2.192 (cun1p): Nr. 192 Denkschrift des Staatssekretärs Hamm zur Wirtschaftslage. 16. Juni 1923

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[575] Nr. 192
Denkschrift des Staatssekretärs Hamm zur Wirtschaftslage. 16. Juni 19231

1

Die Denkschrift ist von StS Hamm mit zahlreichen handschriftlichen Verbesserungen versehen worden.

R 43 I /1199 , Bl. 277 f.

An den Herrn Reichskanzler.

Betr.: Wirtschaftslage

Die gegenwärtige Wirtschaftslage enthält schwerste Gefahren für den Staat. Wenn schon in breiten Kreisen der Arbeiterschaft der Glaube an ein allein seligmachendes Wirtschaftsdogma verloren ging und zum andern viele Kreise, auch solche, die für den Staat gefährlich werden könnten, sich auf die Entwertung der Mark eingestellt haben und von ihr mitleben, so herrscht doch in den weitesten Kreisen des Volkes, bei der Masse der Arbeiter und Angestellten, aber auch sonst große Erregung und tiefe Bitterkeit gegen Staat und Wirtschaft; gegen die Wirtschaft, weil man von ihr sichtbare Opfer in Industrie, Landwirtschaft, Bankwesen und Großhandel vermißt, wohl aber manche ungesunden und üblen Erscheinungen beobachtet, gegen den Staat, weil er hiergegen nichts mit Erfolg unternimmt, also, wie man folgert, nichts unternehmen will, oder doch wegen der heutigen Einstellung der Regierung und der Mehrheitsparteien nichts unternehmen kann. Gegen diese Erscheinungen sichtbar anzukämpfen und zunächst die Möglichkeiten der Bekämpfung aufgrund planmäßiger Durchforschung im Kreise des Kabinetts zu erörtern, ist dringend notwendig geworden. Solche Durcharbeitung durch die Gesamtheit der verantwortlichen Regierungsmitglieder setzt einleitende Einführung durch die zuständigen Fachminister voraus2. Dabei wird es sich u. a. ungefähr um die folgenden Fragenkomplexe handeln:

2

Diesen Gedanken hatte Hamm bereits in einer Aufzeichnung vom 3. 6. niedergelegt. Für die zu erwartenden RT-Debatten schien es ihm unmöglich, „sich dabei auf ein Aufzeigen der tieferen Zusammenhänge zu beschränken, vielmehr wird die Regierung Maßnahmen in Aussicht stellen müssen. […] Im wesentlichen handelt es sich 1. um steuerliche Maßnahmen (Zwangsanleihesteuer, Einkommensteuer, Erhöhung der Straffolge bei verspäteter Steuerzahlung, Erhöhung von Luxussteuer); 2. wirtschaftliche Maßnahmen (Wucherbekämpfung, wobei keinerlei Aussicht auf Erfolg besteht, Unterdrückung von Vergnügungen, Kartellschiedsgerichtsbarkeit), 3. Lohn- und Gehaltsfragen, wobei die verhängnisvolle Forderung nach dem Goldlohn im Vordergrund stehen wird. Es wird notwendig sein, daß sich das Kabinett mit diesen Dingen alsbald befaßt, zunächst zweckmäßigerweise die Wirtschaftsminister (Wirtschaft, Arbeit, Finanz, Ernährung, dazu allenfalls Inneres und Wiederaufbau); zweckmäßig vielleicht einzuleiten durch eine Besprechung der StS.“ (R 43 I /1152 , Bl. 248).

1. Der nächste Grund der gegenwärtigen wirtschaftlichen Mißerscheinungen ist der Zerfall der deutschen Währung, der in den letzten Wochen ohne sichtbare Gegenwehr des Staates oder der Wirtschaft die deutsche Mark unter die polnische und österreichische Mark gedrückt hat. Reichswirtschaftsministerium, Reichsfinanzministerium und Reichsbank haben sich eingehend mit den Gründen dieses Verfalls und der Frage befaßt, was dagegen geschehen kann. Für die Stellungnahme der Gesamtregierung wird zusammenfassende Darlegung notwendig sein über die wichtigsten, zumeist zur Zeit auch im Untersuchungsausschuß[576] des Reichstags3 behandelten Fragen, insbesondere, in welchem Umfange der inländische Devisenbedarf durch Übergang zu Verrechnung in wertbeständiger Mark und durch Schaffung weiterer privater wertbeständiger Anlagemittel wie auch staatlich gedeckter Anlagemittel (hier ist einschlägig auch die Besorgnis, daß die Landwirte im Herbst gegen Papiermark nur im Rahmen ihres engsten Geldbedürfnisses, nicht des vollen wirtschaftlichen Bedürfnisses abgeben werden4) verringert und welche Erfordernisse hierbei zu erfüllen wären, ferner in welchem Umfang Devisen aus der deutschen Wirtschaft freiwillig oder durch Zwang zu einer vorübergehenden Stützungsaktion gegenüber allzu wilden Sprüngen gezogen werden könnten, endlich was börsentechnisch zur Milderung des Sturzes geschehen könnte.

3

Es handelt sich um den Untersuchungsausschuß zur Prüfung der Markstützungsaktion und der Ursachen ihrer Erschütterung, der am 9. 5. auf Antrag der SPD vom RT eingesetzt worden war. Vgl. Anm. 4 zu Dok. Nr. 149.

4

Der eingeklammerte Satz ist von Hamm handschriftlich hinzugefügt worden. MinR Kempner hatte zu dieser Frage am 14. 6. vermerkt: „Das REMin. hält die Gefahr nicht für vorliegend, daß die Landwirte im Herbst ihre Produkte nicht gegen Geld verkaufen. Sie seien zum Verkauf im Herbst gezwungen, um Löhne zahlen und ihre Käufe für die Fortführung des Betriebes machen zu können. Ein solcher Absatzstreik wäre überhaupt nur dann möglich, wenn hierzu eine geschlossene Front der Landwirte gebildet würde, was das REMin. für äußerst unwahrscheinlich hält.“ (R 43 I /1262 , Bl. 218).

2. Der Währungszerfall beruht neben der Bedrohtheit der außenpolitischen Lage Deutschlands auf dem großen Passivsaldo der deutschen Wirtschaft. Es ergibt sich die Frage, was geschehen kann, um die Ausfuhr zu fördern und die Einfuhr überflüssiger Waren (vgl. auch Note vom 14. Nov. 1922) zu verringern, sei es auch auf die Gefahr hin, daß daraus Arbeitslosigkeit entsteht.

3. Gehälter und Löhne folgen zu langsam und unzureichend der Markentwertung. Das Problem einer rascheren Anpassung wird im Reichsarbeitsministerium geprüft5.

5

Am 20. 6. schreibt RArbM Brauns zur Lohnsituation an StS Hamm: „Bisher sind die Löhne im allgemeinen durch Tarifvertrag und Schlichtungsverhandlungen der Teuerung aufgrund der amtlichen Indexzahlen nachträglich angepaßt worden. Diese Methode versagt z. T. infolge der sprunghaften und andauernden Markentwertung. Lohnfestsetzungen, die eben noch die Zustimmung der Beteiligten gefunden hatten, sind in wenigen Tagen überholt. Die hieraus der Arbeitnehmerschaft erwachsenen Schwierigkeiten haben bereits zu großer Unzufriedenheit geführt und sind eine der Ursachen der gegenwärtigen Unruhen in verschiedenen Gebieten Deutschlands. Die Ursache des Übels, die Markentwertung selbst zu beseitigen, erscheint z. Zt. leider nicht angängig. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen kann es sich nur darum handeln, die Lage der Arbeitnehmerschaft durch eine schnellere und bessere Anpassung der Einkommen an die Preisbewegung zu verbessern. Dies läßt sich meines Erachtens z. Zt. nur dadurch erreichen, daß die Löhne und Gehälter aufgrund verbesserter statistischer Unterlagen innerhalb beschränkter Tarifperioden wertbeständig gemacht werden. Die Lohnfestsetzung würde nach wie vor im Verhandlungswege für begrenzte Zeiträume, zweckmäßig für einen Monat, erfolgen. Alle Auszahlungen aufgrund der Vereinbarungen würden sich aber im gleichen Verhältnis erhöhen wie die Markentwertung ausweislich einer bestimmten Indexzahl am Zahlungstag fortgeschritten wäre.“ (R 43 I /1152 , Bl. 269). Auf Einladung des RArbM wird diese Frage von den StS am 21. 6. besprochen (s. Anm. 6 zu Dok. Nr. 199).

Das Gleiche gilt für öffentliche Bezüge der Sozialrentner usw.

4. Unter den Lohn- und Gehaltsempfängern ist das Einkommen Jugendlicher und Unverheirateter häufig im Verhältnis zu hoch, das der Verheirateten zu niedrig. Es ergibt sich die Frage, was zu besserer Berücksichtigung des Familienbedarfs geschehen kann. Der offenkundige, der notwendigen Gesamtverelendung unseres Volkes widersprechende übergroße Verbrauch in allen[577] Kreisen wird ebenso wie der in 1) berührte Ansturm auf Devisen zum großen Teil durch den Mangel werterhaltender Sparmöglichkeiten herbeigeführt. Was kann hiergegen geschehen und welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, um eine Sparpflicht der Jugendlichen in irgendwelcher Form einzuführen?

5. Das Steuerwesen ist noch nicht organisch auf die einfachste Weise aufgebaut. Die direkten Steuern folgen nicht ausreichend der Geldentwertung. Diese bei den Gehalts- und Lohnempfängern außerordentlich verbitternd wirkenden Mißstände auszuräumen, ist das Reichsfinanzministerium eben bemüht. Die indirekten Steuern sind zum großen Teil hinter den Friedenssätzen weiter zurückgeblieben, als es gegenüber der außenpolitischen Lage und dem Bedarf des Staates bei aller gebotenen Rücksicht auf die Verringerung der Kaufkraft und die dadurch verengte Belastungsfähigkeit richtig erscheint. Die Einhebung der Steuern bedarf größerer Vereinfachung.

Das Verhältnis zwischen dem Reich einerseits und den Ländern und Gemeinden andererseits wird auch durch das im Entwurf vorliegende Landessteuergesetz nicht auf längere Frist befriedigend geregelt6.

6

Das Gesetz zur Änderung des Landessteuergesetzes vom 30.3.1920 wird unter dem 23.6.23 verkündet (RGBl. I, S. 483  ff.).

Einen Gesamtüberblick über die Ziele der Finanzpolitik durch eine kurze Denkschrift des Reichsfinanzministers noch vor den Sommerferien des Reichstags zu erhalten, wäre dringendst erwünscht, damit der vom Herrn Reichsfinanzminister zugesagten Programmerörterung im Steuerausschuß des Reichstags eine Erörterung im Kabinett vorangehen kann.

6. Übermäßiger Luxusgenuß geht ungehindert weiter vor sich. Es wird ihm einigermaßen beigekommen werden können auf den oben angedeuteten Wegen stärkerer indirekter Besteuerung, stärkerer Belastung überflüssigen Einkommens und der Eröffnung neuer Sparmöglichkeiten. Daneben bleibt stärkeres Vorgehen der Polizei erwünscht. Anregungen des Herrn Reichsarbeitsministers sind mit grundsätzlichen Bemerkungen und mit der Bitte um Prüfung zu einzelnen Fragen an die beteiligten Minister am 14. 6. gegeben worden7; Erörterung im Kabinett wird notwendig sein8. <Ich halte es für geboten, daß die Herren Ressortminister zu den hier angedeuteten Fragen, die man natürlich auch beliebig anders gruppieren kann, schriftlich und mündlich in den nächsten Tagen Stellung nehmen und dann die Grundlinien der Wirtschaftspolitik einheitlich, zum Teil zur demnächstigen Ausführung, zum Teil auf weite Sicht, festgelegt und aufgezeigt werden9.>

7

Zu den Anregungen des RArbM vom 7. 6. s. Anm. 7 zu Dok. Nr. 196.

8

Kempner hatte am 13. 6. dazu vermerkt: „Die Sache wird aber auf dem üblichen Amtsweg auch nicht gefördert werden. Diese Dinge werden jedesmal bei neuer Dollarsteigerung und Teuerung vorgebracht. Wenn überhaupt ein Erfolg erzielbar ist, so m. E. nur so, daß die beteiligten Minister in der Kabinettssitzung konkrete Vorschläge machen.“ Ein anschließender Briefentwurf Kempners lädt die Ressorts zu einer baldigen Kabinettsberatung über die Wirtschaftslage ein. „Es wird sich hierbei weniger darum handeln, die Lage in ihren ja bekannten Einzelheiten zu schildern, als vielmehr konkrete Vorschläge zu machen, wie die verschiedenen Übelstände abgestellt oder wenigstens gemildert werden könnten. Der Herr RK ersucht ergebenst, die etwa noch erforderliche Prüfung mit tunlichster Beschleunigung vorzunehmen. Die Kabinettssitzung wird spätestens zu Beginn der nächsten Woche stattfinden.“ (R 43 I /1199 , Bl. 275 f.). Das Schreiben wird nicht abgesandt.

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Der letzte Satz ist von Hamm handschriftlich hinzugefügt worden. Am 21., 22. und 26. Juni werden im Kabinett Wirtschaftsfragen behandelt.

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