2.233 (cun1p): Nr. 233 Der Vertreter der Reichsregierung München an die Reichskanzlei. München, 31. Juli 1923

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Das Kabinett Cuno Wilhelm Cuno Bild 183-1982-0092-007Französischer Posten Bild 183-R43432Posten an der Grenze des besetzten Gebietes Bild 102-09903Käuferschlange vor Lebensmittelgeschäft Bild 146-1971-109-42

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[695] Nr. 233
Der Vertreter der Reichsregierung München an die Reichskanzlei. München, 31. Juli 1923

R 43 I /2233 , S. 9 f.

Inhalt: Zur innerpolitischen Lage.

Vertraulich!

Die Krisenstimmung, die durch die außenpolitische Lage und die rapid steigende Wirtschaftsnot hervorgerufen wurde und die in dem Artikel der ‚Germania‘ und der sozialistischen Presse ihren gegen die Reichsregierung gerichteten Ausdruck fand1, hat Bayern und insbesondere München verhältnismäßig weniger berührt. Es hängt dies wohl damit zusammen, daß man sich hier in der gewohnheitsmäßigen Sommerruhe nicht gerne stören läßt. Tatsächlich hat aber auch eine starke Entspannung dadurch stattgefunden, daß[696] sich gerade die unruhigsten Elemente, die Nationalsozialisten, von der Demütigung, die sie nach allgemeiner hiesiger Auffassung am 1. Mai hier erlitten, nicht wieder erholt haben2. Leute, die früher in Herrn Hitler den kommenden Retter Deutschlands sahen, rücken jetzt deutlich von ihm ab und erwähnen seine Tätigkeit nur noch mit Achselzucken. Damit ist eingetroffen, was sich für eine so gänzlich auf Aktion eingestellte Bewegung wie die nationalsozialistische veraussehen ließ, daß sie nämlich allmählich abflauen würde, wenn ihr kein populäres Angriffsziel gegeben würde. Auch der Fuchs-Machhaus-Prozeß hat ernüchternd und aufklärend gewirkt3. Ebenso ist der Antifaschistentag hier vollkommen spurlos verlaufen, und die Stadt stand ausschließlich unter dem Eindruck des Allgemeinen Deutschen Feuerwehrtags, der auf den 29. Juli fiel4. Infolge dieser relativen Ruhe haben denn auch die Vorstöße der ‚Germania‘ und der norddeutschen sozialistischen Presse wesentlich nur in der sozialdemokratischen ‚Münchener Post‘ ein Echo gefunden. Die meisten Blätter haben, wie ich anderwärts berichtete, sich nicht damit begnügt, jene Aufsehen erregenden Presseäußerungen abzudrucken, sondern auch direkt abfällige Kommentare daran geknüpft5. Neben der parteipolitischen Einstellung, die von einem Regierungswechsel einen Ruck nach links fürchtet, ist für diese Haltung auch die außenpolitische Erwägung maßgebend, daß jeder Kabinettswechsel die Stellung Frankreichs verstärken und in England das Vertrauen in eine zielbewußte deutsche Außenpolitik erschüttern würde.

1

Das Berliner Zentrumsblatt ‚Germania‘ hatte am 27. 7. die Regierung Cuno scharf angegriffen und u. a. geschrieben: „Die Regierung Cuno bedeutet eine einzige Enttäuschung. Der Regierung Wirth wurde vorgeworfen, sie hätte sich häufiger gewandelt und sich im Zickzackkurs bewegt, aber die Regierung Cuno bewegt sich überhaupt nicht mehr. Sie steht still.“ Im einzelnen wurde insbesondere die Finanz- und Steuerpolitik der Regierung kritisiert. Es wurde bezweifelt, ob die RReg. jetzt überhaupt noch durchgreifen könne. „Deshalb hört man fast aus allen Kreisen, selbst aus linksstehenden den Ruf nach einer Diktatur oder nach Einsetzung eines Wohlfahrtsausschusses, dem die Vollmacht zu diktatorischen Maßnahmen gegeben werden müsse.“ Vorstand und Fraktion des Zentrums distanzierten sich von diesem Artikel, der lebhafte Diskussionen in der Presse auslöste. Stresemann schrieb am 29. 7. an seinen Parteifreund Kempkes: „Der Artikel der ‚Germania‘ hat wie eine Bombe eingeschlagen. Was sie über die Untätigkeit der Regierung sagt, ist Allgemeinempfinden. Über der Regierung waltet ein Unstern. Man achtet die Persönlichkeiten der Minister, man hat aber die Empfindung, daß diesen Leuten nichts mehr gelingt. […] In der Arbeitsgemeinschaft erklärte Marx, daß der Artikel der ‚Germania‘ nur Redaktionsarbeit wäre, daß die Zentrumsfraktion nicht dahinterstände, daß der Artikel aber die Stimmung wiedergäbe, die in Zentrumskreisen vielfach zum Ausdruck käme.“ (Stresemann-Nachlaß, Bd. 260, Film-Nr. 3098). Zu weiterer Pressekritik gegenüber dem Kabinett Cuno s. Anm. 7 zu Dok. Nr. 227. RegR v. Stockhausen vermerkte am 28. 7. in seinem Tagebuch: „Krisengerüchte! Nun, an solche sind wir schon gewöhnt. Zu Wirths Zeiten wurden wir monatlich damit gespeist. Jetzt sind sie seltener, dafür aber sind sie schwerer zu nehmen. Die ‚Germania‘ hat angefangen. Wie ein Fanal wirkte ein Artikel, der die Regierung Cuno für bankrott erklärte. Der gewaltige Marksturz, der Dollar kostet heute eine Million Mark, hat die Leute dort anscheinend verwirrt. Ich bin ja der Auffassung, daß keinerlei wirtschaftliche Maßnahmen ohne eine Beendigung des Ruhrkonflikts und eine Lösung der Reparationskrise den Sturz der Mark hätten aufhalten können. Immerhin haben der RFM Hermes und der RWiM Becker entschieden versagt und nichts getan, um den wirtschaftlichen und finanziellen Wirkungen des Marksturzes wenigstens entgegenzuwirken.“ (Nachlaß v. Stockhausen  im BA, Nr. 5).

2

Zu den Ereignissen vom 1. Mai s. Anm. 2 zu Dok. Nr. 158.

3

S. dazu Anm. 2 zu Dok. Nr. 202.

4

Schon am 24. 7. hatte v. Haniel der Rkei berichtet, daß das bayer. IMin. keine kommunistischen Manifestationen anläßlich des Antifaschistentages dulden werde. „Im übrigen glaube man, daß angesichts der Stimmung der hiesigen Bevölkerung die Kommunisten klug genug sein würden, sich ruhig zu verhalten.“ (R 43 I /2232 , S. 665). S. auch Anm. 2 zu Dok. Nr. 227.

5

Am 28. und 31. Juli berichtete v. Haniel über die Reaktion der bayer. Presse. So fragte die ‚Münchener Zeitung‘ am 28. 7.: „Was aber soll gegebenenfalls nach Cuno kommen? Glaubt man, daß das deutsche Volk im Süden heute in der Stimmung ist, eine weitere Entwicklung nach links über sich ergehen zu lassen?“ Und die ‚Bayerische Staatszeitung‘ schrieb am 28. 7.: „Die Angriffe der ‚Germania‘ auf das Kabinett Cuno im gegenwärtigen Augenblick können nur geeignet sein, die Lage noch zu erschweren. Sie sind ebenso bedenklich wie unklug.“ (R 43 I /2232 , S. 671-676).

Haniel

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