1.13 (vsc1p): Schleichers wehrpolitische Reformvorstellungen

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Schleichers wehrpolitische Reformvorstellungen

Auf Kabinettsebene kam die Militär- und Rüstungsproblematik direkt nicht mehr zur Sprache; lediglich im Arbeitsbeschaffungsausschuß wurde noch einmal über die Bereitstellung einer geringfügigen Summe aus dem „Sofortprogramm“[LXIII] für Reichswehrzwecke verhandelt200. Somit ist schwer auszumachen, an wessen Adresse und mit welcher Absicht die eben zitierte einseitige Festlegung des Reichskanzlers gerichtet war.

200

Dok. Nr. 67, P. 1 und 3.

Außenpolitisch konnte die Erosion der Versailler Vertragsbestimmungen deutlich erkannt werden. Drohungen waren angesichts der relativen Kompromißbereitschaft der übrigen Großmächte und der Entspannung im Verhältnis zu Frankreich sicher unangebracht. Als solche scheinen Schleichers Äußerungen auch nicht aufgefaßt worden zu sein. Andernfalls hätte François-Poncet Anfang Januar 1933 dem Reichskanzler schwerlich ein „gentlemen agreement“ in Wehrstruktur- und Rüstungsfragen vorgeschlagen, das den bereits skizzierten personellen und materiellen Vorstellungen der Reichswehrführung weit entgegenkam201.

201

Dok. Nr. 46.

Es liegt näher anzunehmen, daß Schleichers Interpretation des Genfer Verhandlungsergebnisses Bestandteil einer psychologischen Mobilisierungskampagne im Rahmen seiner innenpolitischen Gesamtstrategie war. Reichswehr, rechtsstehende Parteien und Wehrverbände glaubten seit längerem eine Abwendung der Jugend vom Staat beobachten zu können; die zunehmende Jugendarbeitslosigkeit zehrte an der körperlichen Leistungsfähigkeit der im „wehrfähigen Alter“ stehenden jungen Menschen. Erste Antworten auf diese aus nationalistischer Sicht bedrohlichen Defizite waren mit dem zunächst von den einzelnen Verbänden organisierten, seit 1931 vom Reich unterstützten Freiwilligen Arbeitsdienst, der fast ausnahmslos arbeitslose Jugendliche beschäftigte, und 1932 mit der Einrichtung des dem Reichsinnenminister unterstellten „Reichskuratoriums für Jugendertüchtigung“ gesucht worden, das alle der „körperlichen Ertüchtigung“ der Jugend dienenden Vereinigungen auch mit dem Ziel zusammenschloß, die vormilitärische Ausbildung einer zentralen Leitung zu unterstellen. In Anknüpfung an eine diesbezügliche Denkschrift vom Oktober 1932202 kündigte der Reichskanzler jetzt einen „Gesamtplan der Reichsregierung zur Heranführung der Jugend an den Staat“ an. Er gehöre nicht zu denjenigen, die der Jugend täglich einflüsterten, „daß sie das Salz der Erde und die Blüte der Nation sei“; andererseits aber müsse die in einer Krisenzeit notwendige geistige Erneuerung der Nation „mehr von unten als von oben geleistet werden“, von den „freiwilligen Organisationen, in denen heute die Volksgemeinschaft neu erlebt wird“. Gipfelpunkte der Schulung in Selbstdisziplin, Bescheidenheit und Kameradschaft sei „die allgemeine Wehrpflicht im Rahmen einer Miliz“203. Solange der Versailler Vertrag und die Genfer Verhandlungen eine solche Lösung nicht zuließen, müsse man sich mit einer Synthese jugend- und sozialpolitischer Maßnahmen begnügen: der Weiterentwicklung des Freiwilligen Arbeitsdienstes zu einer allgemeinen Arbeitsdienstpflicht, der Einführung eines pflichtmäßigen Werk(halb)jahres der Abiturienten, in dem Arbeitsdienst und Wehrsport abzuleisten seien, dem Ausbau des „Notwerks der deutschen[LXIV] Jugend“ usw.204. Da die Erziehung zu mehr „Verbundenheit mit Volk und Staat“ keine Parteienangelegenheit sei, wies der Reichskanzler ausdrücklich den Anspruch von „Parteihäuptern und Verbandsgrößen“ auf die Pflege des soldatischen Gedankens und der militärischen Tradition zurück205. Die Ergänzung der militärischen Umbauplanung durch eine demokratisierende Strukturreform, d. h. die Ergänzung oder gar die Umwandlung des 100 000-Mann-Heeres in eine Miliz könne dagegen den Wehrgedanken ohne parteiliche Politisierung im Volk verankern206.

202

Vgl. dazu Dok. Nr. 24, P. 6, insbesondere Anm. 21; 25, insbesondere Anm. 28.

203

Dok. Nr. 25.

204

Dok. Nr. 24, P. 6; 25, insbesondere Anm. 30; 26, P. 2 d; 66, P. 5.

205

Dok. Nr. 25, insbesondere Anm. 28.

206

Vgl. dazu auch Dok. Nr. 24, Anm. 21.

Als Leitgedanke durchzog diese Vorstellung die diesbezüglichen Passagen der Programmrede des Reichskanzlers. In aufsehenerregender Form legte er seine Militzpläne anläßlich der Reichsgründungsfeier des von der Reichswehr als überparteilich eingeschätzten Kyffhäuser-Bundes am 15. Januar 1933 auf den Tisch207. Gleichzeitig bemühte sich der Chef des Ministeramtes im Reichswehrministerium, Oberst v. Bredow, in Schleichers Sinn auf die Rekrutierungsvorhaben des sozialdemokratisch orientierten „Reichsbanners“ Einfluß zu nehmen und die Ansprüche anderer Wehrverbände, des „Stahlhelm“ und der SA, als Kader in die kommende Miliz überführt werden, abzuwehren208. Das Reichskabinett wurde mit der Milizfrage nicht befaßt. Der Reichskanzler beanspruchte „die alleinige Verantwortung“ für diese grundsätzliche Frage der Wehrstrukturreform209.

207

Dok. Nr. 46, Anm. 4.

208

Wie Anm. 207.

209

Wie Anm. 207.

Die Strategie v. Schleichers, die wehrpolitisch dem weitverbreiteten deutschen Aufrüstungsbestreben entgegenkam und außenpolitisch direkte Verhandlungen vor allem mit Frankreich anbahnte, konnte über den Milizgedanken innenpolitisch integrierend wirken. Dennoch barg sie die in den letzten Wochen seiner Kanzlerschaft voll zum Tragen kommende Gefahr in sich, daß die Wehrverbände sich in ihrer Daseinsberechtigung bedroht fühlten210. Bemühungen, die Harzburger Front wiederaufleben zu lassen, bestimmten nach der letztgenannten Schleicher-Rede die zum Sturz des Reichskabinetts führenden Kulissengespräche211. Aber nicht nur bei Verbänden und Parteien formierte sich der Widerstand. Da die Milizplanung potentiell zu einschneidenden Änderungen der Wehrstruktur führen mußte, betraf sie auch das elitäre Selbstverständnis der Berufssoldaten. Obwohl Einzelheiten bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bekannt waren, begann sich die Reichswehrführungsgruppe zunehmend zu spalten, so daß der Reichskanzler Ende Januar 1933 nicht nur politisch, sondern auch in der Reichswehr teilweise isoliert war, da sowohl die Verhandlungslösung in Genf, als auch die Zerschlagung der Wehrverbände und der Milizgedanke als Alternative zum Wehrpflichtkonzept in Kreisen führender Militärs umstritten waren. Wenn sie auch nicht von sich aus den Sturz[LXV] des Reichskanzlers und Reichswehrministers aktiv betrieben, so standen sie doch – v. Blomberg, Adam und v. Reichenau zusammen mit Seldte, Duesterberg und Röhm – als militärische Machtträger und Führer mobilisierbarer Massen den Drahtziehern der neuen Regierungsbildung Ende Januar 1933 aufgeschlossen und einsatzwillig zur Verfügung212.

210

Wie Anm. 207.

211

Siehe dazu den folgenden Abschnitt.

212

Dok. Nr. 71, Anm. 6.

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