1.233.2 (mu22p): 2. Politische Lage.

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2. Politische Lage2.

2

Der Tagesordnungspunkt ist bereits abgedruckt bei R. Morsey, Neue Quellen zur Vorgeschichte der Reichskanzlerschaft Brünings. S. 222 ff.

Der Reichskanzler teilte mit, daß drei Fraktionen, nämlich das Zentrum, die Deutsche Volkspartei und die Demokraten das ihnen unterbreitete Gesamtprogramm zur Regelung der Finanzfragen ohne Vorbehalt angenommen hätten und daß die Bayerische Volkspartei dieses Gesamtprogramm rundweg abgelehnt habe2a. Die Sozialdemokratische Fraktion habe erklärt, daß sie das Programm der Reichsregierung annehme, das zwischen den Parteien behandelte Kompromißprogramm dagegen ablehne3. Nach diesen Beschlüssen der Fraktionen gebe es für die Regierung nur noch zwei mögliche Wege:

2a

Hiermit ist das Programm gemeint, das die Fraktionsführer erarbeitet und mit der RReg. besprochen hatten (siehe Anlage II zu Dok. Nr. 487).

3

Siehe Dok. Nr. 462 und Anlage II zu Dok. Nr. 487.

1. Die Regierung könne ihre Deckungsvorlagen im Steuerausschuß weiter betreiben. Dieser Weg sei nur dann gangbar, wenn alle Minister im Kabinett blieben. Von einer Anbahnung weiterer Besprechungen mit den Fraktionen verspreche er sich keinen Erfolg. An eine Durchsetzung der Deckungsvorlagen mit Hilfe des Artikel 48 der Reichsverfassung sei nur zu denken, wenn alle Reichsminister im Amte blieben.

2. Wenn der erste Weg nicht gangbar erscheine, bleibe nur der Rücktritt der Reichsregierung.

Der Reichsminister der Finanzen erklärte, daß er den ersten Weg nicht für gangbar halte. Die Durchsetzung der Deckungsvorlagen im Steuerausschuß werde auf ungeheuere Schwierigkeiten stoßen. Die Deutsche Volkspartei werde sich an den Verhandlungen nur dann beteiligen, wenn zuvor die Annahme der Sicherung der Arbeitslosenversicherung und das Steuersenkungs- und Ersparnisprogramm im Sinne der Kompromißvorschläge gewährleistet sei. Auch die Anwendung des Artikel 48 erscheine unmöglich angesichts der tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Koalitionsparteien. Es müsse leider festgestellt[1609] werden, daß für die Regierung eine ausreichende Basis im Reichstage nicht mehr vorhanden sei.

Der Reichsminister der Justiz sprach sich dahin aus, daß auch er keine Möglichkeit sehe, auf Grund der Regierungsvorlage im Reichstag zu einem Ergebnis zu kommen.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft war der Meinung, daß die Reichsregierung nicht ohne weiteres die Waffen strecken dürfe. Die Reichsregierung müsse das, was sie wolle, auf eine kurze Formel bringen und den Reichstag entschlossen vor die Frage der Annahme oder Ablehnung dieser Forderungen stellen. Jedenfalls dürfe die Regierung nicht kampflos das Feld räumen.

Der Reichspostminister trat ebenfalls dafür ein, die Entscheidung über den Fortbestand des Reichskabinetts im offenen Kampf mit dem Parlament zu suchen. Er hielt es nicht für ausgeschlossen, daß die Durchbringung der Deckungsvorlagen mit wechselnden Mehrheiten gelingen werde.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete bat, den Zentrumsministern vor einer Beschlußfassung im Kabinett nochmals Gelegenheit zu geben, mit dem Fraktionsführer Dr. Brüning zu verhandeln und zu diesem Zweck die Sitzung auf eine Stunde zu vertagen.

Der Reichsminister des Innern setzte sich dafür ein, den Kampf mit den Parteien fortzusetzen, da die Reichsregierung aus staatspolitischen Gründen eine Regierungskrise im jetzigen Zeitpunkte im Interesse der deutschen Wirtschaft kaum verantworten könne. Er hielt ein Kompromiß nach der Richtung für denkbar, daß die Deckungsvorlagen jetzt angenommen würden und daß das Problem der Arbeitslosenversicherung nach dem Vorschlage der Reichsregierung erledigt werde. Er glaube nicht, daß die Deutsche Volkspartei es wagen werde, die Regierungsvorlage zu Fall zu bringen. Darum müsse die Reichsregierung mit ihren Vorlagen vor den Reichstag treten und es darauf ankommen lassen, in offener Feldschlacht zu fallen. Das Reichskabinett, das bisher stets zusammengehalten habe, müsse auch jetzt eine Notgemeinschaft bilden.

Der Reichsminister der Justiz schloß sich dem Antrage des Reichsministers für die besetzten Gebiete auf eine kurze Vertagung der Weiterberatung an.

Der Reichskanzler erklärte sich zu einer Vertagung bereit, bemerkte aber, daß es nicht angehen werde, die endgültige Entscheidung des Kabinetts über den heutigen Tag hinauszuzögern. Entweder stehe die Regierung zu ihrer ursprünglichen Vorlage und versuche sie durchzubringen, und zwar zunächst das Deckungsprogramm, oder die Regierung erkläre ihren Rücktritt.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete bat noch um Aufklärung darüber, ob Näheres darüber bekannt sei, daß der Herr Reichspräsident dem gegenwärtigen Kabinett in seiner Gesamtheit die Ermächtigung zur Durchbringung des Deckungsprogramms mit Hilfe des Artikel 48 der Reichsverfassung geben werde.

Staatssekretär Dr. Meissner erwiderte, daß der Herr Reichspräsident mit einer Meinungsäußerung zur Sache im gegenwärtigen Stadium der Dinge zurückhalten und seine Entscheidung erst treffen werde, wenn vorher das Reichskabinett zu festen Beschlüssen gelangt sei.

[1610] Die Sitzung wurde daraufhin auf 7 Uhr abends vertagt4.

4

In der Besprechungspause fand eine Sitzung der SPD-Fraktion statt, in der der Vermittlungsvorschlag Brünings abgelehnt wurde. Siehe dazu J. Leber, Ein Mann geht seinen Weg. S. 233; W. Keil, Erlebnisse eines Sozialdemokraten, S. 370 f.

Nach Wiederaufnahme der Verhandlungen um 7 Uhr wiederholte der Reichskanzler die Frage an das Reichskabinett, ob das Kabinett die Regierungsvorlage im Reichstag weiter vertreten oder ob die Regierung noch heute zurücktreten wolle.

Der Reichsminister der Finanzen erwiderte, daß sich seine in der Vorsitzung geäußerte Auffassung inzwischen nicht geändert habe. Der Vorschlag, die Deckungsvorlagen im Steuerausschuß verabschieden zu lassen, werde von der Deutschen Volkspartei nicht unterstützt. Er halte es daher für richtiger, daß das Reichskabinett zurücktrete. Wenn dagegen die Mehrheit des Reichskabinetts der Meinung sein sollte, daß die Deckungsvorlagen im Steuerausschuß vertreten werden müßten, so müsse er für seine Person von seinem Amte zurücktreten. Zu diesem Entschluß werde er sich um so mehr veranlaßt sehen, als die Koalitionsparteien ihn bei der soeben erfolgten Abstimmung über den Nachtragshaushalt des Reichsarbeitsministeriums im Stich gelassen hätten, und zwar trotz der eindringlichen Forderung, die er in der Vormittagssitzung des Kabinetts vertreten habe5.

5

Siehe Dok. Nr. 488, P. 1. Zur Abstimmung siehe RT-Bd. 427, S. 4693 .

Der Reichskanzler erklärte, daß unter diesen Umständen die Voraussetzungen, auf denen sein erster Vorschlag aufgebaut sei, in Wegfall gekommen sei[en] und daß er seinen ersten Vorschlag somit als erledigt ansehe. Er nehme daher an, daß das Reichskabinett für den Demissionsbeschluß sei. Diesen Beschluß werde er unverzüglich dem Herrn Reichspräsidenten unterbreiten.

Der Reichskanzler gedachte sodann mit herzlichen Worten der hingebenden Zusammenarbeit des Reichskabinetts in einer an schwierigsten Aufgaben so reichen Zeit. Er rechne die Arbeit in diesem Kabinett zu den angenehmsten Erinnerungen seines Lebens. Das Reichskabinett habe in schwierigsten Situationen mehr als einmal bewiesen, daß es sich zu einigen verstehe, auch wenn die Fraktionen des Reichstags eine Einigung nicht erreicht hätten.

Der Reichsminister der Justiz der Reichsminister der Finanzen und der Reichspostminister erwiderten, zugleich im Namen ihrer politischen Freunde, mit Worten aufrichtigen Dankes für die vorbildliche Art der Amtsführung des Reichskanzlers und versicherten, daß sie sich der unter Führung des Reichskanzlers geleisteten Arbeit stets dankbar erinnern würden.

Der Reichswehrminister schloß sich diesem Danke an und fügte hinzu, daß die gesamte Wehrmacht dem Reichskanzler wärmsten Dank für die vorbildliche Art und Weise ausspreche, mit der er die Interessen der Wehrmacht gefördert habe. Seine Tätigkeit zu Gunsten der Wehrmacht werde nie vergessen werden.

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