2.186 (cun1p): Nr. 186 Der Reichsminister des Innern an das Sächsische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten. 9. Juni 1923

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 6). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Das Kabinett Cuno Wilhelm Cuno Bild 183-1982-0092-007Französischer Posten Bild 183-R43432Posten an der Grenze des besetzten Gebietes Bild 102-09903Käuferschlange vor Lebensmittelgeschäft Bild 146-1971-109-42

Extras:

 

Text

RTF

Nr. 186
Der Reichsminister des Innern an das Sächsische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten. 9. Juni 1923

R 43 I /2730 , Bl. 174 f. Abschrift1

1

Am 9. 6. StS Hamm zur Kenntnisnahme zugesandt, am 15. 6. dem RK vorgelegt, von diesem abgezeichnet.

Betrifft: Auftreten der proletarischen Hundertschaften2.

2

Mit Schreiben vom 3. 6. hatte Hamm noch einmal darauf verwiesen, daß der RK auf ein Schreiben des RIM zu dieser Frage besonderen Wert lege (vgl. Anm. 9 zu Dok. Nr. 179).

Nach übereinstimmenden Meldungen der Presse sind bei den kürzlichen Unruhen in Dresden die Proletarischen Hundertschaften in auffälliger Weise aufgetreten. Ihnen soll zeitweise der Polizeidienst anvertraut gewesen sein. Auch die „Rote Fahne“ berichtet, daß die Proletarischen Hundertschaften den Ordnungs- und Polizeidienst der Stadt Dresden übernommen hätten, während die Schutzpolizei zurückgezogen worden sei3. Die Reichsregierung steht auf dem Standpunkt, daß es, falls nicht eine ganz besondere Notlage wie etwa kürzlich im Ruhrgebiet – in dem die Schutzpolizei durch die Franzosen ausgewiesen[553] war – vorliegt, mit dem Wesen des Staates nicht vereinbar ist, wenn Organisationen irgendwelcher Art, die keine staatlichen Organe sind, den Polizeidienst ausüben. Die Reichsregierung hat diesen Standpunkt stets allen deutschen Ländern gegenüber nachdrücklich und in gleicher Weise vertreten. Ein Übergang der staatlichen Polizeigewalt, insbesondere auf Vereinigungen, die sich nur aus den Anhängern bestimmter politischer Richtungen dieser oder jener Art zusammensetzen, kann auch im Notfalle nicht gebilligt werden. Der Reichsregierung ist bekannt, daß vor einiger Zeit die nationalsozialistischen Sturmtrupps in München in gleicher Weise wie jetzt die Proletarischen Hundertschaften in Dresden die Polizeigewalt sich anmaßen zu können glaubten4; sie muß aber darauf hinweisen, daß die Bayerische Staatsregierung den Anlaß für gegeben ansah, das Ansehen und die Macht der Staatsgewalt gegenüber den nationalsozialistischen Übergriffen nachdrücklich zu wahren. Wenn seitens der Sächsischen Regierung erklärt worden ist, daß sie solange gegen die Proletarischen Hundertschaften nichts unternehmen könne und wolle als die Bayerische Regierung die nationalsozialistischen und andere rechtsradikale Organisationen dulde, so muß die Reichsregierung demgegenüber darauf aufmerksam machen, daß es die Bayerische Regierung zu einer Ausübung der Polizeigewalt durch die nationalsozialistischen Abteilungen nicht hat kommen lassen5.

3

Über das polizeiartige Auftreten der Proletarischen Hundertschaften am 29. und 30. Mai in Dresden hatten insbesondere die ‚Leipziger Neuesten Nachrichten‘ Nr. 146 vom 31. 5. und die ‚Rote Fahne‘ Nr. 124 vom 2. 6. berichtet. Das Sächs. IMin. erklärt demgegenüber in seiner Antwort an Oeser vom 10. 7.: „Das Ministerium des Innern kann nicht anerkennen, daß die Presse übereinstimmend von einem auffälligen Auftreten der Proletarischen Hundertschaften in Dresden geschrieben hat, noch weniger, daß diesen Hundertschaften der Polizeidienst zeitweise anvertraut gewesen sei. Die Ordner der Arbeiterschaft haben in einzelnen Fällen eine vermittelnde Rolle gespielt. Irgendeine Art Polizeidienst ist von den aufgetretenen Ordnern in keinem einzigen Fall ausgeübt worden.“ (R 43 I /2730 , Bl. 194 f.).

4

Zu den Münchener Vorgängen am 1. 5. s. Anm. 2 zu Dok. Nr. 158.

5

Das Sächs. IMin. erklärt dazu am 10. 7., „daß ein Vergleich zwischen der Art des Auftretens der proletarischen Hundertschaften in Dresden mit den nationalsozialistischen Sturmtrupps in München nach keiner Richtung hin gemacht werden kann. Das Ministerium des Innern ist in der Lage, den Nachweis zu liefern, daß die bayerische Regierung es nicht nur in einer Reihe von Fällen zu einer Ausübung der Polizeigewalt durch die nationalsozialistischen Abteilungen hat kommen lassen, sondern daß der bayerische Innenminister aus den Reihen dieser entsprechenden Organisationen sich sogar seine Notpolizei geschaffen hat.“ (R 43 I /2730 , Bl. 194 f., hier: Bl. 195). Oeser, der das Schreiben des Sächs. IMin. am 1. 8. der Rkei abschriftlich zustellt, erklärt es in einem Begleitschreiben für zwecklos, „wegen der einzelnen Vorfälle mit der Sächsischen Regierung in eine Polemik einzutreten“, sendet das sächs. Schreiben aber der Bayer. Reg. zu, „damit diese zu den Behauptungen Stellung nehmen kann und zugleich an einem sehr praktischen Beispiel sieht, wie in den politisch linksgerichteten deutschen Ländern die Proletarischen Hundertschaften immer wieder mit dem Auftreten der nationalsozialistischen Sturmtrupps usw. in Bayern gerechtfertigt werden und wie von diesen Ländern der RReg. unter Hinweis auf die Verhältnisse in Bayern Schwierigkeiten gemacht werden, wenn sie ein energischeres Zugreifen der Staatsgewalt gegen die linksgerichteten Kampforganisationen verlangt.“ (R 43 I /2730 , Bl. 193). v. Stockhausen vermerkt dazu am Rande: „Auf die Antwort der Bayer. Regierung wird man lange warten können. 28. 8.“ In den Akten der Rkei findet sich kein Antwortschreiben.

Auch glaubt die Reichsregierung darauf hinweisen zu müssen, daß das Ansehen der staatlichen Polizei auf das bedenklichste untergraben wird, wenn diese sich gegenüber nichtstaatlichen Verbänden im Schutze und in der Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zurückgesetzt sieht. Der Polizei allein stehen diese Aufgaben zu. Sie ist zu ihrer Erfüllung verpflichtet und befugt. Wird die Polizei bei Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht eingesetzt und die Polizeigewalt anderen, nichtstaatlichen Organisationen anvertraut, so wird damit der Polizei mittelbar der Vorwurf gemacht, daß sie zur Wiederherstellung der Ordnung und zur Ausübung der Polizeigewalt nicht fähig sei. Die Reichsregierung nimmt an, daß die Sächsische Regierung selbst gegenüber ihrer Polizei diesen Vorwurf nicht erheben will. Dann[554] aber muß die Zurückhaltung der staatlichen Polizei und der Einsatz der Proletarischen Hundertschaften in der Öffentlichkeit, bei den in Frage kommenden Organisationen und bei der Polizei den Eindruck hervorrufen, als wenn nicht ihr, sondern in erster Linie den Hundertschaften im Falle der Gefahr die Ausübung des Polizeidienstes zustände. Ein solcher Eindruck darf aber weder bei den Störern der öffentlichen Ordnung noch bei der ordnungsliebenden ruhigen Bevölkerung und bei der Polizei erweckt werden, wenn anders nicht das Ansehen der Staatsgewalt herabgesetzt werden soll. Das Reich trägt die außerordentlich hohen Kosten für die Schutzpolizei in erster Linie im Interesse der Aufrechterhaltung der Staatsautorität. Wenn also dortseits erforderlichenfalls von der Schutzpolizei zu diesem Zwecke nicht Gebrauch gemacht werden soll, so ergibt sich für die Reichsregierung – auch mit Rücksicht auf die Erörterungen im Reichstage anläßlich der Beratungen des Haushalts des Reichsministeriums des Innern für das Jahr 1923 – die unabweisbare Pflicht, nachzuprüfen, ob unter diesen Umständen die Subvention der sächsischen Schutzpolizei voll verantwortet werden kann6.

6

Dieser Hinweis geht zurück auf eine Anregung Hamms vom 27. 4. (vgl. Anm. 7 zu Dok. Nr. 164).

Aus allen diesen Gründen muß die Reichsregierung daher mit Ernst ihren Bedenken gegenüber der Betrauung der Proletarischen Hundertschaften mit polizeilichen Aufgaben Ausdruck geben.

Extras (Fußzeile):