrminister eine allgemeine Anweisung an die in Betracht kommenden militärischen Stellen ergehen lassen, um deren vorherige Vorlegung der Reichskanzler bittet. Örtliche Hilfsleistungen sollen jedoch von dem Wehrkreiskommando oder bei Gefahr im Verzuge von den unteren Befehlsstellen selbständig auf den Antrag des Regierungskommissars bewilligt werden können. Einen Anhalt bieten die in Preußen bestehenden Vorschriften über den Waffengebrauch; diese werden aber insoweit durch die Verordnung eingeschränkt, als ein Übergang der gesamten vollziehenden Gewalt auf das Militär nicht stattfindet.

8

Auf Grund dieser Feststellung wollte der RWeM im April 1920 eine Änderung der Vorschrift über den Waffengebrauch des Militärs und seine Mitwirkung zur Unterdrückung innerer Unruhen vom 19.3.14 in der Form herbeiführen, daß es in Teil II Ziffer 3 Abs. 1 dieser Vorschrift heißen sollte: „Über die zur Erreichung dieses Zweckes erforderlichen Maßnahmen hat allein der militärische Befehlshaber unter eigener Verantwortung zu bestimmen.“ Dazu bemerkte aber MinR Brecht: „Dieser Satz geht zu weit; denn wenn der Militärbefehlshaber gewisse Operationen für nötig hält, so muß wieder die Zivilbehörde bestimmen, ob sie dann noch auf das militärische Einschreiten Gewicht legt.“ Im Schreiben vom 6. 5. an den RWeM meinte dann der UStSRkei zu dessen Formulierung: „Nach der Fassung kann der Satz aber zu der Auslegung führen, daß der Militärbefehlshaber, nachdem er einmal um Unterstützung ersucht ist, jede nähere Auseinandersetzung darüber, welche Maßnahmen er militärisch für erforderlich hält, ablehnen könnte, obwohl die Kenntnis hiervon für die Entscheidung der Zivilbehörde, ob sie die militärische Hilfe in Anspruch nehmen oder weiter in Anspruch nehmen will, naturgemäß unter Umständen ausschlaggebend sein wird. Ich würde, um diesen unbeabsichtigten Nebensinn zu vermeiden, etwa folgende Fassung vorziehen: ‚Welche Maßnahmen zur Erreichung dieses Zweckes militärisch erforderlich sind, unterliegt allein der Beurteilung des Militärbefehlshabers‘“ (R 43 I /2699 , Bl. 179 f.). Zur weiteren Behandlung des militärischen Einsatzes war ferner vom RWeM verfügt worden: „Glaubt das um militärische Unterstützung angegangene Wehrkreiskommando oder ein örtlicher militärischer Befehlshaber, die nachgesuchte Hilfeleistung aus Erwägungen militärischer Art nicht gewähren zu dürfen, ist sofortige telegraphische Entscheidung des RWeMin. bzw. des Wehrkreiskommandos herbeizuführen“ (R 43 I /2699 , Bl. 181).

5. Der Herr Reichspräsident sprach den Wunsch aus, daß künftig bei Verschärfung der Ausnahmevorschriften von der Zulassung von Standgerichten zunächst möglichst abgesehen wird. Im allgemeinen soll vielmehr die für die verschärfte Form vorbereitete Verordnung ohne den auf die Standgerichte bezüglichen Teil erlassen werden. Die nähere Entscheidung bleibt im Einzelfall vorbehalten9.

9

Zur Frage der Standgerichte s. Dok. Nr. 60, P. 10.

6.10 Die Zuständigkeit zur Vorbereitung und weiteren Bearbeitung von Vorschriften auf Grund des Art. 48 der Reichsverfassung geht von jetzt an auf das Reichsministerium des Innern über. Soweit jedoch Maßnahmen erlassen werden, in denen die vollziehende Gewalt den Militärbehörden übertragen wird, ist für alle Fragen der Durchführung der Maßnahmen das Reichswehrministerium federführend.

10

Dieser Punkt ist der ersten Niederschrift handschriftlich als Konzept angefügt., R 43 I /2699 , Bl. 140 f., hier: Bl. 141

[34] Der Reichspräsident ist rechtzeitig vor dem Antrag auf Erlaß von Ausnahmevorschriften über die Lage zu unterrichten und auch nach dem Erlaß dauernd über die Lage genau auf dem laufenden zu halten. Er trifft die näheren Anordnungen hierüber.

Das federführende Ministerium wird sich in Fragen von grundsätzlicher politischer Bedeutung mit dem Reichskanzler ins Einvernehmen setzen, die Vorschläge an den Reichspräsidenten durch den Reichskanzler leiten, und ihn oder seinen Vertreter auch zu den Vorträgen bei dem Reichspräsidenten zuziehen. Ebenso wird das Reichsministerium des Innern in weitem Maße das Reichswehrministerium beteiligen und umgekehrt11.

11

Unter Bezugnahme auf die VO des RPräs. vom 11.4.20 fragte der StKom. für öffentliche Ordnung am 16. 6. beim StSRkei an, ob auch für die Zukunft vorgesehen sei, „die bei Verhängung des Ausnahmezustandes zu treffenden Maßnahmen in einer Normalverordnung niederzulegen“ (R 43 I /2699 , Bl. 312). Darauf antwortete MinR Brecht am 21.6.20: „Diese VO würde auch für künftig etwa notwendig werdende Fälle als Grundlage dienen. – Die Federführung innerhalb des RMin. liegt jetzt beim RIMin. Dort soll, soweit hier bekannt, auf Grund der im Ruhrgebiet gewonnenen Erfahrungen auch ein neuer Text für verschärfende Vorschriften (Ausnahmegerichte usw.) in Verbindung mit den anderen Ressorts vorbereitet werden“ (R 43 I /2699 , Bl. 319).

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