2.124 (sch1p): Nr. 118 Geheime Aufzeichnung des Reichsministers des Auswärtigen über die Kabinettssitzungen in Weimar am 18. und 19. Juni 1919. 2. Juli 1919

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Nr. 118
Geheime Aufzeichnung des Reichsministers des Auswärtigen über die Kabinettssitzungen in Weimar am 18. und 19. Juni 19191. 2. Juli 1919

1

Seit dem 16.6.1919 fanden die Kabinettssitzungen wieder in Weimar statt. „Die Sitzungen des Kabinetts in Weimar nach der Rückkehr der Friedensdelegation“, schreibt Brecht in seinen Erinnerungen, „wurden entweder im Schloß oder, wenn gerade die Nationalversammlung tagte, im Nationaltheater (das sie ja beherbergte) abgehalten. Dort stand an der Tür des Sitzungszimmers: ‚Ankleideraum für das Ballett.‘ Niemand achtete auf diese groteske Inschrift. Die entscheidenden Zusammenkünfte waren von tragischem Ernst, ja von Verzweiflung gekennzeichnet.“ (Brecht, Arnold: Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen 1884–1927, Stuttgart 1966, S. 280).

PA, Nachlaß Brockdorff-Rantzau, Az. 19

Am Mittwoch, dem 18. Juni, traf ich mit der Delegation um 7 Uhr morgens nach zwei Nachtfahrten von Versailles in Weimar ein. Auf der Fahrt hatte die Delegation die Übersetzung der Antwort der Entente angefertigt und das ablehnende Gutachten, das von allen ersten Delegierten unterschrieben war2, abgefaßt. Um 9 Uhr verließen wir den Zug, um 10 Uhr war bereits eine Kabinettssitzung angesetzt. Ich begab mich vor der Sitzung zum Reichspräsidenten, um ihm kurz Vortrag zu halten. Er beglückwünschte mich zu meiner Haltung in Versailles, durch die das Ansehen und Prestige des Reichs gehoben sei und erklärte, er werde diese Bedingungen nicht annehmen.

2

Siehe Dok. Nr. 113.

Bei der darauffolgenden Sitzung, die bis ½1 Uhr dauerte, hielt ich einen eingehenden Vortrag, in dessen Verlauf ich erklärte, ich hätte während dreier Kriegsjahre gegen zwei Worte gekämpft; das eine laute „durchhalten“, das andere „die Zeit laufe für uns“. Heute müsse ich aus innerster Überzeugung erklären, daß jetzt wirklich beide Worte zutreffen, daß wir mit einer Ablehnung den Block der Entente sprengen und durch Herbeiführung mündlicher Verhandlungen, in deren Verlauf die Unmöglichkeit der Durchführung der Bedingungen sich herausstellen würde, mit Sicherheit einen erträglichen Frieden erreichen könnten. Das Kabinett äußerte sich nicht. Die sämtlichen Herren der Delegation ebenso wie der Unterstaatssekretär Baron Langwerth erklärten mir aber, meine Ausführungen hätten sichtlich tiefen Eindruck gemacht.

[501] Im Laufe des Nachmittags wurde mir aber bereits von verschiedenen Seiten mitgeteilt, die Stimmung sei sehr lau; Erzberger habe hinter den Kulissen mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln für die Annahme gearbeitet.

Am späten Nachmittag fand eine zweite Sitzung3 statt, die mit einer einstündigen Unterbrechung von ½8 bis ½9 Uhr sich bis in die Nacht um 3 Uhr ausdehnte. Im Laufe dieser Sitzung äußerten sich einzelne Mitglieder des Kabinetts, und der Reichspräsident, der persönlich der Sitzung beiwohnte, hielt eine lange Rede, die mit einem sehr energischen Auftakt begann, indem er erklärte, wenn die Front in der Heimat geschlossen geblieben wäre, hätten wir es wohl auf eine Ablehnung ankommen lassen können, in dem Augenblick aber, als durch eine Indiskretion bekannt wurde, daß das Kabinett gespalten sei, habe die Partie als verloren gelten müssen. Es sei jetzt Aufgabe der Regierung, sich damit abzufinden. Zum Schluß erklärte Herr Ebert dann plötzlich, er für seine Person sei bereit, aus der Situation die letzten Konsequenzen zu ziehen. Die Rede war so unklar, daß ich nicht verstand, was der Präsident persönlich beabsichtigte. Fest steht, daß seit diesem Augenblick eine energische Aktion im Sinne der Ablehnung nicht mehr möglich erschien. Denselben Eindruck von der Wirkung der Rede des Reichspräsidenten hatte Baron Langwerth, der sie als verhängnisvoll bezeichnete.

3

Aus der folgenden Aufzeichnung über die Kabinettssitzung in der Nacht vom 18. zum 19.6.1919 geht nicht klar hervor, daß die Kabinettskrise bereits eingesetzt hatte; in seinen Erinnerungen berichtet Erzberger: „In der Nacht von dem 18. auf den 19. Juni (Fronleichnamstag) hielt das Kabinett unter dem Vorsitz des Reichspräsidenten die entscheidende Sitzung ab; das Für und Wider wurde nochmals eingehend durchgesprochen. Das Ministerium fiel bei der Abstimmung in zwei gleich große Teile – 7 gegen 7 Stimmen – auseinander; für die Unterzeichnung stimmten außer mir die beiden Zentrumsminister Giesberts und Bell sowie 4 Sozialdemokraten, gegen die Unterzeichnung 3 Demokraten, der Außenminister Graf Brockdorff-Rantzau und 3 Sozialdemokraten; es wurde aber beschlossen, daß noch ein erneuter Versuch der Einigung unter den Mehrheitsparteien gemacht werden sollte.“ (Erzberger, Matthias: Erlebnisse im Weltkrieg, Stuttgart/Berlin 1920, S. 376 f.). In seinen allerdings sehr viel später abgefaßten Erinnerungen stellt Landsberg das Abstimmungsergebnis etwas anders dar: „Unter dem Vorsitz Eberts folgte die entscheidende Kabinettssitzung. Hauptwortführer derjenigen, die für die Annahme eintreten zu müssen glaubten, waren Erzberger und David. Bei der Abstimmung ergab sich, daß acht Stimmen gegen, sechs für die Unterzeichnung waren. Ebert, der selbst Gegner war, stellte die unbestreitbare Tatsache fest, daß das Kabinett aktionsunfähig sei und daß nunmehr die Entscheidung bei den Fraktionen liege.“ (Landsberg, Otto: Die Entscheidung im Kabinett 19. Juni 1919, in: Schiff, Victor: So war es in Versailles, Berlin 1929, S. 114).

Erzberger hielt sich während der Sitzung vollkommen zurück, arbeitete aber umso intensiver in der Nationalversammlung. So verlangte er vor allem, daß das Gutachten der Delegation4 unter allen Umständen geheim gehalten werde.

4

Siehe Dok. Nr. 113.

Am Donnerstag, dem 19. war wieder eine Sitzung am Vormittage angeordnet. Von zuverlässiger Seite hatte ich erfahren, daß der Reichswehrminister Noske, vor allem unter dem Einfluß Davids, für die Annahme der Bedingungen sei. Ich machte es, um ihn umzustimmen, möglich, ihn vor der Sitzung zu sprechen und erklärte ihm, er wisse, daß ich das Amt nur nach Rücksprache mit ihm übernommen habe; er habe mir stets die Wahrheit gesagt, und ich bitte ihn, da für meine Stellungnahme vor der Nationalversammlung sein Urteil für mich von[502] höchstem Werte sei, mir offen seine Ansicht zu sagen. Ich könne doch nicht glauben, daß er als Reichswehrminister der schmählichen Bedingung der Auslieferung deutscher Heerführer und Ubootkommandanten, die doch nur ihre Pflicht getan hätten, zustimmen werde. Noske erklärte man darauf, er habe sich in keiner Richtung gebunden und empfinde vollkommen, daß diese schmachvolle Bedingung nicht nur unannehmbar, sondern für den Geist der Armee verhängnisvoll sein müsse.

Nach dieser Äußerung Noskes glaubte ich bestimmt, ihn für meine Auffassung gewonnen zu haben, sah mich aber im Laufe der Verhandlungen getäuscht. Während der Nachtsitzung des Kabinetts5, die bis ½6 Uhr morgens dauerte, erklärte er, es sei zwar energisch, wenn 15 Männer sich an die Spitze stellten und den Friedensvertrag ablehnten, sie könnten aber nichts ausrichten, wenn 60 Millionen Memmen hinter ihnen ständen; das Volk sei verhungert, verlumpt und ohne jede Moral, jeden Widerstandes unfähig.

5

Gemeint ist die Sitzung des RKab. nach seinem Rücktritt beim RPräs., die am 20. 6. um ½1 Uhr morgens begann, s. unten.

Um ½10 Uhr [19. 6. abends] fand eine Sitzung der Mehrheitsparteien statt6, in deren Verlauf besonders Professor Schücking außerordentlich energisch[503] für die Ablehnung des Friedensvertrages eintrat. Da die Diskussion drohte, ins Uferlose zu gehen, weil die einzelnen Parteimitglieder alle schon zehnmal erörterten Argumente anführten, fragte Scheidemann mich, ob ich bereit sei, mit ihm sofort meine Demission einzureichen, um dieser frucht- und sinnlosen Debatte ein Ende zu machen. Ich erklärte mich ebenso wie der Minister Landsberg unverzüglich einverstanden. Die Sitzung wurde darauf geschlossen und dem Reichspräsidenten von der Demission des Kabinetts Meldung erstattet. Erzberger erklärte sich mit auffallender Geschäftigkeit mit der Demission des Kabinetts einverstanden und äußerte, die Situation werde dadurch bedeutend geklärt.

6

Weitere Hinweise auf diese entscheidende Sitzung sind weder in den Aktenbeständen des BA noch des PA aufzufinden. Aus den Pressemeldungen ergibt sich, daß im Verlauf des 19.6.1919 Sitzungen der Fraktionen der NatVers stattfanden, um zu einer Einigungsformel zu gelangen. Über die interfraktionelle Besprechung am 19.6.1919, 10½ Uhr, berichtet Koch-Weser in seinem Tagebuch: „Schiffer teilt mit, daß die Sozialdemokraten mit 75 gegen 39 Stimmen sich entschlossen haben, unter Protest zu unterschreiben. Das Zentrum will unterschreiben, ohne die Urheberschuld anzuerkennen und ohne die Verpflichtung zur Auslieferung zu übernehmen. Auch das Zentrum hat Dissidenten. Beide Fraktionen wollen keinen Fraktionszwang üben. Sie bleiben also in der Minderheit. Sie wollen die Regierung dann nicht weiterführen, so daß eine Regierungskrise entsteht. Dernburg spricht über Eberts Absichten. Ebert würde keine schwarzrote Regierung bilden, sondern zurücktreten. Er schlägt eine weitergehende Formel vor als seine Partei. Er will folgende Vorbehalte: Keine Anerkennung der Alleinschuld. Keine Auslieferung. Verwahrung gegen koloniale Unfähigkeit. Verwahrung gegen Ostmarken. Nach zwei Jahren Revision durch den Völkerbund.“ (Nachl. Koch-Weser , Nr. 16). Der Vermittlungsvorschlag der DDP, den Koch-Weser erwähnt, und der der Entente als Note überreicht werden sollte, lautete:

„1. Danzig, Westpreußen und Netzedistrikt sollen dem Völkerbund unterstellt werden.

2. Allgemeine Revision des Friedensvertrags nach Ablauf von 2 Jahren.

3. Die Festsetzung des von uns zu zahlenden Höchstbetrages für Entschädigungen soll innerhalb der von dem Verbande vorgesehenen Frist durch eine dritte unparteiische Stelle erfolgen.

4. Vom 1. Januar 1920 ab soll Dtl. Anspruch haben, in den Völkerbund einzutreten.

5. Das Schuldbekenntnis fällt fort.

6. Auf die Auslieferung dt. Persönlichkeiten wird verzichtet.“

Hinzu traten einige andere Punkte, die eine Volksabstimmung im Westen bei Kehl, ferner Zollbestimmungen der Rheinprovinz und Bestimmungen über die Rheinschiffahrt betrafen. Im übrigen solle unter Protest unterzeichnet werden (Kölnische Volkszeitung, Nr. 477, 21.6.1919). Die von Brockdorff-Rantzau geschilderte Abendsitzung der Mehrheitsparteien fand auf Grund dieses Einigungsvorschlags statt. Erzberger berichtet in seinen Erinnerungen:

„Am Donnerstag abend wurde in einer erneuten Aussprache mit den Mehrheitsparteien versucht, eine Einigung herbeizuführen. Die Demokraten blieben auf ihrem Standpunkt [eine Seite zuvor hatte Erzberger den demokratischen Vermittlungsvorschlag als „völlig aussichtslos“ qualifiziert]. Es zeigte sich auch bald, daß die Parteiansichten sich nicht näherten, sondern immer mehr auseinandergingen. So machte Ministerpräsident Scheidemann, nachdem er sich mit mir und einigen Ministern rasch in Verbindung gesetzt hatte, der unerquicklichen Besprechung ein Ende, indem er erklärte, daß er jetzt die Demission des Kabinetts dem Reichspräsidenten anzeige.“ (Erzberger, Erlebnisse, S. 377 f.). Vgl. Scheidemann, Philipp: Memoiren eines Sozialdemokraten, Bd. II, Dresden 1928, S. 373; Landsberg, Die Entscheidung im Kabinett, S. 115.

Um ½1 Uhr [20. Juni, morgens] fand eine geheime Beratung des Kabinetts beim Reichspräsidenten statt. Der Minister Preuß verlangte in dieser, daß ich als Minister des Auswärtigen mich zur Lage äußern möge. Ich erklärte, mein Standpunkt sei in dem Gutachten der Delegation7 niedergelegt; das Friedensangebot sei von der Regierung als unannehmbar und undurchführbar bezeichnet worden, wesentliche Modifikationen seien seitens der Entente nicht gemacht, der Entwurf bleibe daher für mich unannehmbar und undurchführbar. Im übrigen möchte ich mich auf meine gestrigen Erklärungen berufen, jedenfalls sei ich persönlich und sachlich entschlossen, vor der Geschichte meinen Namen nicht unter dieses Schanddokument zu setzen und mit meinem Namen einen Vertrag zu sanktionieren, von dem ich überzeugt sei, daß er nicht gehalten werden könne und entschlossen sei, ihn nicht durchzuführen.

7

Siehe Dok. Nr. 113.

Die Reden der einzelnen Kabinettsmitglieder sind mir nicht mehr gegenwärtig, ich erinnere mich nur genau, wie Erzberger versuchte, nachzuweisen, daß erhebliche Konzessionen seitens der Entente gemacht seien, und daß er betonte, eine erzwungene Unterschrift könne zu nichts verpflichten. Der Minister David sagte mir, man müsse in so kritischen Situationen imstande sein, seine persönliche Überzeugung großen Zielen zu opfern. Ich erklärte ihm darauf, bei mir fielen glücklicherweise die großen Ziele immer mit meiner persönlichen Überzeugung zusammen, worauf er verstummte.

Sämtliche Kabinettsmitglieder, die auf meiner Seite standen, unter anderen auch außer ihnen der Admiral von Trotha, beglückwünschten mich zu meiner Haltung.

Am nächstfolgenden Tage – Freitag [20. Juni] – fanden Parteisitzungen statt, an denen ich nicht teilnahm8. Vormittags schickte der Reichspräsident[504] mir den Gesandten Nadolny mit dem Auftrage, mich dringend zu bitten, mein Abschiedsgesuch zurückzuziehen. Ich ersuchte den Gesandten Nadolny, Herrn Ebert zu melden, mein Entschluß stehe unerschütterlich fest, und dem Herrn Reichspräsidenten bei dieser Gelegenheit anzudeuten, daß ich erwartet hätte, nach unserer ersten Rücksprache bei meiner Rückkehr aus Versailles eine energischere Unterstützung bei ihm zu finden. Nadolny erwiderte, er habe sich niemals Illusionen über meine Stellungnahme gemacht und werde dem Reichspräsidenten eine entsprechende Meldung erstatten. Ich ersuchte ihn dann noch, Herrn Ebert zu bitten, den Wunsch, daß ich verbliebe, nicht vor dem Kabinett zu wiederholen, weil ich in diesem Falle genötigt sein würde, meine Ablehnung sehr schroff zu begründen.

8

Hier liegt ein erheblicher Datierungsirrtum Brockdorff-Rantzaus vor, der um so unerklärlicher ist, als er in seiner Aufzeichnung vom 1.7.1919 (s. Dok. Nr. 117), also einen Tag vor dem Datum der vorliegenden Aufzeichnung, eine vollkommen andere und, soweit nachprüfbar, zutreffende Schilderung der Ereignisse am Freitag, dem 20.6.1919 gegeben hatte. Die im folgenden geschilderten Ereignisse können zu den ihnen zugeschriebenen Zeitpunkten nicht geschehen sein. Die Geschehnisse, denen entnommen werden kann, daß das Kabinett bereits zurückgetreten war, stehen in Widerspruch zu der Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom 1.7.1919 und können sich, wenn überhaupt, erst später zugetragen haben. Dagegen fand die weiter unten geschilderte Sitzung der Ministerpräsidenten der Länder und des Staatenausschusses mit Sicherheit am Donnerstag, dem 19.6.1919 statt; sowohl der Bericht Groeners über die Tage vom 18.–20.6.1919 (s. Dok. Nr. 114) als auch die Erinnerungen Erzbergers, S. 377, stimmen darin überein, daß diese Sitzung vor der Abendsitzung am 19.6.1919, nach der das RKab. zurücktrat, stattgefunden hat.

Um 2 Uhr ging ich mit Ministerialdirektor Simons und Legationsrat Roediger zum Frühstück in den „Erbprinzen“. Herr von Payer saß am Nebentisch, und da ich erfahren hatte, daß er für bedingungslose Annahme stimmen wolle, setzte ich mich, ehe ich das Hotel verließ, kurz zu ihm, um seine Ansicht zu hören. Ich konnte sehr bald feststellen, daß er vollkommen auf dem Erzbergerschen Standpunkt stand und ebenso wie dieser mit dem alten Argumente, der Einmarsch der Entente bedeute den Zerfall des Reiches, arbeitete.

Auf dem Weg zum Schloß begegnete ich dem preußischen Minister des Innern Heine, der mir in sehr herzlicher Weise erklärte, er bedauere ungemein meinen Rücktritt, verstehe aber vollkommen meine Haltung und beabsichtige selbst ebenso wie das gesamte preußische Kabinett zurückzutreten. Schließlich sage er sich, daß in dieser furchtbaren Zeit man am Ende doch nur sich selbst habe, und er wolle wenigstens dann mit dem Gefühl von der öffentlichen Bühne abtreten, daß er sich treu geblieben sei.

Während ich mit ihm sprach, erschien ein Diener, der mir mitteilte, der Ministerpräsident ersuche mich, sofort zu einer Sitzung sämtlicher Ministerpräsidenten und Gesandten der Bundesfreistaaten zu kommen9. Von dieser Sitzung[505] war mir keine Mitteilung gemacht. Im Schloß kam Professor Schücking auf mich zu und teilte mir mit, er arbeite mit allen Mitteln für die Ablehnung, begegne aber den größten Schwierigkeiten. Die Situation scheine offenbar durch Erzberger beinahe verloren. Ich bat ihn, in unserem Sinne weiter tätig zu sein, als ein zweiter Diener erschien und mich im Auftrage des Ministerpräsidenten dringend ersuchte, sofort zur Sitzung zu kommen; man habe mich nicht finden können, und infolgedessen sei der Minister Giesberts ersucht worden, über die Tätigkeit der Delegation Vortrag zu halten. Ich begab mich darauf in den Sitzungssaal, wo etwa siebzig Personen versammelt waren. Den Vorsitz führte nicht Herr Scheidemann, sondern der Reichsfinanzminister Dernburg. Ich nahm neben ihm Platz, und er erklärte mir, ich müsse sofort eine Rede über die Richtlinien, die für die Delegation in Versailles maßgebend gewesen seien, halten und Aufklärung über die allgemeine politische Lage geben. Herr Giesberts, der links neben mir saß, sagte mir, er habe bereits in meiner Abwesenheit den „Rahm abgeschöpft“ und das Gutachten der Delegation10 den versammelten Herren zur Kenntnis gebracht. Unmittelbar darauf wandte Dernburg sich an mich und erklärte, der Minister des Auswärtigen werde jetzt die gewünschten Aufklärungen geben.

9

Siehe Anm. 8. Über die Sitzung der Ministerpräsidenten der Länder und des Staatenausschusses am Nachmittag des 19.6.1919 vgl. die Schilderung Groeners in seiner Aufzeichnung über die Tage in Weimar 18.–20.6.1919 (Dok. Nr. 114). Erzberger schreibt in seinen Erinnerungen: „Am Nachmittag dieses Tages fand die Besprechung mit den leitenden Ministern der einzelnen dt. Länder statt; hier fiel die eigentliche Entscheidung. Nachdem zwei Reichsminister (Dernburg und Brockdorff-Rantzau) die Gesichtspunkte gegen die Unterzeichnung des Friedens vorgetragen hatten, wies der bayerische Ministerpräsident darauf hin, daß doch auch andere Auffassungen in der Reichsregierung vorhanden seien; man wolle auch diese hören, worauf ich meinen Standpunkt entwickelte. In der Debatte zeigte es sich alsbald, daß es die süddeutschen und mitteldeutschen Regierungen waren, welche, wohl betonend, daß sie der Gewalt wichen, doch mit aller Entschiedenheit forderten, daß der Frieden unterzeichnet werden müsse; die jetzt vorhandenen Regierungen würden zwar bei dem sicher zu erwartenden Einmarsch der Entente einen Separatfrieden nicht unterzeichnen, aber es sei sicher, daß bei dem Friedenswillen des ganzen Volkes, der Unmöglichkeit, sich dem Einmarsch zu widersetzen und den unabsehbaren Folgen des Einmarsches in wenigen Tagen sich eine neue Regierung bilden würde, welche einfach gezwungen wäre, den Frieden zu unterzeichnen; dann sei die Einheit des Reiches dahin. Diese Auffassung wurde bekräftigt durch zahlreiche von angesehenen Kreisen ausgehende Meinungsäußerungen aus allen Teilen des Reiches. […] Von allen Regierungen äußerten sich nur einzelne Mitglieder der preußischen Regierung, aber auch diese zurückhaltend, für die Nichtunterzeichnung.“ (Erzberger, Erinnerungen, S. 377).

10

Siehe Dok. Nr. 113.

Ich begann meine Rede mit der Bemerkung, man habe mich nicht davon in Kenntnis gesetzt, daß die heutige Sitzung stattfinden werde, sonst wäre ich selbstverständlich sofort erschienen. Ich hätte mich auch nicht auf die an mich gerichteten Fragen vorbereiten können. Wie ich höre, habe der Minister Giesberts vor meinem Erscheinen bereits das Gutachten der Delegation verlesen; in diesem sei mein ablehnender Standpunkt, auf dem ich unerschütterlich verharre, niedergelegt. Die Politik sei keine exakte Wissenschaft wie die Mathematik, man könne nicht mit Zahlen beweisen, daß zweimal zwei vier sei. Ich habe nicht die Absicht, pro domo zu reden; ich müsse aber, wenn ich die hohe Versammlung bitte, mir Vertrauen zu schenken, doch darauf hinweisen, daß ich 25 Jahre in der auswärtigen Karriere stehe und trotzdem sogar im Inlande Vertrauen genossen habe. Daß ich mir auf allen Posten und besonders jetzt in Versailles auch im Auslande Respekt zu verschaffen gewußt habe, sei wohl bekannt; ich glaube daher eine gewisse Autorität für mich in Anspruch nehmen zu können und bitte unbedingt den Friedensvertrag abzulehnen. Die Entente würde diese Belastungsprobe nicht aushalten und gesprengt werden. Ich glaube, daß wir nach 2, spätestens 3 Monaten zu mündlichen Verhandlungen und damit zu wirklich annehmbaren Bedingungen kommen könnten. Zur Bekräftigung meiner Auffassung verlas ich ein Exposé über die Lage und die Stimmung in den[506] feindlichen Ländern11. Zum Schluß brachte ich ein Telegramm des Gesandten Adolf Müller aus Bern zur Verlesung, das wörtlich schließt, „wir würden durch eine Annahme dieses Friedensvertrages uns nicht nur im Auslande unbeliebt, sondern verächtlich machen.“12 Ich schloß mit den Worten, die Aussicht, unbeliebt zu werden, schrecke mich nicht, im übrigen glaube ich, daß wir bereits unbeliebt seien. Die Grenze für meine Haltung sei aber die Würde, wie ich bereits bei meiner ersten Programmrede betont habe, und über diese Grenze werde ich unter keinen Umständen hinausgehen. Ich habe bereits meinen Abschied eingereicht, sei aber bereit, das Amt weiterzuführen, wenn die Herren sich meinem Urteil anschließen und die Ablehnung erklären wollten. Daß ich gewillt sei, mit meiner ganzen Person für die Durchführung einzutreten, brauche ich nicht zu wiederholen; ich bitte die Herren daher dringend, mir in dieser Schicksalsstunde des Reichs und der Zukunft des Volkes zu folgen und ihr Vertrauen nicht zu versagen.

11

Zum Inhalt des Exposés s. die Aufzeichnung Groeners über die Tage in Weimar 18.–20.6.1919 (Dok. Nr. 114). Die Ausführungen des RAM finden sich schriftlich niedergelegt im PA, Dt. Friedensdelegation Versailles, Pol 1 b, Bd. 2; einer handschr. Randnotiz Brockdorff-Rantzaus zufolge hatte er diese Ausführungen bereits während einer der Kabinettssitzungen am 18.6.1919 vorgetragen.

12

Das Telegramm des dt. Gesandten in Bern an den RAM vom 19.6.1919 in: PA, Dt. Friedensdelegation Versailles, Pol 13, Bd. 5.

Daß meine Rede einen sehr nachhaltigen Eindruck hinterließ, war sofort festzustellen13; außer dem hessischen Vertreter, der erklärte, „Herr Staatssekretär Schoen habe ja soeben selbst zugegeben, daß seine Vorschläge hauptsächlich auf Kombinationen beruhten“, äußerten sich sämtliche Vertreter, die sich zum Wort meldeten, nicht nur anerkennend, sondern insbesondere der mecklenburgische Vertreter und der Vertreter der Hansastädte durchaus zustimmend. Der Senator Fehling erklärte, er sei tief ergriffen von meinen Ausführungen, und das ganze Land schulde mir für meine Haltung uneingeschränkten Dank, es sei ein Glück, daß endlich ein Minister des Auswärtigen nicht nur von politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten ausgehe, sondern auch die ethischen Momente zu würdigen wisse.

13

Groener erklärte in seiner Aufzeichnung über die Tage in Weimar 18.–20.6.1919: „Die Ausführungen des Grafen Rantzau hinterließen auf die Anwesenden keinen besonderen Eindruck.“ Er selbst sei von der Rede enttäuscht gewesen, s. Dok. Nr. 114, vgl. die Darstellung Erzbergers in Anm. 9.

Erzberger, der während meiner Rede sehr unruhig geworden war, hielt eine kurze Ansprache, in der er etwa wörtlich dasselbe wiederholte, was er tags zuvor in der Kabinettssitzung vorgebracht hatte. Er schilderte in den schwärzesten Farben die Folgen eines Einmarsches der Ententetruppen, ließ diskret durchblicken, daß er auf die Vergewaltigung der deutschen Frauen durch Singhalesen und Neger sich nicht einlassen möchte, daß aber der Einmarsch der Truppen den Zusammenbruch und Zerfall des Reiches unweigerlich bedeuten werde.

Ich ersuchte den preußischen Minister des Innern, der neben mir Platz genommen hatte, zu antworten und zu erklären, daß der Zerfall des Reiches mit ungleich größerer Sicherheit eintreten werde, wenn wir durch unsere Unterschrift[507] den Vertrag legalisierten, weil dann alle zentrifugalen Kräfte ausgelöst würden, während die Verweigerung der Unterschrift den Einheitsgedanken und die idealen Momente unbedingt stärken müßten. Der Minister Hirsch war sofort bereit und gab etwa wörtlich als preußischer Ministerpräsident diese Erklärung ab. Inzwischen hatte Herr Erzberger sich entfernt.

Ich fragte nach meiner Rede den Minister Giesberts, ob ich zu schroff geworden sei. Er erwiderte darauf wörtlich, er habe die Rede ganz ausgezeichnet gefunden, man könne nicht deutlich genug werden, er sei seit X Jahrzehnten Parlamentarier und wisse, daß diese Leute stets geneigt seien, vor schweren Entschließungen umzufallen. Auch der Minister Dernburg erklärte sich außerordentlich befriedigt durch meine Rede. Vertraulich teilte er mit mit, der General Groener habe die Absicht, sich über die militärische Situation zu äußern. „Da der Mann schlapp machen will“ – äußerte Minister Dernburg – „habe ich ihn veranlaßt, den Saal zu verlassen und werde selbst die erforderlichen militärischen Aufklärungen geben.“ Ich bedauere, daß General Groener das Wort nicht genommen hat, denn ich würde ihn an seine Unterhaltung mit mir unmittelbar vor unserer Reise nach Versailles erinnert haben, in deren Verlauf er die schwersten Anschuldigungen gegen die Regierung erhob, die schlapp und willenlos sei [...]. Im übrigen konnte ich selbst feststellen, daß der General Groener vorsätzlich oder aus Überzeugung die militärische Lage als aussichtslos beurteilt. Ich hatte Gelegenheit, ihn während der Sitzung kurz in einer Fensternische zu sprechen, er bezeichnete die Lage militärisch als aussichtslos.

<Der14 Unterstaatssekretär Albert, dem ich Vorwürfe machte, weil ich nicht rechtzeitig von der Sitzung im Staatenausschuß informiert war, teilte mir vertraulich mit, er habe mich so dringend im letzten Augenblick bitten lassen zu erscheinen, weil Erzberger meine Teilnahme an der Sitzung habe verhindern wollen.>

14

Der letzte Absatz wurde von Brockdorff-Rantzau handschr. hinzugefügt.

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