2.45.1 (sch1p): [Lage in den Ostprovinzen]

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Das Kabinett ScheidemannReichsministerpraesident  Philipp Scheidemann Bild 146-1970-051-17Erste Kabinettssitzung der neuen deutschen Reichsregierung am 13.2.1919 in Weimar Bild 183-R08282Versailles: die deutschen Friedensunterhändler Bild 183-R11112Die Sozialisierung marschiert! Plak 002-005-026

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RTF

[Lage in den Ostprovinzen]

Ministerpräsident Scheidemann eröffnet die Sitzung.

Abg. Davidsohn verliest den Brief Rodemanns3, der so große Erregung in der sozialdemokratischen Fraktion in Weimar hervorgerufen hat. Im Anschluß an diesen Brief wurde reiches Material aus Schlesien, Ost- und Westpreußen vorgebracht, das hier zweckmäßig auch vorgetragen wird.

3

Der Redakteur Paul Rodemann (MSPD) war einer der von den Osttruppen gewählten Abg. der NatVers; sein Wahlkreis war Libau. Über seinen Brief, der offenbar an die MSPD-Fraktion der NatVers gerichtet war, ist in den Akten der Rkei nichts näheres zu ermitteln.

Ministerpräsident Scheidemann bittet um dieses weitere Material. Der Brief enthält im wesentlichen nur die üblichen Redereien. Rodemann fürchtet „auch“ verhaftet zu werden. Ist er denn schon verhaftet worden und von wem?

Abg. Steinkopf geht auf die Ausführungen des Preußischen Landwirtschaftsministers ein, der im Anschluß an die Mitteilungen, die ihm von dem Mitglied der Preußischen Landesversammlung Borowsky gemacht seien, auf das Treiben des Oberpräsidenten von Batocki4 aufmerksam gemacht hätte. Winnig schwimmt vollkommen in dessen Fahrwasser. Die Preußische Provinzialversammlung wurde plötzlich nach Königsberg zusammenberufen, da wurde den Mitgliedern ein deutsches Friedensprogramm vorgelegt, nicht nur für einen allgemeinen Frieden, sondern auch für den Frieden, falls Preußen durch die Polen von dem übrigen Deutschland abgeschnitten würde, was Batocki, dem Vertreter des Gedankens der Zerschlagung Preußens, anscheinend gar nicht unangenehm gewesen wäre, da er wohl der erste Präsident von Preußen zu werden hoffte. Wir waren durch all’ das so überrascht, daß wir gar nicht dazu Stellung nehmen konnten. Wir haben alles einer Kommission überwiesen, von der wir noch nichts wieder gehört haben.

4

Der Oberpräsident der Provinz Ostpreußen, Adolf Tortilowicz von Batocki-Friebe, gehörte zu den Befürwortern einer evtl. Abtrennung der pr. Ostprovinzen vom Reich für den Fall, daß die RReg. einen für die Ostgebiete ungünstigen Frieden akzeptieren sollte. In einer Lagebeurteilung vom 19.1.1919 erwähnte Gen. v. Seeckt, zu diesem Zeitpunkt Stabschef des Oberkommandos Nord in Bartenstein/Ostpr., Batocki habe ihm erklärt, die Abtrennung des Gebiets um Thorn und Danzig an Polen sei sicher, da dies durch die Anerkennung der 14 Punkte Wilsons durch die RReg. zugestanden sei. Ostpreußen sei nach dieser Abtrennung nicht mehr lebensfähig und müsse u. U. Anschluß an Polen suchen. Gedacht sei an einen Freistaat, der „mit weitgehender Selbständigkeit in den Rahmen des Dt. Reiches einzufügen sei“. (Aktenauszüge des GenLt Lieber über die Rolle des GenMaj. v. Seeckt beim OK Nord, in: BA-MA, Nachl. Seeckt , Nr. 280).

Abg. Borowsky stellt demgegenüber fest, daß er mit Landwirtschaftsminister Braun überhaupt nicht gesprochen habe, sondern dieser seine Mitteilungen durch den Abgeordneten Seemann erhalten habe. Es handelt sich vor allem um die Frage, was geschehen solle, wenn beim Rätekongreß5 die Räterepublik[164] ausgerufen werden sollte und sich dann der Osten politisch selbständig machen sollte. Batocki gab mir freie Hand, dann die Provinzialversammlung einzuberufen, wenn ich es für erforderlich hielt. Hiervon habe ich Seemann Mitteilung gemacht, und der hat es an Landwirtschaftsminister Braun weitergegeben. Die Friedenswünsche des Ostens sind von allen in Betracht kommenden Körperschaften festgelegt worden. Mit diesen Wünschen hat sich die Provinzialversammlung nicht sehr eingehend beschäftigt. Sie sollten der zu bildenden Sachverständigen-Konferenz vorgelegt werden. Der Ausschuß der vier Ostprovinzen ist in Berlin zusammengetreten, um gemeinsam mit der Staatsregierung die gesamten Ostfragen nochmals durchzusprechen.

5

Gemeint ist der 2. Kongreß der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte Deutschlands vom 8.–14.4.1919 in Berlin, s. Schultheß 1919, I, S. 168 ff.

Abg. Krätzig bedauert, daß der Preußische Landwirtschaftsminister Braun nicht anwesend ist, da gerade seine Mitteilungen so alarmierend wirkten.

Unterstaatssekretär Albert teilt mit, daß der Preußische Landwirtschaftsminister Braun zu dieser Besprechung gebeten sei.

Abg. Molkenbuhr gibt Nachrichten eines früheren „Reichstagsstenografen Stegemann“ bekannt, der über reaktionäre Bestrebungen der Offiziere in Kurland lebhaft geklagt hätte. Der Kurländischen Baronspresse hätte Papier in beliebiger Menge zur Verfügung gestanden, während der sozialistischen Zeitung „Die Zeit“ nur für 500 Exemplare Papier geliefert worden wäre. Der Mann war persönlich durchaus nicht verärgert, meinte aber, man solle die Augen offen halten und sich nicht von dieser Verschwörung überraschen lassen.

Reichskommissar Winnig: Ich hatte mir den Verlauf des Rätekongresses von vornherein so gedacht, wie er gewesen ist, und habe nicht mit einer Ausrufung der Räterepublik gerechnet. Als ich gefragt wurde, was ich in diesem Falle tun würde, erklärte ich, daß ich mich mit der Regierung deswegen in Verbindung setzen würde und wir uns im Osten nicht ohne weiteres dem Räteregiment beugen sollten. Ich habe die Parole ausgegeben, man sollte die antibolschewistische Propaganda nach meinen Richtlinien weiter betreiben und im übrigen das tun, was wir mit der Reichsregierung vereinbaren würden. Selbstverständlich hatte ich auch mit Batocki und mit dem AOK Nord über die Lebensmittelverhältnisse usw. gesprochen, falls es zu einer Ausrufung der Räterepublik in Berlin kommen sollte. Ich hatte zu Sonntag einen Kongreß der Arbeiterräte nach Allenstein einberufen und mir vorgenommen, ihn für den Fall der Ausrufung der Räterepublik durch Zuziehung von Vertretern der verschiedensten Parteien zu verstärken, um uns über unsere Haltung schlüssig zu werden. Wir haben uns nun auf diesem Kongreß mit anderen Dingen befaßt. In Libau sind die Verhältnisse sehr traurig6. Solange wie ich dort war, bin ich mit den Soldatenräten ausgezeichnet ausgekommen. Nach meinem Fortgang wollte sich der Soldatenrat Libau als Zentralsoldatenrat für die ganze Ostfront erklären, hat aber auf mein Abraten davon Abstand genommen. Später hat er dann, wenigstens nach der Behauptung des Gouvernements, eine Teilnahme an der Kommandogewalt verlangt. Daraufhin sind zwei oder drei Mitglieder des[165] Soldatenrates verhaftet worden. Zwei Mitglieder sind zur Zeit noch in Haft, ein Offizier Quell und ein anderes Mitglied Neumann. Man legt ihnen zur Last, sich die Kommandogewalt angemaßt und damit ein militärisches Verbrechen begangen zu haben. Beide haben sich sehr korrekt benommen; bei ihrer Verhaftung kam es zu Tumulten, und sie wurden befreit, weigerten sich aber das Gefängnis zu verlassen und haben die Soldaten ermahnt, sich ruhig zu verhalten und der Sache ihren ordnungsmäßigen Gang zu lassen. Aus politischen Gründen habe ich die Enthaftung der beiden beim Gouvernement verlangt, aber ohne Erfolg. Am Montag habe ich General v. Seeckt gebeten, die beiden Leute nach Königsberg zu überführen. In diesen drei Tagen ließ sich das natürlich noch nicht durchführen. Die vom Abgeordneten Molkenbuhr erwähnte sozialistische Zeitschrift ist ein kleines Blättchen; der Herausgeber ist anscheinend ein etwas unklarer Kopf, der Deutschtum und Lettentum miteinander versöhnen will; er verwechselt aber Lettentum und Bolschewismus und glaubt, die deutschen Sozialisten mit dem lettischen Bolschewismus versöhnen zu sollen. Klagen über die schlechte Papierbelieferung sind mir nicht zu Ohren gekommen.

6

Auf die Verhältnisse in Libau bezog sich wahrscheinlich der vom Abg. Davidsohn erwähnte Brief Rodemanns, s. Anm. 3.

Mein Verhältnis zum Militär war bisher sehr gut. Aber durch einige Fälle, in denen ich vergeblich Enthaftungen angestrebt habe, ist dieses sonst sehr gute Verhältnis gestört worden. Durch die Vorgänge in Danzig7 hat es dann einen Knacks bekommen. Als ich von den Vorgängen in Danzig hörte, fuhr ich sofort dahin. Inzwischen war schon geschossen worden, fünf Leute waren dabei getötet und eine größere Anzahl verwundet worden. Daraufhin war der Belagerungszustand verhängt worden. Ich verhandelte mit den Mehrheitssozialisten, die gegen den Streik waren, und da wir unter der Hand erfuhren, daß die Unabhängigen in einem Flugblatt die Beendigung des Generalstreiks verkündigten, erreichte ich, daß der Belagerungszustand aufgehoben werden sollte. Ich diktierte nachts in der „Danziger Zeitung“ eine Bekanntmachung an die Danziger Bevölkerung, in der es am Schlusse hieß, daß der kommandierende General auf meinen Rat den Belagerungszustand versuchsweise aufhebt. Am nächsten Morgen stand aber in der Zeitung: „Der kommandierende General wird nach meiner Besprechung, wie ich höre, den Belagerungszustand versuchsweise aufheben.“ Eine solche willkürliche Änderung meiner amtlichen[166] Kundgebungen durch eine militärische Stelle kann ich mir nicht gefallen lassen. Ich habe das Recht, dem kommandierenden General einen Rat zu erteilen8.

7

Der Darstellung des Vorwärts, Nr. 197, vom 17.4.1919 zufolge hatte am 8. 4. das Generalkommando des in Danzig liegenden 17. Armeekorps den Danziger Bahnhof besetzen lassen, um militärische Transporte für den Grenzschutz zu sichern. Die Streikleitung der aus wirtschaftlichen Gründen streikenden Eisenbahnarbeiter forderte die Zurückziehung der Bahnhofsbesatzung; da das Generalkommando darauf nicht einging, beschloß ein aus Kommunisten und Unabhängigen zusammengesetzter Streikausschuß, den Generalstreik auszurufen. Die Streikforderungen betrafen u. a. die Auflösung der Freiwilligenverbände und Aufstellung einer roten Garde, den Rücktritt der RReg., „alle politische Macht den Arbeiterräten“ und Aufnahme freundschaftlicher Beziehungen zu den Räteregierungen in Rußland, Ungarn und Bayern. Am 10. 4. wurde daraufhin über Danzig der Ausnahmezustand verhängt; bei einem dennoch versuchten Angriff auf den Danziger Bahnhof gab es mehrere Tote und zahlreiche Verwundete. Auf Grund der Intervention Winnigs wurde der Belagerungszustand am 13. 4. wieder aufgehoben; der Generalstreik endete am folgenden Tag.

8

Der undatierten Verfügung Eberts über die Einsetzung Winnigs als RKom. für den Osten im Januar 1919 zufolge hatten die in der Provinz Ostpreußens bestehenden Militärbehörden „nach von der RReg. zu erteilender Weisung im Einvernehmen mit dem Reichsbeauftragten zu handeln“. (Staatl. Archivlager Göttingen, Staatsarchiv Königsberg, Rep. 2. Nr. 4259).

Das hat mich veranlaßt, der Regierung Anträge zu unterbreiten, die mein Verhältnis zu den Militärbehörden klären sollen9. Ich kann nicht verlangen, vor jeder Verhängung des Belagerungszustandes gehört zu werden, ist sie aber erfolgt, so muß mir sofort Mitteilung gemacht werden, und ich muß verlangen können, daß sie auf meinen Rat innerhalb 24 Stunden aufgehoben wird. Sonst kann ich meine Aufgabe nicht durchführen. Ich muß auch auf die Handhabung des Belagerungszustandes Einfluß haben. Das ist mir auch bisher in leidlichem Einvernehmen mit den militärischen Behörden gelungen. Bei den Verhaftungen aus politischen Gründen muß der politischen Leitung ein bestimmender Einfluß zugebilligt werden. Im Libauer Falle habe ich es sehr bedauert, einen solchen Einfluß nicht zu haben. Wenn ich auf meinen Posten zurückkehren soll, muß ich bitten, daß die Regierung meine Vollmachten in dieser Hinsicht umgrenzt. Ich habe mit General von Seeckt einen Briefwechsel geführt, wonach wir nicht gerade in unserer Auffassung auf einer Linie stehen10. Ich hoffe aber doch, daß wir hier eine Verständigung finden.

9

In einem Telegramm Winnigs an die Rkei vom 9.4.1919 heißt es im Zusammenhang mit einer Schilderung der derzeitigen Lage in Danzig: „Bisher habe ich mit den militärischen Kommandobehörden das Einvernehmen in allen größeren Fragen aufrechterhalten können. Meinungsverschiedenheiten entstanden verschiedentlich bei kleinen und untergeordneten Anlässen. Hinsichtlich der Zuspitzung, die die Lage zweifellos erfahren hat, halte ich es aber nur für notwendig, mein Verhältnis zu den Militärbehörden ganz zu klären. Eine zweckentsprechende, d. h. auf die Beruhigung der Bevölkerung gerichtete Politik kann ich nur führen, wenn ich in der Lage bin, auch die von militärischer Seite kommenden Störungen zu beseitigen. Unter den heutigen Verhältnissen kann ich das nicht, wenigstens bin ich in jedem einzelnen Falle auf das Entgegenkommen der Militärbehörden angewiesen. Die Mißstimmung in der Bevölkerung über militärische Mißgriffe und Übergriffe ist, wie ich bei einer Rundreise durch die Provinz feststellen mußte, größer, als ich erwartete. Ich würde dieser Mißstimmung begegnen können, wenn ich das Recht hätte, in solchen Fällen durchzugreifen, und wenn ich dadurch der Bevölkerung den Beweis geben könnte, daß von einer Aufrichtung eines militärischen Willkürregiments in Wahrheit keine Rede sein kann. Ich ersuche daher die Regierung ganz gehorsamst

1. mir die Vollmacht zu geben, auch den Militärbehörden Anweisungen zu erteilen;

2. das Oberkommando Nord von dieser mir erteilten Vollmacht dienstlich zu unterrichten. […]“ (R 43 I /1844 , Bl. 16).

10

In einem Schreiben an Winnig vom 15.4.1919 erklärte der Stabschef OK Nord, GenMaj. v. Seeckt: „[…] Die Erteilung einer weitgehenden Vollmacht an den RKom. zur Befehlserteilung oder autoritativen Einwirkung gegenüber dem OK hält dieser weder für notwendig noch für angängig. Das OK untersteht der OHL, diese der RReg. Auf diese Weise erscheint die politische Einwirkung auf das Oberkommando ausreichend gesichert. Eine Doppelunterstellung des Oberkommandos unter die Oberste Heeresleitung und den Reichskommissar – ganz gleich in welcher Form und in welcher Einschränkung – ist nicht angängig und würde sofort zu Konflikten führen. Das Oberkommando würde sich mit einer solchen Anordnung nicht einverstanden erklären können.“ (R 43 I /1844 , Bl. 44 f.).

Die Akten über die Friedenswünsche von Ost- und Westpreußen habe ich noch nicht studieren können. Die Dinge liegen dort immerhin besser als im übrigen Deutschland, sind aber auch nicht ideal. Wir haben eine starke Abwanderung[167] nach links. Wir tun dagegen, was wir können. Aber wirklich helfen kann nur die Verteilung von Lebensmitteln an die Bevölkerung. Die Lage wird katastrophal, wenn nicht alle Behörden im Osten einsehen, daß jetzt politischer Takt und eine Schonung der Anschauungen der überreizten Volksmassen ein zwingendes Gebot sind. Gefährlich ist die Lage nur in Danzig und Königsberg. In Danzig ist vorläufig Ruhe und Ordnung wiederhergestellt; auf wie lange, läßt sich nicht sagen. In Königsberg drohte heute der Generalstreik11. Die Vertrauensleute verlangen in einem Ultimatum: Aufhebung des Belagerungszustandes, Freilassung der politischen Gefangenen aus der Märzaktion, Öffnung der militärischen Vorräte für die Zivilbevölkerung und Zurückziehung der freiwilligen Truppen aus Königsberg. Der Belagerungszustand wird heute nachmittag aufgehoben, die politischen Gefangenen werden zum Teil freigelassen. Ein Teil der freiwilligen Truppen wird entfernt. In der Ernährungsfrage können wir nichts machen, ich habe schon zweimal eigenmächtig in die Militärbestände eingegriffen. Ich hoffe, daß diesmal der Generalstreik durch das Entgegenkommen behoben ist, dagegen droht nun ein Eisenbahnerstreik. Die dortigen Arbeiter sind mit dem Personaldezernenten unzufrieden und wollen ihm einen Vertrauensmann der Arbeiter zur Seite stellen. Darauf ist der Eisenbahnpräsident und der Eisenbahnminister nicht eingegangen. Da der Ausbruch des Streiks unmittelbar bevorstand, habe ich nochmals um Entsendung von zwei Kommissaren gebeten, die heute morgen in Königsberg eingetroffen sind. Ich wollte mit ihnen verhandeln, bekam aber die Einladung zu dieser Sitzung. Ich hoffe, daß es gelingen wird, den Eisenbahnerstreik zu verhindern12.

11

Laut Vorwärts Nr. 195, vom 16.4.1919 hatte eine am 15. 4. in Königsberg abgehaltene Versammlung von Kommunisten und Unabhängigen für den 17. 4. den Beginn eines Generalstreiks angekündigt, der jedoch auf Grund der Verhandlungen des RKom. mit dem Streikkomitee nicht stattfand.

12

Der Eisenbahnerstreik fand der Tagespresse zufolge nicht statt.

Abg. Schulz bringt Klagen über Thorn vor. Zwei Mitglieder des dortigen Soldatenrates sind, als sie nach Berlin fahren wollten, verhaftet worden und sitzen nun schon 6 Wochen in Graudenz gefangen. Alle Versuche, sie freizubekommen, waren vergeblich. Der Belagerungszustand ist über Thorn und verschiedene Städte Westpreußens verhängt worden, obgleich noch keine Unruhen vorgekommen sind. In der Sitzung des Arbeiterrats in Straßburg erschien ein Leutnant Kleesattel mit einem Herrn Hoffmann vom dortigen Freiwilligen Regiment und machten eifrig Notizen. Ein Recht zur Überwachung lag nicht vor, denn die Sitzung des Arbeiterrats war keine öffentliche Versammlung. Hoffmann war also gewissermaßen ein Spitzel. Ähnlich liegt es in Osterode, und hier ist doch nur durch das Eingreifen unserer Parteigenossen bei Ausbruch der Revolution verhindert worden, daß aufgrund von schwarzen Listen eine ganze Anzahl von militärischen Leitern ermordet wurden. Wenn das so weiter geht, findet eine sehr starke Abwanderung nach links statt.

Abg. Seemann bestätigt, daß ganze Ortsvereine von 2000 bis 2500 Mitgliedern geschlossen zur USP übertreten. Die freiwilligen Grenzschutztruppen haben ihre Mannschaften aus drei Gründen bekommen: 1. wegen der guten[168] Verpflegung, 2. wegen der guten Löhne, 3. aus Anhänglichkeit an die Offiziere. Diese Offiziere würden ihre Truppen zu jedem Zwecke brauchen können.

Bei der an sich durchaus nötigen Operation in Königsberg13 sind soviel Übergriffe vorgekommen, daß dabei unsere Partei kaputtgeht. Hunderte von Mehrheitssozialisten sind grundlos eingesperrt worden: in einem Fort allein 176 Mann, von denen 170 Mann wieder freigelassen werden mußten; in einem andern Fort mußten fast 200 Mann wieder freigelassen werden. Leutnant Stumpf, ein durchaus ruhiger sachlicher Mann, welcher Tag und Nacht auf dem Hauptbahnhof seine Pflicht und Schuldigkeit getan hat, zu einer Zeit, als die ganze übrige Verwaltung versagte, wurde sofort eingesperrt, als die Truppen einrückten. Winnig hat ihn zwei- oder dreimal freibekommen, aber er wurde immer wieder sofort verhaftet. Man wirft ihm vor, am 9. November als Offizier die rote Kokarde getragen zu haben; das verstoße gegen die Standesehre. Jede Verständigung mit dem Generalkommando in Königsberg ist ausgeschlossen. Deshalb kann ich den Wunsch Winnigs, ihm bestimmenden Einfluß zu gewähren, nur unterstützen.

13

Am 3.3.1919 war im Verlauf einer militärischen Aktion die Marinevolkswehr Königsberg, die sich geweigert hatte, Weisungen der militärischen Kommandostellen und des RKom. auszuführen, entwaffnet und zahlreiche ihrer Mitglieder verhaftet worden; näheres s. Winnig, August: Heimkehr, Hamburg 1935, S. 164 ff.

Der Arbeiterrat in Königsberg tagte im dortigen Schloß, das er gut in Ordnung hielt. Als die Truppen einrückten, wurde er daraus entfernt und hat bis heute noch keine andere Unterkunft gefunden, während die Soldaten in einer unverantwortlichen Weise im Schloß hausen. Die Verpflegung der freiwilligen Truppen in Königsberg, die zum größten Teil aus wohlgenährten Bauernsöhnen bestehen, hat ungeheuer viel böses Blut gemacht. Sie bekamen in der Zeit vom 5. bis 19. März täglich 1000 Gramm Brot, 375 Gramm Fleisch oder 200 Gramm Speck und 80 Gramm Butter. Das hat die USP aufgegriffen und Spartakus damit das wirksamste Agitationsmaterial gegeben.

Abg. Wolff bestätigt das Abschwenken der Arbeitermassen nach links. In dem Kirchdorf Skillen im Kreise Ragnit wurde ein Lehrer, der eine sozialdemokratische Versammlung abhielt, von Soldaten verprügelt, und die Versammlung wurde gesprengt.

Abg. Kronen verliest einen Protest gegen die Verhaftung des Vollzugsrats in Königsberg. Die Mitglieder des Vollzugsrats sind auf das Schloß geladen worden und dann hinter Schloß und Riegel gebracht worden. Die Offiziere feiern in Königsberg Siegesfeiern, wozu wirklich kein Anlaß vorliegt. Die Feldeisenbahner drohten im Osten zu streiken, weil die Verwaltung anstelle der bewährten früheren Gebührenordnung eine neue ausgearbeitet hatte, bei der die oberen Bezüge erhöht und die unteren verschlechtert wurden. Schließlich ist eine Einigung zustande gekommen, die der Regierung einige Hunderttausend Mark kostet. Als ich die Forderungen dieser Leute im Kriegsministerium vortrug, hat mir der Major Kuntze gedroht, von dem Hausrecht Gebrauch zu machen. Dabei bin ich Vertreter der Ostfront und Mitglied der Nationalversammlung. Wer sich in die neuen Dinge nicht finden kann, soll zurücktreten, es gibt genügend[169] befähigte Leute, um sie zu ersetzen. Die Feldeisenbahner im Osten wollen wissen, wann die Sache endlich zu Ende geht. Unter ihnen sind viele verheiratete Leute, die nach Hause wollen. Neuerdings sollte die MED 8 von Tilsit nach Schaulen verlegt werden. Das hat große Aufregung gegeben. Ein Grund für diese Verlegung war nicht ersichtlich. Die Verwaltung des ziemlich kleinen Eisenbahnnetzes kann ebenso gut von Tilsit aus weitererfolgen. Die Leute glauben, daß eine neue Offensive bevorsteht; hier muß Beruhigung geschaffen werden.

Abg. Schmidt wendet sich dagegen, daß der Kommandeur von Küstrin, von Schuckmann, der sich des größten Vertrauens bei Militär und Bürgerschaft erfreute, grundlos von seinem Posten entfernt worden sei. Es hätte nur gehießen, daß in Küstrin die Anwerbung von Freiwilligen behindert worden sei. Das ist aber nie der Fall gewesen. Auch bei Noske war in dieser Sache nichts zu erreichen. Auch sonst scheint sich in Küstrin etwas gegen uns vorzubereiten, das zu ernsten Unruhen führen wird. Man sucht die Offiziere, die früher entfernt worden sind, wieder in die Ämter hineinzubugsieren zum Schaden der ganzen Bewegung.

MinPräs. Scheidemann bittet, sich kurz zu fassen, er habe soeben dringende Nachrichten bekommen, die eine Kabinettssitzung in Friedensangelegenheiten in kürzester Frist notwendig machten.

Abg. Davidsohn: Als Reichskommissar Winnig den Raum betrat, hieß es: da kommt der Angeklagte. Jetzt hat er sich sehr schnell in den Ankläger verwandelt. Merkwürdig ist, daß, solange Männer, die wissen, was sie wollen, an einem bestimmten Posten sind, die Sache geht. Sind sie aber fort, dann geht es nicht mehr. Das beweist, daß gewisse Institutionen sich nur der Not gehorchend fügen. Wenn die nachgeordneten Instanzen sich vielfach über die Forderungen der neuen Zeit hinwegsetzen, so folgen sie damit nur dem Beispiel des Kriegsministeriums. Hoffentlich gibt der Ministerpräsident uns die Zusicherung, daß den Wünschen Winnigs Folge geleistet wird, damit wir nicht mit leeren Händen aus dem Saale herausgehen. Es stellt sich immer heraus: oben sind die besten Absichten, aber sie sickern nicht nach unten durch.

Kriegsminister: Die einzelnen Fälle sind mir nicht genügend bekannt, um darauf ausführlich eingehen zu können. Vor allem handelt es sich um Klagen über die Grenzschutztruppen, die zum Teil unbedingt berechtigt sind. Die Grenzschutztruppen sind in höchster Not herbeige<holt>, wir schickten, was wir kriegen konnten, damals nach dem Osten, teilweise ziemlich zweifelhaftes Menschenmaterial. Das war im Dezember und jetzt haben wir April. Für eine so schnellebige Zeit wie die unsrige scheinbar eine lange Zeit, aber für die Durchführung einer neuen Sache doch eine sehr kurze. Jetzt soll die Grenztruppe in die Reichswehr übergeführt werden, wodurch eine planmäßige Neuregelung eintritt. Die Truppen werden dann der neuen Regierung einen Treueid leisten müssen, auch werden dann die Eigenmächtigkeiten in bezug auf die Verpflichtung usw. verschwinden.

Der Belagerungszustand ist ein äußerst schwieriges Kapitel. Als Soldat würde ich hoch erfreut sein, wenn ein neues Belagerungszustandsgesetz herausgegeben werden könnte, das möglichst viel von Recht den militärischen Behörden[170] abnehmen könnte (<Hört, Hört>!). Jetzt geht mit Erklärung des Belagerungszustandes die volle Gewalt auf den Militärbefehlshaber über, und er kann nicht einmal im Wege der Vereinbarung einen Teil dieser Gewalt delegieren14. Das müs[ste] aber ermöglicht werden. Es wäre sehr erwünscht, wenn für al[le] Reichskommissare – es gibt außer Winnig noch andere R[eichs]kommissare – eine Verordnung erlangt werden könnte, wor[in] genau gesagt wird, was die Kommissare zu tun haben und [was] die Soldaten zu tun haben. Wenn die Kommissare der Ans[icht] sind, daß ein Offizier nicht richtig gehandelt hat, so [kann] er Einspruch erheben bei der leitenden militärischen St[elle], und wenn dies nichts nützt, die Entscheidung der Regier[ung] anrufen. Die Regierung hat zweifellos die Oberkommandogewalt. Die Anträge des Reichskommissars sind mir bekannt, und nach der heutigen Aussprache zweifle ich gar nicht daran, daß sich eine Einigung finden läßt. Wir stehen in der nächsten Zeit vor besonders großen Schwierigkeiten infolge des Durchzugs der Haller’schen Truppen und müssen deshalb den Grenzschutz Ost im Norden sowohl wie im Süden fest in der Hand der Oberleitung haben15.

14

Für die Verhängung des Belagerungszustandes galt noch immer das pr. Gesetz über den Belagerungszustand vom 4.6.1851 (Gesetz-Sammlung für die Königlich Pr. Staaten, 1851, S. 451), nach dessen § 1 der Kommandierende General eines Armeekorps den Belagerungszustand für seinen Kommandobereich zu verhängen hatte. Nach § 4 ging im Falle der Verhängung des Belagerungszustandes die gesamte vollziehende Gewalt auf die Militärbefehlshaber über; „die Civilverwaltungs- und Gemeindebehörden haben den Anordnungen und Aufträgen der Militärbefehlshaber Folge zu leisten“. Vgl. Dok. Nr. 60.

15

Am 17.4.1919 verdeutlichte der PrKriegsM seine Auffassung nochmals in einem Schreiben an die RReg., in dem er unter Hinweis auf die Transporte der Haller-Armee die Notwendigkeit der Unterstellung des OK Nord ausschließich unter den Befehl der OHL unterstrich, aber hinzufügte: „[…] Einvernehmen mit Reichskommissar Winnig [war] bei dieser Regelung bisher einwandfrei. AOK Nord wird erneut angewiesen, dem Wirken des Reichskommissars jede Unterstützung ohne Zeitverlust zuteil werden zu lassen und in jedem Fall, wo einem Ansuchen des Reichskommissars nicht sofort entsprochen werden kann, auf dem Dienstwege zu berichten. Gegen genauere Bestimmung der innerpolitischen Befugnisse des Reichskommissars bei Belagerungszustand hat das Kriegsministerium keine Bedenken, hält sie im Gegenteil für erwünscht.“ (R 43 I /1844 , Bl. 42).

Ich wäre dankbar, wenn mir jeder Fall von Übergriffen der Offiziere auf politische Dinge genau bekanntgegeben wird, möglichst mit Zeugen. Oft nehmen die Dinge bei gründlicher Prüfung eine selbst für den ursprünglichen Ankläger überraschende Wendung. Wo aber Übergriffe festgestellt werden, da wird selbstverständlich eingegriffen! Der Belagerungszustand ist über Straßburg in Westpreußen, wo vollkommen Ruhe herrscht, und anderswo verhängt worden, um das Nachrichtennetz fester in die Hand zu bekommen und das Herüberschwirren der polnischen oder sonstigen deutschfeindlichen Agitation besser unterbinden zu können. Davon hängt auch die Postzensur und die häßliche Erscheinung der Verletzung des Briefgeheimnisses zusammen.

Die Eingriffe des Reichskommissars in das Ernährungswesen in Königsberg waren gewiß notwendig; aber er wird verstehen, daß uns derartige Eingriffe sehr ungelegen kommen, zumal die Gefahr besteht, daß dadurch die Ernährungslage in anderen Gebieten gestört wird.

Was die hohen Lebensmittelportionen der Freiwilligentruppen angeht, so[171] ist die ganze Naturalienverpflegung der Grenzschutztruppen zweifellos ein gewisses Lockmittel, zumal die Gehälter im Verhältnis zu den übrigen Löhnen recht gering sind. Die für Königsberg angegebenen Mengen sind aber jedenfalls eine Überschreitung des Üblichen. In Zukunft bekommen die Grenzschutztruppen nur noch zweimal die Woche frisches Fleisch.

Zu der Frage der Verlegung der MED 8 will ich nur betonen, daß ein weiteres Vorgehen im Osten nicht beabsichtigt ist. Die Schwierigkeit mit den Soldatenräten in Libau und Kowno wird sich hoffentlich regeln, wenn die dortigen Truppen in die Reichswehr übergeführt werden. Der Abgeordnete Davidsohn hat ganz richtig ausgeführt, daß die Verordnungen nicht richtig aufgefaßt werden. So ist die Verordnung über die Neuordnung der Bezüge der Lazarettinsassen in der Öffentlichkeit falsch verstanden worden. Zwar werden für diese die Friedenslöhnungen wieder eingeführt, dafür aber eine tägliche Zulage von zwei M[ark] bewilligt, so daß die Leute neben vollkommen freier Station ein Taschengeld von 60 M erhalten. Mehr kann sich das Deutsche Reich im Augenblick nicht leisten. Das stand allerdings auf der zweiten Seite, während auf der ersten Seite stand, daß die Friedenslöhnungen wieder eingeführt werden. Mit den Zulagen der Unteroffiziere ist es ähnlich. Wir dürfen aber diese Veröffentlichungen nicht in Form von Zeitungsartikeln bringen, denn wer zahlen muß, braucht genaue Angaben, woran er sich zu halten hat. Allerdings darf man nicht unberücksichtigt lassen, daß die Sachkenntnis und Dienstkenntnis bei Offizieren und Unteroffizieren im Laufe des Krieges vielfach sich sehr verloren hat. Als ich mein Regiment auf dem „Toten Mann“ übernahm, erzählte man mir, daß man die Vorschriften nach Hause geschickt habe, hier draußen brauche man sie nicht mehr. Im übrigen bitte ich, mir einzelne Fälle schriftlich mit genauen Angaben zu übermitteln, ich werde dann den einzelnen Fällen nachgehen.

Ministerpräsident Scheidemann: Es ist sehr gut, daß wir uns offen ausgesprochen haben. Ich kann Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, daß dies eigentlich schon längst hätte geschehen müssen. Wenn in dem Brief von Rodemann stand, daß er fürchte, auch verhaftet zu werden, so bedeutet das nichts für uns. Wir müssen wissen, wie die Dinge wirklich sind. Wenn ein Teil der Offiziere mit dem jetzigen Lauf der Dinge nicht einverstanden ist, das ist bei der ganzen Erziehung dieser Herren durchaus begreiflich. Ebenso lassen mancherlei Vorgänge – ich erinnere an Halle und an Dresden16 – die Übergriffe wenigstens erklärlich erscheinen. Die Herren haben sich in den Dienst der Regierung gestellt, um zu verhindern, daß Zustände eintreten, von denen kein Mensch hier etwas wissen will. Man kann die Truppen nicht in einzelne aussieben, wenn einem das Wasser zum Halse steht. Da heißt es schnell handeln. Wenn die Beschwerden bei den zuständigen Stellen nichts nützen, wenden Sie sich doch an uns. (Zuruf: Wir haben uns an Noske gewandt, aber vergeblich!) Wenn Sie dort nichts erreichen, schadet es nichts, wenn Sie sich an uns wenden. Von uns weiß niemand etwas davon, daß Hunderte von Personen in Königsberg[172] verhaftet worden sind. Wenn Sie da Beschwerden einreichen, schicken Sie uns doch eine Abschrift! Die Befugnisse von Winnig müssen in anderer Weise umschrieben werden. Wir haben uns schon seit langem mit dem Gedanken getragen, an den Kommandostellen Vertrauensleute zu installieren, die den Offizieren bei ihren Erlassen mit Rat und Tat zur Seite stehen sollen; die Offiziere können ihrer ganzen Schulung nach nun einmal nicht die politischen Wirkungen ihrer militärischen Befehle immer übersehen.

16

Am 2.3.1919 war in Halle Oberstleutnant v. Klüber, am 12.4.1919 in Dresden der sächs. KriegsM Neuring ermordet worden.

Wenn uns von konterrevolutionären Bestrebungen der Offiziere berichtet wird, so können wir sie nicht ohne weiteres entlassen, sondern wir müssen sie zunächst selber hören. Wir müssen feststellen, ob sie sich solche Übergriffe <haben> zu Schulden kommen lassen und ob sie nicht in die neuen Verhältnisse hineinpassen. Dies gilt auch für andere Behörden. Aber es ist äußerst schwierig, die Behörden umzuwechseln. Bedenken Sie doch, welche Schwierigkeiten es oft schon bereitet, einen geeigneten Redakteur oder Parteisekretär innerhalb unserer Partei zu finden! Woher sollen wir alle die Beamten hernehmen? Wenn sich aber die Beamten als böswillig oder unfähig erwiesen haben, da wollen und werden wir zugreifen, darauf können Sie sich felsenfest verlassen. Unsere große Partei in der Nationalversammlung sollte sofort eine Kommission von fünf Männern einsetzen, um alle diese Beschwerden entgegenzunehmen. (Zuruf: Eine solche Kommission aus 15 Männern besteht schon, sie ist aber noch nicht zusammengetreten.) Eine solche Kommission ist zu groß. Außerdem müssen wir militärische Aufklärungsstellen schaffen über alle Pflichten und Rechte der Soldaten usw. Ich wiederhole: Geben Sie uns Material, das hieb- und stichfest ist, dann werden wir, soweit es in unseren Kräften steht, schnell und durchgreifend handeln.

Abg. Steinkopf: Das Verhältnis von Winnig zum Militär ist vollständig geklärt worden, aber nicht sein Verhältnis zu Batocki. – Die alten verknöcherten Beamten müssen beseitigt werden.

Abg. Schöpflin: Im Kriegsministerium muß ein tüchtiger Politiker dem Kriegsminister zur Seite gestellt werden. Unterstaatssekretär Göhre hat vollständig versagt. Auch bei dem Reichswehrminister, der vollständig überlastet ist, ist ein solcher Politiker erforderlich.

Abg. Giebel: Ich war überrascht, aus den Worten des Ministerpräsidenten zu ersehen, wie wenig Kenntnis die Zentralreichsleitung von den Zuständen im Reiche hat. Der Erlaß des Ministerium des Innern über die Bewaffnung des flachen Landes17 hat die größte Beunruhigung in den Arbeiterkreisen hervorgerufen.[173] – Von den Ostschutztruppen sind Mannschaften entlassen worden, weil sie sich nicht bereit erklärt haben, im Innern zu kämpfen. – Alle Nachrichten stimmen dahin überein, daß man im Osten die Gegenrevolution vorbereitet.

17

Gemeint ist die Verfügung des PrIM vom 15.4.1919 betr. die Errichtung von Einwohnerwehren (Ministerialblatt für die Pr. Innere Verwaltung, hrsg. v. PrIMin., 80 Jg. 1919, S. 199). Darin hieß es u. a.: „Gegen die mit der schweren Lebensmittelnot zunehmende Unsicherheit in Stadt und Land, gegen die aus dem Anwachsen des Verbrechertums entstehende größere Gefahr für Leben und Eigentum, gegen bewaffneten Aufruhr, Plünderung und Bandendiebstahl sich selbst zu schützen, ist Pflicht und Recht der Einwohner des Staats. Für diesen Selbstschutz sind – wo die Verhältnisse es erfordern – und, soweit tunlich, in möglichster Anlehnung an schon bestehende ähnliche Einrichtungen Einwohnerwehren zu bilden.“ Im folgenden Text wurden die Organisationsgrundsätze festgelegt, u. a. die Pflicht der Mitglieder der Einwohnerwehren, auf die republikanische Staatsform und die RReg. vereidigt zu werden; die Waffen waren auf Anforderung des zuständigen OPräs. durch die Vermittlung des PrKriegsM zur Verfügung zu stellen, doch sollten in der Regel den Mitgliedern der Einwohnerwehren nur die Gewehrschlösser ausgehändigt werden; die Gewehre selbst und die Munition waren bis zum Eintritt des Notfalls unter Verschluß zu halten.

Abg. Hörsig berichtet als Preußischer Staatskommissar über die Verhältnisse im Regierungsbezirk Oppeln, die wesentlich günstiger als in anderen Gebieten liegen. Offiziere, die sich nicht in die neue Ordnung einfügen wollten, sind beseitigt worden. Allerdings hat man einen Kommandierenden General bei der Gelegenheit die Treppe hinaufgeworfen, indem man ihn zum Oberkommandeur Süd machte18. Dabei weiß niemand, was dieser große Apparat von 200 Mann eigentlich zu tun hat. Weiter ist gegen einen Leutnant Minut, der sich auf den Boden der heutigen Regierung gestellt hat, von der 117. Infanterie-Division ein Verfahren eingeleitet und er augenblicklich vom Dienst dispensiert worden. Einen Major, der eine Kaisergeburtstagsrede gehalten hatte, haben wir nach Breslau kommen lassen und ihm klargemacht, daß wir für solche Scherze kein Verständnis haben.

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Gen.d.Inf. v. d. Borne.

Im Regierungsbezirk Oppeln haben wir drei Divisionen: die 12. Division, die 2. Garde-Division und die 117. Infanterie-Division. Im großen und ganzen geht der Grenzschutz gut, dank der Tätigkeit des Generalmajors Höfer von der 117. Infanterie-Division. Die Durchführung des Belagerungszustandes, der in Zweidritteln des Regierungsbezirks Oppeln besteht, geht sehr glatt vor sich. Wenn irgendetwas gemacht werden soll, sei es was es solle, geschieht es stets im Einvernehmen mit mir. Ohne meine Zustimmung darf niemand aus politischen Gründen verhaftet werden.

Kriegsminister nimmt dem Unterstaatssekretär Göhre gegenüber dem Abgeordneten Davidsohn in Schutz. Er hat sich äußerste Mühe gegeben und sehr viel Nützliches geleistet.

Die Äußerung des Vorredners über Generalmajor Höfer ist mir deshalb besonders erfreulich, weil bei uns auch schon einmal ein Antrag auf sofortige Amtsenthebung dieses Herrn eingegangen war. Sie sehen, man kann solche Anträge, die wie aus der Pistole geschossen kommen, nicht immer sofort befolgen.

Die Verordnung über die Bewaffnung der Landbevölkerung ist vom Ministerium des Innern auf Veranlassung von Reichswehrminister Noske herausgegeben; sie soll jetzt vom Staatsministerium abgeändert werden. Ihr war eine private Ausarbeitung über die Einwohnerwehren beigegeben, die vielfach fälschlich für amtlich gehalten wurde.

Die ausgezeichneten Zustände im Regierungsbezirk Oppeln sind sicherlich auf das gute Zusammenarbeiten zwischen Militär und Kommissar zurückzuführen. Die dortige Zentrumspartei hat aber wegen des <Verbots> der oberschlesischen Zeitungen auf 10 Tage heftig remonstriert.

[174] Landwirtschaftsminister Braun: Mir war ein Mißverständnis unterlaufen: Ich habe die Mitteilungen, die hier erwähnt wurden, nicht von dem Abg. Borowsky direkt, sondern durch die Vermittlung des Abg. Seemann bekommen. In Ostpreußen liegt in der Sache System. Die Truppen rekrutieren sich dort in der Hauptsache aus Grundbesitzerkreisen, die agrarisch-konservativ gerichtet sind und die monarchische Überzeugung noch nicht aufgegeben haben. Für die Stimmung dort ist es typisch, daß man einen sozialdemokratischen Versammlungsredner verhauen hat, so etwas ist bei uns nur vor 20 Jahren vorgekommen. Hier muß scharf durchgegriffen werden, sonst wagen Hunderte und Tausende nicht, für die Regierung offen einzutreten. Die Leute in der Provinz fühlen sich vollständig verlassen. Warum sind die Truppen nicht schon längst aufgrund der Notverfassung auf die neue Regierung vereidigt? Allgemein wirbt man nur Landarbeiter für die Regimenter an und lehnt städtische Arbeiter ab und das, während wir uns bemühen, möglichst viel Arbeiter aufs Land zu bekommen. Die Angriffe gegen Winnig sind doch nicht alle entkräftet; er hat viel zu viel Schwäche gezeigt. Ein Reichskommissar muß sich die Befugnisse nehmen, die er braucht. Kommt es zum Konflikt, so ist das die beste Gelegenheit, seine Befugnisse klarzustellen. Die Regierung hat den Oberbefehl, kann ihn aber zweifellos bis zu einem gewissen Grade auf einen Reichskommissar delegieren. Hier handelt es sich vor allem um das politische Vorgehen der Kommandogewalt, hier muß der Kommissar der Regierung maßgebend sein.

Reichskommissar Winnig: Nach allem, was ich heute hier gehört habe, liegen die Dinge in Westpreußen erheblich schlechter als in Ostpreußen. Ich habe noch keine Klagen oder Anregungen aus Westpreußen bekommen. Den Vorwurf der Schwäche höre ich heute zum ersten Male. Als vernünftiger Mann habe ich Konflikte vermieden, wo es irgend ging. Der skandalöse Fall von Skillen im Kreise Ragnit ist nicht typisch, sondern er steht einzig da. Dieser Fall sowie die Ereignisse in Königsberg und Danzig haben den Stein ins Rollen gebracht, und ich kann jetzt auf meinen Posten nur zurückkehren, wenn ich neue Vollmachten erhalte. Die jetzigen Vollmachten reichen nicht aus, um dem verderblichen Einfluß nicht der Gesamtheit der Offiziere, sondern eines Teiles der jüngeren Offiziere entgegenzuwirken.

Ministerpräsident Scheidemann: Unsere feste Absicht ist, diese Mißstände, soweit das überhaupt in menschlichen Kräften liegt, zu beseitigen, und ferner die Vollmachten für die Regierungskommissare zu erweitern. Wir gehen diesen Weg in der Überzeugung, unser Bestes zu tun, und ich bitte Sie, daß auch Sie sich bewußt sind, alles zu tun, was in Ihren Kräften steht. Ich schließe die Sitzung19.

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Im Anschluß an diese Sitzung formulierte die MSPD-Fraktion in der NatVers „Anregungen für die Reichsregierung“, in denen nochmals die Erweiterung der Vollmachten Winnigs gefordert wurde, und zwar, „indem er 1. vor der Verhängung des Belagerungszustandes gehört werden muß […], 2. das Recht erhält, wenn es ihm richtig erscheint, den verhängten Belagerungszustand sofort wieder aufzuheben, 3. einen ausschlaggebenden Einfluß auf dem Gebiete der Versammlungspolizei erhält, 4. die Befugnis erhält, alle erforderlichen Schritte zur Beseitigung unzuverlässiger Offiziere […] zu tun […]“ (R 43 I /1844 , Bl. 19). In einem Rechtsgutachten des RJMin. vom 7.5.1919 über die Anregungen der MSPD-Fraktion der NatVers wurde erklärt, grundsätzlich habe sich der Militärbefehlshaber, der den Belagerungszustand verhängt hat, unverzüglich an das StMin. zu wenden, das den Belagerungszustand zu bestätigen habe; im übrigen könne auch der RPräs. den Belagerungszustand verhängen (s. Dok. Nr. 60). „Soweit die Entscheidung über den Belagerungszustand von dem RPräs. oder dem PrStMin. getroffen werde, sei für eine maßgebende Mitwirkung des Reichskommissars Winnig kein Raum. Denn als Kommissar der RReg. und der PrReg. sei er an die Weisungen dieser Regg. gebunden. Aber auch bei der vorläufigen Erklärung des Belagerungszustandes empfehle es sich nicht, den Militärbefehlshaber an die Zustimmung des RKom. zu binden […] Unbedenklich sei es dagegen, den RegPräs. aufzugeben, sich vor einem an den Militärbefehlshaber gerichteten Antrag auf Verhängung des Belagerungszustandes, soweit nicht besondere Beschleunigung geboten sei, mit dem RKom. ins Benehmen zu setzen, und die Militärbefehlshaber anzuweisen, nach Möglichkeit den RKom. zu hören, bevor sie selbständig den Belagerungszustand erklärten, und ihn, wenn eine Anhörung nicht möglich gewesen sei, sofort nach Verhängung des Belagerungszustandes auf dem schnellsten Wege in Kenntnis zu setzen […]“ (R 43 I /1844 , Bl. 48-51). In einem Schreiben vom 15.5.1919 an den RMinPräs. schloß sich der PrMinPräs. dem Gutachten an (R 43 I /1844 , Bl. 52). Damit war eine Erweiterung der Befugnisse Winnigs, was die Zuständigkeit bei der Verhängung des Belagerungszustandes anging, hinfällig geworden; die Vollmachten der RKom. Severing und Hörsing waren in ähnlicher Form abgefaßt wie die Winnigs und sahen ebenfalls lediglich eine Zusammenarbeit mit den militärischen Stellen vor (R 43 I /1844 , Bl. 53,152, 91-93).

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