2.13 (sch1p): Nr. 11 Eingabe der rheinisch-westfälischen Industrie an den Reichsministerpräsidenten. Essen, 12. März 1919

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Nr. 11
Eingabe der rheinisch-westfälischen Industrie an den Reichsministerpräsidenten. Essen, 12. März 1919

R 43 I /1837 , S. 13-161

1

Das Begleitschreiben des OB von Essen, Dr. Luther, an den RMinPräs. ist vom 11.3.1919 datiert und lautet: „Hierdurch beehre ich mich, eine kleine Eingabe des zur Wahrnehmung der Interessen des Rheinisch-westfälischen Industriebezirks eingesetzten kleinen Ausschusses mit der ergebendsten Bitte um schleunige Stellungnahme durch die RReg. zu übersenden. Luther.“ (R 43 I /1837 , S. 11).

[Betrifft: Die Zukunft des rheinisch-westfälischen Industriegebiets bei Friedensschluß]

Zur Wahrnehmung der Interessen des Rheinisch-westfälischen Industriegebiets ist am 31. Januar d. J. von einer großen, alle in der Nationalversammlung vertretenen politischen Parteien und alle wirtschaftlichen Gruppen des Gebiets umfassenden Versammlung ein besonderer Ausschuß berufen worden. Die bisherige Betätigung der Bewegung ergibt sich aus der als Anlage 1 beigefügten Entschließung vom 31. Januar2 und dem als Anlage 2 beigefügten Pressebericht[43] über eine Zusammenkunft am 7. Februar3. Hierzu treten zahlreiche Kundgebungen von Stadtverordnetenversammlungen, Handelskammern usw. im Sinne der Entschließung vom 31. Januar. Der also gebildete hier unterzeichnete Ausschuß entnimmt aus Nachrichten, die ihm unmittelbar oder mittelbar aus feindlicher Quelle zugegangen sind, daß die Feinde eine Gestaltung der Dinge Westdeutschlands erstreben, die für Deutschland und namentlich auch für den Rheinisch-westfälischen Industriebezirk schlechterdings unerträglich ist. Den äußeren Umrissen nach scheinen die Pläne neben einer Abtretung des Saarkohlenbeckens und des Wurmkohlenreviers an Frankreich die Bildung eines Pufferstaats zu bezwecken, der etwa den Grenzen der Rheinprovinz folgt, wenigstens im nördlichen Teil, und mithin den Industriebezirk in zwei Abschnitte zerschneiden würde; der Pufferstaat soll anscheinend wirtschaftlich völlig nach Frankreich gerichtet werden und zwar so, daß er entweder sofort oder nach Ablauf einer Reihe von Jahren in das französische Zollgebiet mehr oder weniger vollkommen einbezogen und eine Zollgrenze zwischen dem Pufferstaat und dem Rest des deutschen Reiches errichtet wird.

2

Die anliegende Abschrift einer Entschließung der Essener Versammlung vom 31.1.1919 lautet: „Die in Essen versammelten Vertreter der Stadt- und Landkreise, Handelskammern, Arbeitsverbände und aller politischen und wirtschaftlichen Parteien und Gruppen aus dem Rheinisch-westfälischen Industriebezirk verwahren sich auf das bestimmteste dagegen, daß bei Verhandlungen zur Neugestaltung des Reichs oder Preußens von irgendwelchen amtlichen oder privaten Stellen über den Industriebezirk wie über eine Ware verfügt wird. Der Industriebezirk mit seinen Kohlenschätzen und seiner hochentwickelten Hütten- und Verarbeitungsindustrie ist das wirtschaftlich wertvollste Kernstück des deutschen Reiches und preußischen Staates; er stellt als solches eine in sich geschlossene Einheit dar und ist deshalb berufen, als Teil des Ganzen ein seiner Bedeutung entsprechendes Eigenleben zu führen. Verlangt der Industriebezirk somit, daß seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse als grundlegend für sein Schicksal beachtet werden, so will er die Erfüllung seines Schicksals nur in einer Lebensgemeinschaft mit dem gesamten Deutschen Volk, die ungelockert und nicht löslich ist.“ (R 43 I /1837 , S. 17).

3

Laut dem anliegenden Pressebericht ohne Quellenangabe war am 7.2.1919 im Essener Rathaus ein ca. 50 Mitglieder umfassender Ausschuß „zur Wahrnehmung der Interessen des Rheinisch-westfälischen Industriebezirks“ zusammengetreten, der ein Drei-Punkte-Programm beschloß: 1. Schärfste Wiederholung der Essener Entschließung vom 31.1.1919 (s. Anm. 2). 2. Es dürfe keinem Plan zugestimmt werden, in dem eine Trennung der linksrheinischen Gebiete von dem übrigen Reichsgebiet vorgesehen sei. 3. Es werde ein kleiner Ausschuß des Industriebezirks gebildet, der die Fragen des rechts- und linksrheinischen Preußens zu behandeln und zu vertreten habe, ohne damit den Zuständigkeiten der pr. Landesversammlung oder der NatVers vorzugreifen (R 43 I /1837 , S. 19-21).

Die Verwirklichung solcher oder ähnlicher Gedanken würde das vollkommene Absterben der Industrie Rheinlands und Westfalens, die der Nährboden der gesamten Bevölkerung des Bezirks ist, zur Folge haben. Dieses Absterben würde auch denjenigen Teil des Industriebezirks treffen, der beim Rest des deutschen Reiches verbleiben würde, da der Industriebezirk wirtschaftlich gar nicht nach Teilen behandelt werden kann. Zahlreiche große industrielle Unternehmungen würden dann fast alle hüben und drüben der Grenzen liegen, und die Zusammenhänge, die die Leistungsfähigkeit der Werke ausmachen, wären zerstört.

Sollte der feindliche Plan aber die Gestalt annehmen, daß nur das linke Rheinufer einen besonderen Staat zu bilden hätte unter sogenannter Internationalisierung des Rheinstroms nebst Kontrolle auch über die rechtsrheinischen Häfen, so bedeutet auch dieser Plan eine Zerreißung des Industriebezirks, der mit wesentlichen Anlagen auf das linke Rheinufer hinübersetzt. Sicher aber vernichtet eine solche Gestaltung der Dinge mit ihrer Absperrung vom Rhein die wirtschaftliche Lebensfähigkeit des Industriebezirks und zwar gleichgültig, ob dem linksrheinischen Staat das äußere Gesicht einer gewissen Selbständigkeit gewahrt wird oder nicht. Übrigens dürfte die in der Presse jetzt vielfach auftauchende Form des linksrheinischen Uferstaates in der Sache mit dem zuerst geschilderten Pufferstaatgedanken sich wesentlich decken, da stets die wirtschaftliche Lahmlegung des rechten Rheinufers gleichzeitig gefordert oder vorausgesetzt wird.

Die Sorge, daß der Pufferstaatgedanke in der angedeuteten Gestalt Verwirklichung[44] findet, ist umso größer, als er denjenigen Teilen des deutschen Reiches, die der Gefahr ausgesetzt sind, unmittelbar zu Frankreich gezogen zu werden, also wo nicht dem ganzen linken Rheinufer, so doch in Sonderheit dem Saarkohlenbecken und dem Wurmkohlenbezirk, als eine Art Notrettung gegenüber einer noch größeren Gefahr erscheinen könnte. Der Plan könnte deshalb möglicherweise im Laufe der Ereignisse von wichtigen Gruppen dieser Bezirke gefördert werden, die beim jetzigen Stande der Friedensverhandlungen das Gefühl haben, vom deutschen Reiche keine irgendwie zureichende Unterstützung zu empfangen.

Wir wissen nun selbstverständlich nicht, ob die von uns vorstehend geschilderten Einzelheiten zutreffen und haben die Einzeldarstellung auch nur um des Gesamtbildes willen gegeben. Das Gesamtbild aber zwingt uns, die Reichsregierung um Beantwortung folgender zwei Fragen zu bitten:

1.

Kann sich der Rheinisch-westfälische Industriebezirk darauf verlassen, daß die deutsche Reichsregierung auf keinen Fall einem Friedensabschluß zustimmt, in dem das Industriegebiet durch Zerreißung seiner politischen oder wirtschaftlichen Einheit, Auslieferung an Frankreich oder Absperrung vom Rhein oder auf irgendeine andere Weise seiner Lebensfähigkeit beraubt wird?

2.

Kann sich der Rheinisch-westfälische Industriebezirk darauf verlassen, daß keine Teile der Rheinprovinz oder der Pfalz, insbesondere nicht das Saarkohlenbecken und das Wurmkohlengebiet an Frankreich abgetreten werden, sondern daß Rheinprovinz und Pfalz politisch und wirtschaftlich ungeschmälert beim deutschen Reiche verbleiben?

Aus schwerster vaterländischer Sorge und in der Überzeugung, daß der Rheinisch-westfälische Industriebezirk äußersten Gefahren ausgesetzt ist, die allen, die in ihm wirken, die höchste Verantwortung auferlegen, richten wir an die Reichsregierung die dringende Bitte, uns beide Fragen, die unmittelbar oder mittelbar Lebensfragen für das Industriegebiet sind, mit größter Beschleunigung zu beantworten. Sollte die Regierung keine oder eine ausweichende Antwort erteilen, so müssen wir aus unserer genauen Kenntnis der örtlichen Verhältnisse und Stimmungen mit allem Ernst erklären, daß die Folgen nicht abzusehen sind. Die unbedingten Vertreter der Erhaltung eines einheitlichen deutschen Reiches wären dann den Gegenbestrebungen gegenüber ihrer besten Waffe beraubt.

Die bestehenden Verkehrsschwierigkeiten und die Notwendigkeit für uns, an Ort und Stelle zu bleiben, veranlassen uns, unsere Anfrage an die Reichsregierung in schriftlicher Form zu richten. Wir bitten deshalb auch um eine schriftliche Antworterteilung, die uns in die Lage versetzt, der Unruhe, die sich vielerorts zeigt, nach unseren besten Kräften im Sinne der für uns maßgebenden Entschließung vom 31. Januar entgegenzutreten, alsdann durch die innere Gewißheit gestützt, die eine schriftliche und unzweideutige Antwort uns geben würde4.

4

Das Antwortschreiben des UStSRkei an OB Dr. Luther vom 17.3.1919 lautete: „In Beantwortung des gefl. Schreibens vom 11. d. M. beehre ich mich im Auftrage des Herrn Präsidenten des Reichsministeriums auf die von ihm namens der RReg. in der Sitzung der NatVers vom 13. d. M. abgegebene Erklärung, von der eine Abschrift in der Anlage beigefügt ist, zu verweisen.“ (R 43 I /1837 , S. 39 f.). Während der 27. Sitzung der NatVers am 13.3.1919 hatte RMinPräs. Scheidemann außerhalb der TO eine Regierungserklärung abgegeben, in der jeder Versuch einer Losreißung rheinischer Gebietsteile vom Reich als „Verstoß gegen das allgemein anerkannte Nationalitätsprinzip“ verurteilt wurde (NatVers Bd. 327, S. 776 ; vgl. Dok. Nr. 10 a, Anm. 9).

[45] Nebenbei erklären wir uns bereit, eine kleine Abordnung zur mündlichen Erörterung mit der Reichsregierung zu entsenden. Die Antwort erbitten wir an den Oberbürgermeister von Essen.

Oberbürgermeister Dr. Luther, Essen, Generaldirektor Geheimer Baurat Beukenberg, Dortmund, Geheimer Kommerzienrat Böker, Remscheid, Handelskammersyndikus Dr. Brandt, Düsseldorf, Oberbürgermeister Dr. Eichhoff, Dortmund, Stadtverordneter Josef Ernst, Hagen i./W., Gewerkschaftssekretär Kloft, Stadtverordneter und Mitglied der Preußischen Landesversammlung, Essen, Stadtverordneter Klupsch, Mitglied der Preußischen Landesversammlung, Dortmund, Wilhelm Ullenbaum jun., Stadtverordneter, Elberfeld, Dr. Wiedfeldt, Vorsitzender der Handelskammer, Essen.

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