2.100 (cun1p): Nr. 100 MdR v. Graefe an Reichskanzler Cuno. 20. März 1923

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Nr. 100
MdR v. Graefe an Reichskanzler Cuno. 20. März 1923

R 43 I /2678 , Bl. 147-149 handschriftlich

[Betrifft: Standort der deutsch-völkischen Gruppen]

Hochverehrter Herr Reichskanzler!

Ihrem Wunsche gemäß übersende ich Ihnen anliegend ein Verzeichnis der bisher verhafteten völkischen Führer und Mitglieder, soweit mir die Namen im Augenblick bekannt sind, vollständig kann es natürlich nicht sein. Ich habe auch die Namen von denjenigen Freunden hinzugefügt, gegen die Haftbefehl[317] vorliegt oder von denen ich unter der Hand erfahren habe, daß ihre spätere Verhaftung beabsichtigt ist1.

1

Als Anlage ist ein Schreiben an v. Graefe vom 20. 3. beigefügt, in dem es heißt: „Außer Herrn Rossbach, der nach den letzten Mitteilungen des Polizeipräsidiums nur noch des von Oberschlesien aus erlassenen Schutzhaftbefehls wegen festgehalten wird, sind in O. S. bisher 18 als „Führer“ bezeichnete Persönlichkeiten verhaftet, darunter Hauptmann a. D. v. Heydebreck, Leutnant a. D. Klemm, beide aus hier nicht bekannten Gründen, ferner Hauptmann a. D. Eberhardt, Herr Oswald, Herr Kawallik, zwei Brüder Nierobitsch und andere.“ Haftbefehle beständen weiterhin gegen ehemals führende Mitglieder der Großdeutschen Arbeiterpartei wie Herrn Fahrenhorst sowie gegen die Führer des am 11.1.23 neugebildeten oberschlesischen Selbstschutzes. In einem handschriftlichen Zusatz zur Anlage preist v. Graefe insbesondere Eberhardt und Fahrenhorst als besonnene Führer und erklärt: „Es ist absolut klar, daß die ganzen Verhaftungen ebenso wie die noch weiter geplanten einzig und allein die Entblößung der völkischen Bewegung von ihren bewährten Führern bezwecken. Das bedeutet eine verfassungswidrige Vergewaltigung, die wir nicht weiter hinnehmen können.“, R 43 I /2678 , Bl. 147-149, hier: Bl. 149

Ich bitte ergebenst, die Gelegenheit benutzen zu dürfen, um den Zweck meines heutigen Besuchs2, für dessen Gewährung ich gern meinen aufrichtigsten Dank wiederhole, noch einmal kurz zu präzisieren:

2

Über diesen Besuch v. Graefes beim RK fanden sich keine Aufzeichnungen in R 43 I.

Meine völkischen Freunde, – die den Kerntrupp aller aktivistischen, d. h. opferwilligen nationalen Kreise ausmachen, ohne deren Einsetzen weder ein passiver noch vielleicht später einmal ein aktiver Widerstand gegen den äußeren Feind überhaupt aussichtsvoll durchführbar ist –, sind nicht nur ehrlich bereit, sondern hegen den dringendsten und treuesten Wunsch, Sie, verehrter Herr Reichskanzler, bei der Durchführung einer nationalen Verteidigungspolitik unter Einsetzung von Gut und Blut kraftvoll und selbstlos zu unterstützen; wir stehen Ihnen hierfür restlos und opferwillig zur Verfügung! Dazu müssen wir aber auch von einer nationalen Regierung als solche Stütze gewertet und behandelt werden. Wir können es im vaterländischen Interesse nicht ertragen, daß man uns andauernd nicht nur mit verleumderischem Mißtrauen begegnet, sondern uns als angebliche „Rechtsbolschewisten“ – wir sind obendrein gar keine einseitige „Rechtsbewegung“, sondern stehen außerhalb jedes eigentlichen Parteiwesens –, mißbrauchen will, um bei jedem Vorgehen gegen landesverräterische wirkliche Bolschewisten durch einen gleichzeitigen Akt gegen uns gewissermaßen jenes Vorgehen zu „entschuldigen“, bzw. eine vermeintliche großzügige „Unparteilichkeit“ zu beweisen, wobei noch obendrein die Einzelstaaten dafür sorgen, daß diese sogenannte „Unparteilichkeit“ ganz einseitig gegen uns ausfällt3.

3

In einem offenen Brief an den RK hatte Wulle bereits am 16. 3. das Verhalten der Landesregierungen in Preußen, Sachsen und Thüringen angeprangert, insbesondere gegen die Bildung proletarischer Selbstschutzorganisationen protestiert (R 43 I /2678 , Bl. 139-142). Den Schlußabsatz dieses offenen Briefes zitiert Severing in seiner LT-Rede am 23. 3. und charakterisiert ihn als ein „Dokument politischer Anreißerei und politischer Heuchelei.“ (Pr. LT-Protokolle, Bd. 12, Sp. 16212).

Dieser Standpunkt ist umso ungeheuerlicher, als eine wirkliche nationale Einheitsfront ohne uns ein kraft- und armloser Torso ist, während umgekehrt eine scheinbare „Einheitsfront“ unter Einfluß der Vaterlandsverräter eine Mißgeburt darstellt. Das, was momentan als Einheitsfront figuriert, bedeutet diese Mißgeburt4! Wir möchten Sie, verehrter Herr Reichskanzler, davor bewahren,[318] daß Sie ein mißbrauchtes Opfer dieser scheußlichen Mißgeburt werden! Eine Regierung, die nationale Politik nach außen führen will, muß sich auf eine in sich gefestigte und zuverlässige Phalanx im Innern stützen können. Diese Möglichkeit haben Sie nicht, solange sich alle möglichen internationalen Kreise als Ferment der Dekomposition in die scheinbare Einheitsfront einschieben, die stärksten nationalen Kräfte dagegen wie Landesverräter hinausgedrängt werden. Sie müssen endlich wissen, auf welchen Stuhl Sie sich setzen wollen, sonst sitzen Sie zwischen beiden!

4

In seinem 26seitigen Bericht über links- und rechtsradikale Bewegungen erklärte Reichskommissar Kuenzer am 19. 3. zur Frage der Einheitsfront u. a.: „Zu keiner Zeit seit Beendigung des Krieges war das deutsche Volk in den Fragen der Außenpolitik so geschlossen wie heute. Dem großen Kampf gegenüber, der vom deutschen Volk gemeinsam um das Ruhrgebiet geführt wird, treten die innerpolitischen Auseinandersetzungen zurück. Lediglich die Parteien und Gruppen auf der äußersten Rechten und äußersten Linken beharren auch heute noch in der Fortführung des innerpolitischen Kampfes. Kommunisten und Völkische betreiben ihre lärmende und aggressive Politik weiter und stören dadurch in bedauerlicher Weise das Bild der einheitlichen und geschlossenen Haltung, das das deutsche Volk in seinem Abwehrkampf gegen Frankreich bietet.“ (R 43 I /2669 , Bl. 51-74).

Ich wiederhole: Wir Völkischen stehen opferbereit zur Verfügung für jede großzügige nationale Politik; aber wir halten eine solche für unmöglich, wenn die Regierung nicht zuvor im eigenen Lande die Verräter ausschaltet. Mit einem solchen Feinde im Rücken, wie er z. Zt. vor allem durch Herrn Severings unverantwortliches Vorgehen alles stark Nationale sabotiert und knechtet, vermögen wir nie und nimmer die letzte Blüte unseres Volkes und seiner wehrhaften Jugend zum Verbluten in irgendeinem äußeren Kampfe herzugeben, um gerade dadurch dem feigen Verrat im eigenen Lande die Wege frei zu machen. Wir kämpfen todesmutig für ein freies deutsches Volk bis zum letzten Blutstropfen, nicht aber für eines, das ein wehrloser Raub jüdischen Bolschewismusses werden soll. Verschaffen Sie uns die Freiheit unsrer ehrlichen nationalen Betätigung, und wir werden Ihre treueste und stärkste Garde sein! Sonst aber ergreifen wir in vaterländischer Verzweiflung, zu der man uns gewaltsam treibt, den Kampf gegen den inneren Verrat, mit dem man uns und damit das wahre Deutschtum langsam abwürgen will! Und wenn Deutschland darüber zu Grunde gehen müßte, so trifft der Fluch nicht uns, sondern diejenigen, deren Verrat wir in letzter Stunde zu erschlagen versuchen werden; aber es ist immer noch besser, Deutschland geht in solchem letzten Kampfe ehrlich zu Grunde, als daß es fortbesteht als verseuchtes Sklavenvolk der Internationale. „Es ist besser, daß es im Sturm zerschellt, als daß es schlafend erstickt!“ Wir freilich, Herr Reichskanzler, sind der glaubensstarken Zuversicht, daß auch ein solcher Kampf, wenn er sein muß, nicht zum Untergange Deutschlands, sondern schließlich doch als einziger Weg zu seiner Erneuerung führen wird.

Ich bitte Sie, hochverehrter Herr Reichskanzler, diese Worte so ernst aufzunehmen, wie sie unseren besorgten, aber entschlossenen Herzen entspringen, – in Ihrer Hand liegt in der Tat zur Zeit das Schicksal Deutschlands, „Landgraf werde hart!“

In dankbarer Verehrung verharre ich stets Ihr aufrichtig ergebener

v. Graefe-Goldebee

MdR

[319] PS.: Soeben erfahre ich, daß Herr Rossbach zwar vom Untersuchungsrichter freigegeben ist, daß er aber trotzdem vom Polizeipräsidium in sogen. „Schutzhaft“ behalten wird; krasser kann das ungeheuerliche Spiel gegen uns wohl nicht charakterisiert werden! Ich bitte dringend zur Abwendung der Empörung meiner Freunde für sofort vermittelnd einzugreifen5.

5

Am 21. 3. sendet v. Graefe ein weiteres Schreiben an den RK, in dem er die Verhaftung Tettenborns, Günthers und Buths mittteilt und fortfährt: „Uns ist bekannt, daß weitere Verhaftungen bevorstehen. Auch wissen wir, daß seitens des Herrn Ministers Severing bzw. der Abteilung I a des hiesigen Polizeipräsidiums in den nächsten Tagen gegen unsre Partei selbst vorgegangen werden soll und zwar in einer der Verfassung und dem Recht hohnsprechenden Weise. Ich kann nicht annehmen, daß die RReg. ihrerseits tatsächlich gewillt bleiben sollte, diesem unerhörten Treiben fernerhin zuzusehen, ohne dem deutschen Staatsbürger und einer zu Recht bestehenden Partei ihre verfassungsmäßigen Rechte zu sichern.“ (R 43 I /2678 , Bl. 150).

d. O.

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