1.3 (sch1p): III

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Bandbilder:

Das Kabinett ScheidemannReichsministerpraesident  Philipp Scheidemann Bild 146-1970-051-17Erste Kabinettssitzung der neuen deutschen Reichsregierung am 13.2.1919 in Weimar Bild 183-R08282Versailles: die deutschen Friedensunterhändler Bild 183-R11112Die Sozialisierung marschiert! Plak 002-005-026

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Text

III

Eine der ersten Aufgaben, vielleicht die wichtigste, war für die neue Reichsregierung die Konsolidierung der inneren Lage, die Herstellung dessen, was man in Anlehnung an eine Formulierung des preußischen Allgemeinen[XXXIX] Landrechts von 1791 je nach Standpunkt ernsthaft oder ironisch als „Ruhe und Ordnung“ bezeichnete. Daß hierin schlechthin das Existenzproblem der Regierung Scheidemann bestand, liegt auf der Hand, denn jede Regierungsmaßnahme nach innen bis hin zur Verteilung von Lebensmitteln an die halbverhungerte Bevölkerung, aber auch die Handlungs- und Verhandlungsfähigkeit nach außen hing davon ab, daß die Autorität des Kabinetts im Reich anerkannt war. Zweierlei stand dem entgegen: die bürgerkriegsartige, revolutionsähnliche Situation, in der an allen Ecken und Enden des Reichs Räterepubliken aus dem Boden schossen, die das Supremat einer mehrheitsdemokratisch geführten parlamentarischen Zentralregierung nicht anerkannten, sowie die aus den verschiedensten Beweggründen entstehenden separatistischen Bewegungen.

Es überrascht, daß der innerdeutsche Bürgerkrieg der Jahre 1918 und 1919 in den Akten der Reichskanzlei, soweit sie im Bundesarchiv Koblenz vorliegen, vor allem auch in den Kabinettsprotokollen, sich kaum widerspiegelt. Der Märzaufstand in Berlin, die „Berliner Blutwoche“, findet nur einmal indirekt während der Kabinettssitzung am 19. März Erwähnung85, über die Besetzung der Nordseehäfen und der ostfriesischen Inseln durch Regierungstruppen im Februar ist schlechthin nichts aufzufinden. Ähnlich steht es mit den Vorgängen in Mitteldeutschland; das Freiwillige Landesjägerkorps marschierte am 18. Februar in Gotha ein, besetzte am 27. Februar Halle, wobei es zu erheblichen Kämpfen kam, sowie in der Folgezeit das ganze mitteldeutsche Braunkohlengebiet. Am 9. April wurde Magdeburg besetzt, am 15. April Helmstedt, am 17. April Braunschweig, am 10. Mai Leipzig, am 19. Mai Eisenach, am 18. Juni Erfurt. Obwohl es sich hier um innerpolitische Ereignisse von erheblicher Bedeutung handelte – die freilich durch die Gesamtlage ein wenig relativiert wurden –, diskutierte man im Kabinett nur die Fälle Magdeburg und Braunschweig, und Magdeburg auch nur deshalb, weil ein Kabinettsmitglied dort unter für alle Beteiligten höchst blamablen Umständen festgenommen worden war86. Die Besetzung Braunschweigs beanspruchte die Aufmerksamkeit des Kabinetts allerdings in stärkerem Maße; sowohl auf die Vorgeschichte87 wie auch auf den weiteren Verlauf der Ereignisse88 werfen die Verhandlungen im Kabinett und die dazugehörigen Schriftwechsel einige interessante Schlaglichter, vor allem auch auf das Verhältnis zwischen der Reichsregierung und ihren militärischen Exekutivorganen; darüberhinaus rühren die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen, die das Recht des Reichspräsidenten zur Verhängung des Belagerungszustandes betrafen, unmittelbar an schwebende Verfassungsprobleme89.

85

Dok. Nr. 17, P. 3 und 4.

86

Siehe Dok. Nr. 37, P. 5; Dok. Nr. 40, P. 9.

87

Siehe Dok. Nr. 26, P. 4; Dok. Nr. 40, P. 9.

88

Siehe Dok. Nr. 46, P. 5; Dok. Nr. 86, P. 1; Dok. Nr. 94, P. 8.

89

Siehe Dok. Nr. 60.

Ähnliches gilt auch für Bayern; hier war die Gefahr einer echten Absplitterung vom Reich im Zusammenhang mit der Ausrufung der zweiten Räterepublik sehr viel größer, und dementsprechend war die Aufmerksamkeit des Kabinetts auch verhältnismäßig oft auf München und Bamberg gerichtet. Hier zeigen die[XL] Kabinettsprotokolle, daß man sich schon früh Sorgen über die weitere Entwicklung in München machte90. Die weiteren Beratungen zu diesem Punkt beziehen sich lediglich auf die Verbindungen zwischen Berlin und der nach Bamberg ausgewichenen Regierung Hoffmann91; man saß gewissermaßen auf dem Sprung, um in Bayern zu intervenieren92, bis es am 16. April soweit war93. Über die weiteren Entwicklungen bis zur Einnahme Münchens am 1. Mai ist den Akten der Reichskanzlei wenig zu entnehmen; danach finden sich lediglich einige Andeutungen über die Schwierigkeiten, die sich im Verhältnis zu dem bayerischen Ministerium für militärische Angelegenheiten ergaben94.

90

Dok. Nr. 29, P. 3.

91

Dok. Nr. 37, P. 7; Dok. Nr. 38, P. 1; Dok. Nr. 39, P. 4.

92

Siehe: Noske, Gustav: Von Kiel bis Kapp, Berlin 1920, S. 137 f.

93

Siehe Dok. Nr. 43, P. 3.

94

Dok. Nr. 46, Anm. 7; Dok. Nr. 82, P. 6.

Verhältnismäßig breit werden in den Kabinettsprotokollen die Streiks behandelt, die vor allem im Ruhrgebiet bürgerkriegsähnliche Formen annahmen. Daß sich das Kabinett so intensiv mit der Streiksituation befaßte, zeigt, daß die Ernährungs- und Versorgungslage für die Reichsregierung ein ganz primäres Problem darstellte; so ist es wohl auch nicht zufällig, daß die Zustände in Braunschweig von dem Zeitpunkt an das besondere Interesse des Kabinetts auf sich zogen, als die durch Braunschweig verlaufende Eisenbahnlinie, die den wichtigsten Versorgungsstrang zwischen West- und Mitteldeutschland bildete, auf Veranlassung des dortigen Arbeiter- und Soldatenrats gesperrt worden war95. Die Härte der gegen die Streikenden im Ruhrrevier vorgesehenen Maßnahmen spricht für sich96, ebenso die Erleichterung des Kabinetts nach dem Abflauen der Streiks97. Auch die Streiks in den reichseigenen Militärwerkstätten stellten wegen der dadurch verursachten direkten Belastung der Reichsfinanzen ein häufig in den Protokollen erwähntes Problem dar, zumal sie mit der Arbeitslosen- und Kriegsbeschädigtenfrage in direktem Zusammenhang standen98; die Eisenbahn- und Poststreiks, die die Wirtschaft an einer empfindlichen Stelle trafen, veranlaßten das Kabinett zu ausgedehnten Erörterungen über das Streikrecht der Beamten und Staatsarbeiter99, eine Frage, die über die ganze Dauer der Weimarer Republik hinweg die Kabinette beschäftigte. Die ausgedehnte Behandlung, die das Kabinett der fast permanenten Streiksituation angedeihen ließ, macht deutlich, in welch einer verzweifelten Lage man sich hier sah, zumal die Entente angedroht hatte, nur an ein arbeitendes Deutschland Lebensmittel zu liefern100; die Arbeitsausstände waren nicht nur eine schwere innere Belastung, sondern drohten auch die Erfüllung der alliierten Waffenstillstandsforderungen unmöglich zu machen.

95

Dok. Nr. 40, Anm. 16.

96

Dok. Nr. 29, P. 3.

97

Dok. Nr. 40, P. 2.

98

Dok. Nr. 40, P. 3; Nr. 46, P. 2; Nr. 61, P. 8; Nr. 86, P. 8.

99

Dok. Nr. 34, P. 5; Nr. 40, P. 1.

100

Dok. Nr. 14 b, Anm. 3.

Vor ganz anderen Problemen stand die Reichsregierung bei der Bekämpfung separatistischer Bestrebungen im Westen wie im Osten des Reichs. Im[XLI] Westen lag die Hauptschwierigkeit darin, daß die Berliner Zentralgewalt in den besetzten rheinischen Gebieten praktisch über keine Exekutivbefugnisse verfügte, und daß diese Ohnmacht, zusammen mit latenten frankophilen und prussophoben Strömungen in einem Teil des rheinischen Bürgertums, von den französischen und belgischen Besatzungstruppen zur separatistischen Agitation ausgenutzt wurde. Hier hatte das Kabinett einen schweren Stand, da jede seiner Maßnahmen von der Entente als gegen die Bestimmungen des Waffenstillstands gerichtet interpretiert werden konnte. Hilferufe von industrieller Seite101, von Abgeordneten102 und aus der rheinischen Bevölkerung konnten nur mit öffentlichen Erklärungen103, Propagandamaßnahmen104 und Protesten bei den Alliierten105 beantwortet werden; die Ernennung eines Reichs- und Staatskommissars für die besetzten Gebiete106 hatte ebenfalls überwiegend deklaratorischen Charakter. Einwirkungsmöglichkeiten bestanden hier nur indirekt, auf dem Weg über Abgeordnete der besetzten Gebiete107, über rheinische Honoratioren108 oder über die Parteiorganisationen, wie aus Hinweisen auf einen sozialdemokratisch gelenkten, gegen Abtrennungsbestrebungen gerichteten Generalstreik in Köln am 28. Mai hervorgeht109.

101

Dok. Nr. 11.

102

Dok. Nr. 95, Nr. 102, P. 4.

103

Dok. Nr. 10a, P. 5; Nr. 11, Anm. 4.

104

Dok. Nr. 10a, P. 5; Nr. 75, P. 6; Nr. 80, P. 7; Nr. 97, P. 9.

105

Dok. Nr. 97, P. 8.

106

Dok. Nr. 88, P. 4; Nr. 102, P. 12.

107

Dok. Nr. 95.

108

Dok. Nr. 95, Anm. 10.

109

Dok. Nr. 95.

Einer höchst komplizierten Lage sah sich die Reichsregierung in den preußischen Ostprovinzen gegenüber; daß es auch hier Abtrennungsbestrebungen gab, war unverkennbar, ebenso deutlich war aber auch, daß diese Bestrebungen paradoxerweise durchaus patriotischen Motiven entsprangen und im übrigen in ihren Zielsetzungen wenig konkret waren; deutsche Zivilbeamte, Militärs, Volksräte und Posener Flüchtlinge entwickelten eine Anzahl von Projekten, die die Bildung eines rein deutschen oder deutsch-polnischen Oststaates für den Fall der Unterzeichnung des Friedensvertrages vorsahen, ohne daß diese Projekte recht miteinander zur Deckung zu bringen waren; ihnen lagen völkisch-romantische Vorstellungen von einer Erhaltung eines ostdeutschen Widerstandszentrums für die Revision der Ergebnisse des Weltkriegs „ähnlich wie 1813“110 zugrunde; eine genauere Darstellung der Lage in den Ostprovinzen findet sich in mehreren Denkschriften des preußischen Innenministeriums111. Eng verknüpft damit war die militärische Lage in diesen Gebieten; die Provinz Posen war fast völlig in polnischer Hand, an der Demarkationslinie fanden trotz eines deutsch-polnischen Waffenstillstandes ständig Scharmützel statt, erhebliche Truppenkonzentrationen auf beiden Seiten ließen ein Wiederaufleben der Kämpfe und, angesichts des Stärkeverhältnisses, eine Wiedereroberung Posens und noch weitergehende Operationen durch deutsche[XLII] Truppen als möglich erscheinen. Zunächst war dies ein Problem der preußischen Behörden; aber auch das Reichskabinett sah sich auf Grund von Meldungen über ein mögliches eigenmächtiges Vorgehen von ostdeutschen Truppenteilen und Posener Flüchtlingen mit diesen Fragen befaßt112. Zunächst glaubte die Reichsregierung, dergleichen Strömungen mit militärischen und propagandistischen Maßnahmen und kleinen politischen Zugeständnissen Herr zu werden113; als man in Berlin erkannte, daß die Gefahr eigenmächtiger Aktivitäten im Osten größer als zunächst angenommen war, tauchte im Kabinett der Gedanke auf, den Tätigkeiten der Bevölkerung der Ostprovinzen in Richtung auf eine Volksabstimmung über den Verbleib dieser Provinzen beim Reich abzulenken, wovon man sich einen erheblichen propagandistischen Effekt bei den Friedensverhandlungen erhoffte114. Diese Idee erwies sich in der Folgezeit als wenig glücklich; es wirft ein seltsames Licht auf die allerseits zur Schau getragene Zuversicht, was den Willen der Bevölkerung im Osten, deutsch zu bleiben, anbetrifft, daß gerade Sachverständige der preußischen Regierung unter Hinweis auf ein möglicherweise ungünstiges Ergebnis eine Abstimmung in den Ostprovinzen ablehnten115, was zu einem Konflikt zwischen dem Reichskabinett und der preußischen Regierung führte116. Das Vorhaben wurde fallengelassen; die Androhung einer Ostsezession oder eines eigenmächtigen Vorgehens gegen Polen wurde nicht in die Wirklichkeit umgesetzt, obgleich die Auseinandersetzungen zwischen den führenden deutschen Militärs vor der Unterzeichnung des Friedensvertrags deutlich machten, wie tief dergleichen Vorstellungen in den Köpfen ostdeutscher Kommandeure, aber auch des preußischen Kriegsministers, Wurzeln geschlagen hatten117.

110

Winnig, August: Heimkehr, Hamburg 1935, S. 234.

111

Dok. Nr. 111.

112

Dok. Nr. 44, P. 4; Nr. 56, P. 4; Nr. 69, P. 6.

113

Dok. Nr. 51, P. 6; Nr. 56, P. 4; Nr. 57, P. 4.

114

Dok. Nr. 69, P. 6.

115

Dok. Nr. 71, P. 5; Nr. 74, P. 4.

116

Dok. Nr. 82, P. 3; Nr. 83.

117

Dok. Nr. 115.

Im Innern Ordnung zu schaffen hieß nicht nur, Streiks, Aufstände und separatistische Bewegungen zu unterdrücken; es war schlechthin eine neue Ordnung zu schaffen, auf wirtschafts-, sozial- und finanzpolitischem Gebiet – wieweit das gelungen ist, das zu untersuchen kann hier nicht die Aufgabe sein. Voraussetzung jeder inneren Ordnung auf längere Sicht war aber eine neue Verfassung, die zu beschließen die Nationalversammlung in erster Linie zusammengetreten war. Die Arbeit an dieser Verfassung war hauptsächlich Sache der Konstituante bzw. ihres Verfassungsausschusses; es darf daher nicht verwundern, daß in der Kabinettsarbeit die Verfassung eine relativ geringe Rolle spielte. Die zweite Regierungsvorlage des Verfassungsentwurfs, die von dem Verfassungsausschuß beraten wurde, war der Nationalversammlung am 21. Februar vorgelegt worden, zu einer Zeit also, für die wir keine aktenmäßig gesicherten Hinweise auf die Beratungen des Reichskabinetts vorfinden. In der Folgezeit zogen nur vereinzelte Verfassungsprobleme die Aufmerksamkeit des Kabinetts auf sich; so wurde die Grundrechtsfrage nur in Zusammenhang mit[XLIII] der Militärstrafgerichtsbarkeit berührt118; ein Vorschlag Koch-Wesers zur Fassung der Schlußbestimmungen wurde kurz und recht kühl besprochen119; einige andere, an sich höchst brisante Themen finden sich zwar im Schriftwechsel der Reichskanzlei, ohne jedoch überhaupt in den Kabinettsprotokollen aufzutauchen, wie Länderproteste gegen einen zu großen Zentralismus in dem Verfassungsentwurf120 oder Bedenken Preußens wegen der Stimmenverhältnisse im zukünftigen Reichsrat121. Das Interesse des Kabinetts konzentrierte sich lediglich auf zwei Punkte: die Übernahme der Eisenbahnen auf das Reich und die Einbeziehung der Arbeiterräte in die Verfassung. Die Eisenbahnfrage stand in engstem Zusammenhang mit dem Problem des zukünftigen Verhältnisses zwischen Ländern und Reich; die von der Reichsregierung angestrebte „Verreichlichung“ der Eisenbahnen konnte den Ländern, die über geschlossene Eisenbahnnetze verfügten, wegen der chronisch defizitären Lage im Eisenbahnbetrieb nur recht sein, was die Verhandlungen erleichterte; lediglich Bayern sperrte sich aus ganz offensichtlich partikularistischen Gründen dagegen, wurde aber im Staatenausschuß und im Verfassungsausschuß derart überstimmt, daß es schließlich der Übernahme seiner Eisenbahnen durch das Reich bis zu dem in der Regierungsvorlage vorgesehenen Termin, dem 1. April 1921, zustimmte. Das Reichskabinett fand sich aber auch besonders dem Widerstand des Chefs des Reichsamts für die Verwaltung der Reichseisenbahnen, dem ehemaligen preußischen Minister Hoff, gegenüber; mit seinem Rücktritt Anfang April war dann auch das letzte Hindernis behoben122. Nicht so häufig, dafür aber auffallend intensiv befaßte sich das Kabinett mit der Frage der Einbeziehung der Arbeiterräte in die Verfassung. Die Arbeiterräte waren in beiden Regierungsentwürfen für die neue Reichsverfassung nicht vorgesehen; es handelte sich bei den nachträglichen im Kabinett diskutierten Entwürfen um ein Zugeständnis, das man streikenden Arbeitern gemacht hatte, und es ist für das Verhältnis zwischen dem Kabinett Scheidemann und den eigentlichen Trägern der Novemberrevolution, den Räten, charakteristisch, wie von Entwurf zu Entwurf der politische Charakter, der den Arbeiterräten ursprünglich zukommen sollte, entschärft und umgewandelt wurde, bis endlich in den Art. 165 der Weimarer Reichsverfassung ein rein wirtschaftspolitisches Organ ohne auch nur den geringsten Machtanspruch einging123.

118

Dok. Nr. 107, P. 5; Nr. 112, P. 8.

119

Dok. Nr. 90, P. 4.

120

Dok. Nr. 36.

121

Dok. Nr. 101.

122

Dok. Nr. 17, P. 2; Nr. 30; Nr. 38, P. 2; Nr. 51, P. 7; Nr. 54a, P. 1; Nr. 56, P. 6.

123

Dok. Nr. 18, P. 6; Nr. 23, P. 4; Nr. 34, P. 1; Nr. 39, P. 2.

Soweit es sich um die Ordnung im Innern oder im Staatsaufbau handelte, läßt sich von einer Politik des Gesamtkabinetts sprechen. Anders dagegen lagen die Dinge in Fragen der Wirtschaftspolitik – hier brachen innerhalb des Kabinetts grundsätzliche Zwistigkeiten aus, deren Bedeutung für die innere Politik der Regierung Scheidemann ein ausführlicheres Eingehen auf die näheren Umstände des Streits erfordert.

[XLIV] Daß in den Koalitionsverhandlungen vor der Bildung des Kabinetts die Frage der künftigen Wirtschaftspolitik eine zentrale Rolle spielte, darf als sicher angenommen werden. Auf Seiten der Sozialdemokraten war man nach wie vor den marxistischen ökonomischen Vorstellungen verpflichtet, wie sie im Erfurter Programm niedergelegt worden waren; das wirtschaftspolitische Ziel, und das erklärt zum Teil die Schärfe späterer Auseinandersetzungen im Kabinett, war zugleich das universale Ziel des Sozialismus: nach der Eroberung der Staatsmacht durch das Proletariat war die gesellschaftliche Kontrolle der Wirtschaft durch die Verstaatlichung der Großindustrie zu sichern, um so die Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu erreichen, eine Vorstellung, die freilich durch die revisionistische Übergangstheorie abgeschwächt wurde, wie sie in auch für die Mehrheitssozialdemokratie verbindlicher Weise von Karl Kautsky formuliert worden war124.

124

Siehe vor allem: Kautsky, Karl: Sozialdemokratische Bemerkungen zur Übergangswirtschaft, Berlin 1919.

Demgegenüber stand die liberale marktwirtschaftliche Konzeption, wie sie von den demokratischen Reichsministern und einem Teil der Zentrumspolitiker, vor allem auch von Erzberger, vertreten wurde: das Hauptziel einer staatlichen Wirtschaftspolitik war hier die maximale Produktivität des Produktionsprozesses, die einen möglichst raschen Abbau der im Zusammenhang mit der Kriegswirtschaft eingerichteten Zwangsorganisationen voraussetzte, verbunden mit der Aufhebung der Außenhandelsbeschränkungen und Devisenbewirtschaftung.

Dieses Gegeneinander wurde kompliziert durch eine weitere wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellung, die allerdings kaum parteigebunden war: die vom Reichswirtschaftsamt vertretene Gemeinwirtschaftspolitik. Aus den Erfahrungen mit der Kriegswirtschaft hatten vor allem Walther Rathenau und Wichard von Moellendorff eine Konzeption entwickelt, die gleichermaßen wirtschafts- und sozialpolitische wie auch ethische Komponenten in sich vereinigte: Beibehaltung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, dabei aber eine gezielte Wirtschaftsplanung durch Zwangssyndizierung der einzelnen Wirtschaftszweige unter staatlicher Kontrolle; an den dabei geschaffenen Verwaltungsorganen sollten alle an der Produktion Beteiligten, also vor allem auch Arbeiter und Angestellte, teilnehmen; die wirtschaftlichen Verwaltungen selbst waren von unten nach oben nach dem Selbstverwaltungsprinzip zu organisieren. Wesentliche Elemente der Gemeinwirtschaft waren nach den Vorstellungen ihrer Begründer eine kontrollierte Handelspolitik und damit staatliche Ein- und Ausfuhrkontrollen125. Wichard von Moellendorff trat im November 1918 als Unterstaatssekretär ins Reichswirtschaftsamt ein und erwies sich in der Folgezeit als treibende Kraft, die das Gemeinwirtschaftskonzept auch unter Rudolf Wissell zur verbindlichen Konzeption des Reichswirtschaftsministeriums werden ließ.

125

Rathenau, Walter: Von kommenden Dingen, Berlin 1918; ders., Die neue Wirtschaft, Berlin 1918; Moellendorff, Wichard von: Deutsche Gemeinwirtschaft, Berlin 1916; ders., Konservativer Sozialismus, hrsg. v. H. Curth, Hamburg 1932.

Nach der Bildung des Kabinetts Scheidemann fanden sich also in der Ministerrunde Vertreter von drei wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen,[XLV] deren jede die anderen schlechterdings ausschloß. Unter den wirtschaftspolitisch interessierten Ressorts vertraten die sozialdemokratischen Gewerkschaftler Bauer und Schmidt eine sozialistische Politik im Sinne des Erfurter Programms, die Demokraten Gothein und Schiffer sowie dessen Nachfolger Dernburg die liberal-marktwirtschaftlichen Vorstellungen und Wissell als einziges Kabinettsmitglied die Gemeinwirtschaft. Daß die daraus sich ergebenden Konflikte nicht schon frühzeitig aufbrachen, lag an einem wirtschaftspolitischen Stillhalteabkommen zwischen den Koalitionspartnern, das sich deutlich in der Regierungserklärung Scheidemanns am 13. Februar vor der Nationalversammlung niederschlug; der wirtschaftspolitische Teil der Rede war sehr allgemein gehalten und umging umfangreiche Fragenkomplexe, wie etwa den Außenhandel, die Währungspolitik, das Schicksal der kriegswirtschaftlichen Organisationen; Scheidemanns Stellungnahme zur Sozialisierung besonders ließ beträchtlichen Spielraum für Interpreten126. Da die Regierung, um ihre innere Einheit nicht zu gefährden, es so vermieden hatte, sich auf ein bestimmtes Wirtschaftsprogramm festzulegen, wurden die Gegensätze direkt zwischen den Ressorts unter Umgehung des Kabinetts ausgetragen, was durch die verfassungsmäßige Konstruktion der Regierung Scheidemann begünstigt wurde. Auf diesem Hintergrund sind die wirtschaftspolitischen Differenzen zu sehen, wie sie aus den hier abgedruckten Akten und Protokollen hervortreten.

126

NatVers Bd. 326, S. 44  ff.

Eine direkte Folge dieser Lage waren erbitterte Zuständigkeitsstreitereien zwischen den Ressorts, die gelegentlich in reine Machtkämpfe ausarteten, wie zwischen dem Reichswirtschafts- und dem Reichsernährungsministerium; daß das letztere Kompetenzen auf dem Gebiet der Außenhandelspolitik besaß und diese Kompetenzen in Richtung auf einen Abbau der staatlichen Kontrollen hin nutzte, störte die gesamtwirtschaftlichen Organisationsmaßnahmen des ersteren127; hinzu traten persönliche Differenzen zwischen Schmidt und Wissell, die den Sachauseinandersetzungen einen scharfen emotionalen Zug verliehen128. Trotz der Schwierigkeiten mit seinen Kabinettskollegen gelang es Wissell jedoch im Verlauf des März, einige Grundvoraussetzungen für seine Vorstellungen zu verwirklichen. Die Arbeitskämpfe im Ruhrgebiet, in Mitteldeutschland und in Berlin veranlaßten die Reichsregierung, in einem Aufruf an die arbeitende Bevölkerung Maßnahmen anzukündigen, die den Gemeinwirtschaftsplänen Wissells ähnlicher sahen als den Vorstellungen, die von den Sozialisten aller Richtungen gemeinhin als verbindlich angesehen wurden129. Da die bürgerlichen Koalitionspartner unter dem Druck der Streiks und Aufstände zu diesem Zeitpunkt kaum die Möglichkeit hatten, ihre wirtschaftlichen Zielvorstellungen im Kabinett durchzusetzen, ergriff das Reichswirtschaftsministerium die sich ihm bietende Chance; ein Sozialisierungsgesetz wurde entworfen, das ganz die Handschrift Moellendorffs trug und die programmatische Grundlage für eine gemeinwirtschaftliche Gesamtorganisation bilden konnte; hinzu traten[XLVI] Gesetze über die Regelung der Kohle- und Kaliwirtschaft, nach denen erstmals die betroffenen Industriezweige nach den Vorstellungen Wissells und Moellendorffs organisiert wurden130. Das war der erste und einzige Triumph der Gemeinwirtschaft; schon der einen Monat später vorgelegte Gesetzentwurf für einen Reichsausschuß für das Papierfach wurde gegen die Absichten Wissells im Kabinett substantiell verändert und von der Nationalversammlung zurückgewiesen131.

127

Dok. Nr. 29, P. 1; Nr. 31.

128

Nach: Wissell, Rudolf: Lebenserinnerungen, maschinenschr. Manuskript, Bd. II, S. 167 ff. , in: Bundesarchiv, Nachl. Wissell , Nr. 8.

129

Dok. Nr. 4, Anm. 2.

130

Dok. Nr. 17, P. 6; Nr. 34, P. 6.

131

Dok. Nr. 85, P. 6.

Der schwelende Konflikt trat in ein akutes Stadium, als die demokratischen Kabinettsmitglieder einen Vorstoß unternahmen, um die Maßnahmen des Reichswirtschaftsministeriums zu bremsen. Geschickt nutzten sie die Differenzen zwischen Wissell und Schmidt in Fragen der Außenhandels- und Devisenpolitik aus; äußerer Anlaß war die Frage der Finanzierung der Lebensmitteleinfuhren auf Grund des Brüsseler Abkommens. Im Verlauf der Sitzungen am 5. und 6. Mai beschloß das Kabinett auf Antrag Dernburgs und Gotheins, einen Kabinettsausschuß zu bilden, den diktatorischen Wirtschaftsausschuß, der den Außenhandel und die Devisenbeschaffung zu forcieren hatte, und dessen Beschlüsse Regierungsverordnungen gleichzusetzen waren. Mitglieder wurden Wissell, Gothein und Schmidt, Beschlüsse hatten mit Stimmenmehrheit zu erfolgen, wobei regelmäßig Wissell von den in Außenhandelsfragen ziemlich einigen Ministern Gothein und Schmidt überstimmt wurde132. Am 6. Mai erklärte Dernburg öffentlich, der diktatorische Wirtschaftsausschuß werde die kriegswirtschaftlichen Zwangsorganisationen beseitigen; damit wäre eine entscheidende Stütze der Gemeinwirtschaft gefallen. Das Protestschreiben Wissells an Scheidemann vom 7. Mai, in dem er eine rein sozialdemokratische Regierung forderte und mit seinem und Moellendorffs Rücktritt drohte, läßt an Schärfe nicht zu wünschen übrig133. Gleichzeitig legte er dem Kabinett eine, freilich schon lange vorbereitete, Denkschrift zur Gemeinwirtschaftspolitik zusammen mit einem Aktionsprogramm des Reichswirtschaftsministeriums vor; beide von Moellendorff verfaßten Dokumente geben Inhalt und Zielsetzung der Gemeinwirtschaftspolitik präzis formuliert wieder134. Die gleichzeitig von Schmidt135 und Gothein136 dem Kabinett vorgelegten Gegendenkschriften verdeutlichten die Gegenpositionen in der Regierung und klärten die Fronten.

132

Dok. Nr. 59, P. 7; Nr. 61, P. 1.

133

Dok. Nr. 62.

134

Dok. Nr. 63 a; Nr. 63 b.

135

Dok. Nr. 64.

136

Dok. Nr. 65.

Die endgültige Auseinandersetzung wurde freilich auf die Zeit nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags vertagt. Wissell befand sich jetzt in der Defensive, seine Maßnahmen wurden im Wirtschaftsausschuß regelmäßig blockiert; er oder ein leitender Beamter des Reichswirtschaftsministeriums suchte die Flucht an die Öffentlichkeit, was wiederum im Kabinett zu schweren Auseinandersetzungen führte137; auch Versuche, den Entscheidungen des Wirtschaftsausschusses[XLVII] im Kabinett entgegenzutreten, endeten mit Siegen derjenigen Kabinettsmitglieder, die eine Lockerung der staatlichen Außenhandelskontrolle befürworteten138. Eine Kabinettsdiskussion am 7. Juni schließlich, die die vom diktatorischen Wirtschaftsausschuß beschlossene Aufhebung der Devisenordnung betraf, führte, nachdem Wissell, wie schon öfters vorher, mit seinem Rücktritt gedroht hatte, zu einer Art von Waffenstillstand139. Die angedeuteten Differenzen im Kabinett in Wirtschaftsfragen waren tatsächlich erheblich komplexer; hier konnte nur auf die Grundzüge der Entwicklung hingewiesen werden. Es sei festgehalten, daß die Frage der wirtschaftspolitischen Neuordnung das innerpolitische Hauptthema des Kabinetts Scheidemann war, das dazu hinreichende Brisanz enthielt, um die Regierung frühzeitig zu sprengen, hätte nicht die Friedensfrage letztlich alle anderen Probleme zu Nebenthemen degradiert. Die Bedeutung der wirtschaftspolitischen Diskussionen im Reichskabinett liegt aber auch darin, daß nur in diesem Bereich Ansatzpunkte für ein Interesse des Kabinetts Scheidemann an langfristigen und umfassenden innerpolitischen Konzeptionen nachzuweisen sind; alles andere blieb Stückwerk, erschöpfte sich in ad-hoc-Entscheidungen. Man war gebannt von der bevorstehenden Friedensregelung, man regierte auf kürzeste Sicht und begnügte sich einstweilen mit der Aufrechterhaltung einfachster staatlicher Funktionen, zu Recht, wie der Friedensvertrag zeigen sollte, der alle Bereiche des staatlichen Lebens beeinflußte und auch die Diskussion um die Wirtschaftspolitik gegenstandslos machte.

137

Dok. Nr. 85, P. 7.

138

Dok. Nr. 86, P. 7; Nr. 89, P. 9.

139

Dok. Nr. 104.

Ein Flickwerk blieb vorerst auch, wie die Dokumente zeigen, die Finanzpolitik des Kabinetts. Das war an sich keineswegs selbstverständlich angesichts der dringenden Aufgaben, die sich stellten: die bislang nur pauschal betriebene Finanzwirtschaft mußte wieder in geordnete Etatsverhältnisse überführt werden, eine Deckung für die aus dem Krieg erwachsenen enormen Reichsschulden war ebenso zu suchen wie Einnahmen, die den stark angewachsenen Ausgaben des Reichs gegenübergestellt werden konnten. Aber auch hier blockierte die ausstehende Friedensregelung die Arbeit des Kabinetts: „Die Aufstellung eines finanziellen und steuerlichen Gesamtprogramms“, erläuterte Dernburg in einem Schreiben an Wissell vom 21. Mai, „wird erst dann zum Abschluß gebracht werden können, wenn die durch den Frieden bedingte Belastung einigermaßen zu übersehen ist, und wenn die Grundlagen unseres zukünftigen Wirtschaftslebens gegeben sein werden“140. Mit welchen finanziellen Belastungen das Reichsfinanzministerium im Friedensfall rechnete, geht aus den detaillierten Ausführungen Dernburgs vor dem Reichskabinett am 26. April hervor; der Text ist glücklicherweise im vollen Wortlaut erhalten und zeigt, in welch einer verzweifelten Lage man sich sah141. Eine umfassende, tief in die bisherigen Länderrechte eingreifende Finanzreform war unumgänglich; ein Teil der direkten Steuereinnahmen, vor allem der Einkommens-, Körperschafts- und Erbschaftssteuer,[XLVIII] mußte auf das Reich übertragen werden, wenn das erhebliche Deckungsdefizit im Reichshaushalt ausgeglichen werden sollte. Kein Wunder, daß von seiten der Länder heftiger Widerstand geleistet wurde142, was eine grundsätzliche Neuregelung der Finanzverwaltung im Rahmen der noch auszuarbeitenden neuen Reichsverfassung notwendig machte. Auch hier waren also endgültige Beschlüsse aller Dringlichkeit zum Trotz nicht möglich. Die große Finanzreform konnte erst nach dem Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung unter der Regie Erzbergers stattfinden143. Dennoch trafen Schiffer und sein Nachfolger Dernburg wesentliche Vorbereitungen und Vorentscheidungen; im Kabinett wurde das ganze Paket der im Reichsfinanzministerium ausgearbeiteten Steuergesetzentwürfe, das den Fundus der späteren Finanzreform bilden sollte, verschiedentlich heftig diskutiert144. Nach der Überreichung der alliierten Friedensforderungen trat jedoch auch die Frage der Steuergesetzgebung vorerst in den Hintergrund; ein Teil der Gesetzentwürfe wurde zwar noch von der Regierung Scheidemann in die Nationalversammlung eingebracht145, aber dort erst nach der Entscheidung über die Unterzeichnung des Friedensvertrags beraten.

140

Abschrift an den RMinPräs. in: R 43 I /2354 , Bl. 23 f..

141

Dok. Nr. 54 b.

142

Dok. Nr. 58, P. 7; Nr. 61, P. 5.

143

Zur Steuerpolitik im Jahr 1919 s. vor allem: „Der künftige finanzielle Bedarf des Reichs und seine Deckung“, Denkschrift des RFM vom 5.8.1919, in: NatVers-Drucks. Bd. 338, Nr. 760 ; „Die Steuerbelastung in Deutschland“, Denkschrift des RFM vom 30.4.1920, in: R 43 I /2393 , Bl. 111-134. Die genannten Denkschriften sind zwar nach dem hier in Frage stehenden Zeitraum entstanden, enthalten aber wertvolles Material auch zur finanzpolitischen Lage des Reichs zur Zeit des Kabinetts Scheidemann.

144

Dok. Nr. 14a, P. 6; Nr. 26, P. 5; Nr. 43, P. 2.

145

Dok. Nr. 86, P. 13.

Auch den Nachweis für eine klar konzipierte und konsequent betriebene Sozialpolitik bleiben die Akten der Reichskanzlei für den Zeitraum des Kabinetts Scheidemann schuldig. In den Kabinettsprotokollen finden sich zahlreiche Belege dafür, daß die Regierung sich auch auf diesem Gebiet meist auf hastige Improvisationen beschränkte, wenn brennende Notstände wenigstens gelindert werden mußten, wie etwa im Fall der Arbeitslosenfürsorge145a, des Landarbeitermangels146 oder der Entschädigung für Kriegsbeschädigte147. Auch waren gelegentlich politische Forderungen zu beschwichtigen, so in den Fragen der Arbeitszeiten für Angestellte148 und im Bergbau149 oder der Forderungen der Lazarettinsassen150. Hinderlich für durchgreifende soziale Maßnahmen war die Leere der Reichskasse ebenso wie der Kompromißcharakter der Reichsregierung, der die Verwirklichung weitreichender sozialer Konzeptionen erschwerte: „Sinnlos und unnütz wäre es,“ sagte Scheidemann schon in seiner Regierungserklärung, „die Tatsache zu verdunkeln, daß innerhalb der neugebildeten Regierung über das Ideal einer künftigen Gesellschaftsordnung verschiedene Auffassungen herrschen“151. Die sehr rege sozialpolitische Aktivität des Rats der Volksbeauftragten trat nunmehr zurück, der Streit um die Wirtschaftspolitik im[XLIX] Kabinett lähmte auch die gesellschaftspolitische Tätigkeit der neuen Regierung, wenn man von der bereits erwähnten Einbeziehung der Arbeiterräte in die Reichsverfassung absieht. Im übrigen wurden mehrere große Vorhaben in den Ministerien vorbereitet, ohne im Kabinett behandelt zu werden, wie etwa die Kodifikation des gesamten Arbeitsrechts, die der Reichsjustizminister am 1. März vor der Nationalversammlung ankündigte152, oder die erste Fassung eines Entwurfs für das Betriebsrätegesetz, die im Reichsarbeitsministerium ausgearbeitet wurde; in beiden Fällen verhinderte die Friedensfrage und der Rücktritt der Reichsregierung die Beratung im Kabinett. Daß sozialpolitische Fragen das Reichsministerium als Ganzes so relativ wenig beschäftigen, lag schließlich auch daran, daß dergleichen Maßnahmen meistens in das Ressort des mit weitgehenden Befugnissen ausgestatteten Reichsministeriums für die wirtschaftliche Demobilmachung fielen, welches Verordnungen direkt erlassen konnte, ohne daß eine Beratung im Kabinett notwendig war153; nach der Auflösung dieses Amts gingen dessen Befugnisse auf die zuständigen Reichsministerien, im Falle der Sozialgesetzgebung auf das Reichsarbeitsministerium, über.

145a

Dok. Nr. 29, P. 5; Nr. 32, P. 5.

146

Dok. Nr. 15, P. 3.

147

Dok. Nr. 43, P. 10.

148

Dok. Nr. 15, P. 2.

149

Dok. Nr. 105, P. 5.

150

Dok. Nr. 110, P. 4; Nr. 112, P. 2.

151

NatVers Bd. 326, S. 48 .

152

NatVers Bd. 326, S. 444 .

153

Siehe Dok. Nr. 15, P. 1.

Der Überblick über die innenpolitischen Themenkreise in den Akten der Reichskanzlei bietet also für den Zeitraum des Kabinetts Scheidemann ein verhältnismäßig wenig geschlossenes Bild. Das liegt, um die Gründe zusammenzufassen, einmal an der Lückenhaftigkeit des Aktenbestandes für einige Sachbereiche, aber auch an der starken Stellung der einzelnen Reichsämter gegenüber dem Gesamtkabinett, die bewirkte, daß viele politische Maßnahmen ohne Beteiligung des Kabinetts oder des Reichsministerpräsidenten getroffen werden konnten; zum anderen stand die Friedensfrage so sehr im Vordergrund der deutschen Politik, daß innerpolitische Themen in der Regel dagegen zurücktraten und nur provisorisch, von Fall zu Fall, erledigt wurden; hinzu kommt, daß der Bestand der Koalition es erforderte, innerpolitische Streitfragen, in denen die bürgerlichen und die sozialdemokratischen Koalitionspartner unterschiedliche Auffassungen vertraten, auszuklammern, um nach außen hin handlungsfähig zu bleiben. Nur der Streit um die Wirtschaftspolitik drohte den innerpolitischen Burgfrieden im Kabinett zu durchbrechen; er wurde deshalb im vorliegenden Band verhältnismäßig umfangreich, soweit die Aktenlage das zuließ, dokumentiert.

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