1.155 (mu22p): Nr. 411 Staatssekretär Pünder an den Reichskanzler. Den Haag, 9. Januar 1930

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Nr. 411
Staatssekretär Pünder an den Reichskanzler. Den Haag, 9. Januar 1930

R 43 I /480 , Bl. 145-148, hier: Bl. 145-148

[Betrifft: Verlauf der zweiten Haager Konferenz.]

Hochgeehrter Herr Reichskanzler!

Es tut mir außerordentlich leid, daß ich im Drange der laufenden Tagesgeschäfte noch nicht die Muße gefunden hatte, Ihnen einen Schriftbericht zu senden. Aber bis gestern war die Konferenzlage auch noch so ungeklärt, daß eine zusammenfassende schriftliche Stellungnahme kaum möglich gewesen wäre1. Inzwischen bemühe ich mich ja, in möglichst eingehenden Tagestelegrammen über die laufende Konferenzarbeit sorgfältig und eingehend zu berichten2. Daß die Telegramme ein bißchen spät eintreffen, ist ja natürlich bedauerlich. Aber bei ihrer Länge und der Notwendigkeit des Chiffrierens und Dechiffrierens scheint ein Zwischenraum von zehn bis zwölf Stunden kaum zu vermeiden zu sein. Daneben liegen ja aber auch die Nachrichten des WTB und – cum grano salis – die Zeitungsberichte vor3. Auch diese beiden Informationsstellen[1347] werden aus demselben Kanal der Delegationsleitung gespeist. Jedenfalls glaube ich sagen zu dürfen, daß wir alle, namentlich auch die Herren Delegierten, im vorliegenden Falle uns wirklich ganz besondere Mühe geben, die deutschen Dienststellen und die deutsche Öffentlichkeit dauernd auf dem laufenden zu halten. Herr v. Hagenow hat sich, wie ich höre, zwar heute morgen etwas mißmutig über den späten Eingang meiner Berichtstelegramme geäußert, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie, sehr verehrter Herr Reichskanzler, der Sie ja aus früheren Erfahrungen den Betrieb auf solchen Konferenzen gut kennen, sich solcher Kritik anschließen.

1

Zu den Verhandlungen während der zweiten Haager Konferenz siehe Schultheß 1930, S. 419 ff. sowie die Darstellung des Reichsarchivs über die Entstehung des Young-Plans, Teil III (BA: Nachlaß Pantlen  8).

2

Die Telegramme Pünders befinden sich gesammelt in R 43 I /303 , 305 und 480.

3

WTB-Meldungen über die zweite Haager Konferenz befinden sich gesammelt in R 43 I /300  und 479.

Sodann darf ich etwas Selbstverständliches feststellen. Die Zusammenarbeit in der Delegation, namentlich auch unter den Herren Delegierten, klappt ausgezeichnet. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß ich mir persönlich als Vertreter der Reichskanzlei nach dieser Richtung hin auch besondere Mühe gebe. Herr Minister Curtius legt solchen Dingen, vor allem der Veranstaltung laufender Delegationssitzungen im kleinen Kreise, auf Grund seiner früheren Berufstätigkeit erfreulicherweise gleichfalls besondere Bedeutung bei. Überhaupt muß ich hervorheben, daß, soweit mir die Äußerung eines Urteils hierüber überhaupt zusteht, Herr Minister Curtius einen ausgezeichneten Delegationsführer abgibt. Im Gegensatz zu seinem von uns allen hochverehrten Amtsvorgänger liegen ihm diese komplizierten reparationspolitischen Filigranarbeiten durchaus. Außerdem vertritt er als Delegationsführer die deutschen Belange mit großer Würde, Umsicht und Takt. Auch sonst hat der Umstand, daß von den vier deutschen Delegationsposten nach der Haager Konferenz drei neu besetzt werden mußten, nach meiner pflichtmäßigen Auffassung uns keinerlei Nachteil gebracht. Herr Reichsminister Schmidt sagt nicht viel, aber was er sagt, atmet den Ausdruck vollster Zuverlässigkeit und Loyalität und wirkt daher auf die Gegner sehr. Ganz vor allem muß ich aber unseren neuen Herrn Reichsfinanzminister loben, der sich mit seinem rheinischen Temperament, seiner Frische und seiner ganz erstaunlichen Beschlagenheit bereits geradezu zum Liebling der ganzen Konferenz entwickelt hat. Es wird allseitig als fabelhaft anerkannt, mit welcher Schnelligkeit und welcher Gründlichkeit sich Herr Minister Moldenhauer in seinen schwierigen Part in der kurzen Zeit eingearbeitet hat. Wenn die Konferenz noch zu einem guten Ende kommen sollte, wird dies Deutschland ganz wesentlich ihm zu verdanken haben.

Was die sachliche Seite der Konferenzarbeit angeht, so kann ich mich zunächst auf meine laufende telegraphische Berichterstattung beziehen, in der ich inzwischen alle Punkte der gegnerischen ergänzenden Forderungen ohne irgend eine Ausnahme behandelt habe. Die meisten sind mittlerweile erledigt bzw. stehen auf Grund inzwischen gefundener Komitee-Formulierungen unmittelbar vor der Erledigung, was nicht einfach war. Diesbezüglich darf ich das bekannte Verlangen nach einer feierlichen deutschen Annahmeerklärung4,[1348] ferner die Frage der Voraussetzungen für ein deutsches Moratorium5, die Umkrempelung des negativen Pfandrechts6 und den Angriff gegen die Tarifhoheit erwähnen7. Zwei Punkte werden sich schließlich als einstweilen noch ungelöste und schwierige Kardinalpunkte herausheben, d. s. die Fragen des Zahlungstermins und der Nachzahlung der moratoriumsgestundeten Beträge. Der erstere Punkt hat wirtschaftlich vielleicht geringe Bedeutung, da es sich nicht um eine zusätzliche Belastung, sondern höchstens um die Frage eines entgangenen Gewinns handelt, der von unseren Sachverständigen auf rund 80 Millionen für die gesamte Dauer des Young-Plans berechnet wird. Innenpolitisch dürfte aber zweifellos die Frage der Vorverlegung des Zahlungstermins als eine neue, uns ungünstige Abänderung des Young-Plans zu gelten haben8. Dagegen ist die zweite Frage, die Frage der Nachzahlung der gestundeten Beträge, von großer wirtschaftlicher Bedeutung, zumal die gegnerischen Wünsche gegen die Tätigkeit des beratenden Sonderausschusses gerichtet sind. Nicht nur nach der schärferen Tonart, sondern auch nach dem bekanntlich sehr maßvollen Urteil des klugen Dr. Melchior ist es ganz ausgeschlossen, in diesem Punkte nicht fest zu bleiben. Dr. Melchior und mit ihm alle anderen diesbezüglichen Sachverständigen der Delegation stehen eben auf dem Standpunkt, daß dann die Unterschrift unter den Young-Plan nicht mehr zu verantworten wäre. Die Annuitätenhöhe rechtfertige diese Unterschrift nicht, sondern nur der Umstand, daß hinreichende Ventile vorgesehen seien; dieses Ventil bestünde nun aber nicht nur in dem deutschen Recht auf Moratoriumserklärung, sondern in diesem Fall gerade auch in der dann einsetzenden empfehlenden Tätigkeit des beratenden Sonderausschusses, der deshalb unter keinen Umständen ausgeschaltet werden könne. In diesem Sinne wird denn auch, wie ich in der vergangenen Nacht bereits telegraphiert habe, die deutsche Delegation sich von heute ab in der zweiten Lesung verhalten.

4

Gemeint ist die feierliche Verpflichtung Deutschlands, den Plan als endgültig anzusehen (Pünders Telegramm Nr. 8 vom 6.1.30; R 43 I /303 , Bl. 204-207, hier: Bl. 204-207).

5

Die deutsche Delegation vertrat die Ansicht, daß das Recht auf Erklärung eines Moratoriums und daß die Möglichkeit zur Einschaltung des Sonderausschusses der B I Z nicht geschmälert werden dürften (Pünders Telegramm Nr. 20 vom 9.1.30; R 43 I /480 , Bl. 151-156, hier: Bl. 151-156). Diese Meinung war auch vom Juristenkomitee vertreten worden (Pünders Telegramm Nr. 15 vom 7.1.30; R 43 I /480 , Bl. 157-162, hier: Bl. 157-162).

6

Die Pfandhaftung war wegen des heftigen deutschen Widerstands von der Seite der Gläubiger auf die Eisenbahn beschränkt worden. Doch auch hier hatte die deutsche Delegation widersprochen (Pünders Telegramm Nr. 15 vom 7.1.30; R 43 I /480 , Bl. 157-162, hier: Bl. 157-162). Der engl. Schatzkanzler Snowden hatte für die dt. Haltung Verständnis gezeigt und gegenüber Moldenhauer erklärt, daß er eine Deutschland befriedigende Möglichkeit erreichen wolle (Pünders Telegramm Nr. 20 vom 8.1.30; R 43 I /480 , Bl. 151-156, hier: Bl. 151-156).

7

Es erschien zweifelhaft, ob die Ministerkonferenz sich dem Eisenbahnkomitee anschließen würde, das von der Forderung abgewichen war, die RB-Gesellschaft habe bei der Festsetzung der Tarife die Zahlung der Reparationssteuer zu sichern (Pünders Telegramm Nr. 20 vom 8.1.30; R 43 I /480 , Bl. 151-156, hier: Bl. 151-156).

8

Deutscherseits war erklärt worden, die Verlegung des Zahlungstermins vom Monatsende auf die Mitte des Monats stelle eine zielbewußte finanzielle Belastung des Reichs dar (Pünders Telegramm Nr. 8 vom 6.1.30; R 43 I /480 , Bl. 165-167, hier: Bl. 165-167). Auch die ehemaligen Pariser Sachverständigen konnten sich über diese Frage nicht einigen. Es gab aber keinerlei Beweis für die Behauptung, man habe in Paris an die Monatsmitte gedacht (Pünders Telegramm Nr. 20 vom 8.1.30; R 43 I /480 , Bl. 151-156, hier: Bl. 151-156).

Die im Anfang in den Besprechungen mit Tardieu gleich sehr hochgekommene Frage der Mobilisierung ist vorübergehend in den Hintergrund getreten.[1349] Wir nehmen an, daß Herr Tardieu mit diesem Punkte bis zur Ankunft von Herrn Dr. Schacht warten will. Der französische Plan geht bekanntlich dahin, Deutschland in irgendeiner Weise an der ersten Mobilisierung zu beteiligen9. Wie wir von Herrn Schäffer hören, soll Präsident Schacht diesem Plan nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen.

9

Tardieu hatte über die französische Vorstellung von der Mobilisierung bisher einen unklaren Bericht gegeben, dem eine schriftliche Aufzeichnung folgen sollte, die aber noch nicht in den Händen der deutschen Delegation war (Pünders Telegramm Nr. 5 vom 5.1.30; R 43 I /480 , Bl. 169-171, hier: Bl. 169-171).

Der übelste Punkt ist im Augenblick der Stand der Sanktionsfrage, über den ich gleichfalls in meinem letzten Telegramm berichtet habe. Im Augenblick ist die Besprechung der vier Minister Curtius, Wirth, Tardieu und Briand im Gange. Wir beabsichtigen, den Franzosen möglichst noch im Laufe des heutigen Tages auf ihren ganz unmöglichen Entwurf einer französischen Note10 einen neuen Entwurf einer solchen Note, wie wir ihn uns denken, zu übersenden. Hinsichtlich der Sanktionen ist die Lage augenblicklich so, daß absolut nicht zu erkennen ist, wo eine Einigung liegen sollte. Aber solche Momente hat es mehr oder weniger noch auf allen Konferenzen gegeben.

10

Von frz. Seite war ein Sanktionsplan mit wirtschaftlichen Maßnahmen für den Fall vorgesehen worden, daß eine radikale Regierung in Deutschland den Young-Plan „zerreiße“ (Vermerk Plancks über ein Telefongespräch mit Vogels am 9.1.30; R 43 I /480 , Bl. 149 f., hier: Bl. 149 f.).

Ausgehend vom „Temps“ hat auch in einem Teil der deutschen Presse die Frage einer etwaigen Abänderung des Reichsbankgesetzes hinsichtlich der Stellung des Chefpräsidenten eine gewisse Rolle gespielt. Wir haben ja bereits daraufhin berichtet, daß solche Anträge von keiner Seite einstweilen an uns gelangt sind und wohl auch nicht zu erwarten stehen. Das einzige, was sich zugetragen hat, war der Umstand, daß Tardieu in einer seiner Besprechungen mit Minister Curtius im Zusammenhang mit einer Erörterung des Schachtschen Memorandums diesen Punkt vorbrachte, den dann aber Minister Curtius sofort zurückgewiesen hat11. Inzwischen haben wir von Herrn Schäffer gehört, daß auch Sie, hochverehrter Herr Reichskanzler, der Auffassung sind, es solle von unserer Seite hinsichtlich dieses Punktes keinerlei Initiative entwickelt werden. Andernfalls brächten wir auf der einen Seite einen großen Teil der öffentlichen Meinung hoch, und auf der anderen Seite würde es hier im Haag den Erfolg haben, daß nunmehr unsere Gegner sich der Annahme hingeben würden, daß jetzt der Hort des deutschen Widerstandes gebrochen sei und von der deutschen Delegation noch weiteres herausgepreßt werden könne.

11

Tardieu hatte Curtius auf die Stellung Schachts in Deutschland angesprochen, und Curtius hatte darauf hingewiesen, daß dies ein Ergebnis der Bestimmungen des Dawes-Plans sei. Tardieus Angebot einer Unterstützung Frankreichs für die Abänderung des Bankstatuts habe Curtius abgelehnt, weil dann erneute Beratungen des Bankkomitees, dem Schacht angehörte, notwendig gewesen wären. Diese Peinlichkeit habe vermieden werden sollen; außerdem sei die Zustimmung der Koalitionsparteien in Deutschland zu einer Änderung fraglich. Curtius hatte dann gemeint, ein gutes Konferenzergebnis werde Schachts Stellung erschüttern (RWiM Schmidt an den RK, 7.1.30; SPD: Nachlaß Müller  O III).

Auch die Frage der etwaigen Gegenforderungen haben wir im engsten Delegationskreise mehrfach eingehend besprochen. Jeder Tag kann eine neue Lage bringen; einstweilen steht die Delegation aber einmütig auf dem Standpunkt,[1350] solche Gegenforderungen noch nicht zu bringen12. Wir würden uns damit zwar einem Teil der deutschen Presse gegenüber billige Lorbeeren erwerben, aber in Wirklichkeit ist die hiesige taktische Lage durchaus gut. Sie besteht darin, daß wir genau wie auf der ersten Haager Konferenz für integrale Annahme des Young-Plans eintreten und aus dieser Festung heraus alle Angriffe abzuwehren suchen. Kämen wir jetzt mit Gegengründen, so würde dies taktisch von den Gegnern selbstverständlich sofort durchschaut und wir gefährdeten die leidliche Erledigung anderer noch offener deutscher Lebensfragen.

12

Deutscherseits wollte man in der zweiten Lesung bei der Neuaufnahme von Einzelfragen gegebenenfalls Gegenforderungen erheben (Pünders Telegramm Nr. 15 vom 7.1.30; R 43 I /480 , Bl. 157-162, hier: Bl. 157-162).

Wie sich die Konferenz zeitlich weiter entwickeln wird, ist gleichfalls noch nicht klar zu übersehen. Fest scheint zu stehen, daß Herr Briand kommenden Freitag die Konferenz auf Nimmerwiedersehen verläßt13; aber er spielt ja tatsächlich auf der zweiten Haager Konferenz innerhalb der französischen Delegation kaum noch die zweite Flöte, geschweige denn die erste14. Herr Minister Curtius hat einstweilen noch die Absicht, wenn irgend möglich, für etwa zwei Tage zum Völkerbundsrat nach Genf zu fahren15, zumal auch Tardieu anscheinend über Sonntag nach Paris fahren will. Vielleicht ergibt sich in diesen Tagen sowieso eine gewisse Verhandlungspause, als während dieser Tage sicher das internationale Bankkomitee mit Schacht und Reynolds tagen wird.

13

Briand fuhr zur Sitzung des Völkerbunds nach Genf.

14

Bereits am 4. 1. hatte Pünder telegrafiert: „Nachdem der frz. MinPräs. in der betonten Weise durch die Einladung zum heutigen Frühstück die persönliche Fühlung zu den deutschen Delegierten aufgenommen hat, erschien nunmehr ein Besuch des RAM bei Briand angezeigt, damit bei diesem nicht der Eindruck entstünde, als ob seitens der Delegation nicht mehr mit ihm gerechnet werde“ (Telegramm Nr. 4; R 43 I /480 , Bl. 172-177, hier: Bl. 172-177).

15

Curtius beschloß am 11. 1., wegen der Verschärfung der Verhandlungen im Haag zu bleiben und StS v. Schubert nach Genf zu entsenden (telefonische Mitteilung von MinR Vogels am 11.1.30; R 43 I /305 , Bl. 151, hier: Bl. 151).

Schließlich darf ich noch erwähnen, daß wir, insbesondere ich, mit besonderer Sorgfalt dauernd prüfen, ob wir uns in jedem einzelnen Punkte im Rahmen der vorliegenden Kabinettsbeschlüsse halten. Ich kann mit gutem Gewissen sagen, daß das der Fall ist. Sollte eine Abweichung in irgendeinem Punkte der Delegation notwendig erscheinen, so werden wir hierüber rechtzeitig und eingehend berichten.

[Persönliche Bemerkungen u. a. zum Gesundheitszustand des RK.]

Mit den ehrerbietigsten Empfehlungen verbleibe ich,

hochverehrter Herr Reichskanzler,

Ihr

Ihnen stets ganz ergebener

Pünder.

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