2.168 (ma31p): Nr. 168 Aufzeichnung des Staatssekretärs Pünder über Verhandlungen zur Neubildung der Reichsregierung. 17. Januar 1927

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[496] Nr. 168
Aufzeichnung des Staatssekretärs Pünder über Verhandlungen zur Neubildung der Reichsregierung. 17. Januar 1927

Nachl. Pünder, Nr. 95, Bl. 93–94

Der Herr Reichskanzler empfing heute in Verfolg des ihm seitens des Herrn Reichspräsidenten gewordenen Auftrages, betreffend Regierungsbildung1, im Beisein des Unterzeichneten die nachgenannten Parteiführer:

1

In einem Schreiben vom 14.1.27 an den mit Koalitionsverhandlungen beauftragten RWiM Curtius (vgl. Dok. Nr. 167, Anm. 3) hatte die Zentrumsfraktion u. a. erklärt, daß sie gegen die von Curtius beabsichtigte Regierungsbildung schwere Bedenken habe und daß sie „den Versuch der Bildung einer Regierung der Mitte nach Lage der Dinge für den gegebenen Ausweg aus der Krise halte“. Daraufhin war RK Marx am 15. 1. vom RPräs. mit Verhandlungen über die Regierungsbildung beauftragt worden; am 16. 1. hatte Marx den Auftrag angenommen, um in Besprechungen mit den Fraktionen die Aussichten für ein Kabinett der Mittelparteien zu sondieren. Vgl. Hubatsch, Hindenburg und der Staat, Dok. Nr. 55 (S. 261 ff.); Morsey, Zentrumsprotokolle, Dok. Nr. 99–101; Schultheß 1927, S. 10 f.; Politisches Jahrbuch 1927/28, S. 80 f.

a) 4 Uhr nachm. Abg. Dr. Scholz:

Der Vorstand der Deutschen Volkspartei habe sich heute vormittag und mittag mit der Frage der Regierungsbildung befaßt. Ein ausdrücklicher Beschluß sei nur dahin gefaßt worden, daß die Deutsche Volkspartei den Gedanken der Großen Koalition ablehne. Alle anderen Möglichkeiten seien natürlich auch erörtert worden, aber man habe mit Absicht keinen Beschluß gefaßt, um den Beauftragten des Herrn Reichspräsidenten2 bei seinen Sondierungen nicht einzuengen. Er sei daher nur rein persönlich und stimmungsmäßig in der Lage, weitere Ausführungen zu machen. Mit diesem Vorbehalt könne er erklären, daß auch eine Regierung der Mitte, die sich auf die Linke stütze, von der Volkspartei nicht akzeptiert würde. Im Falle der Bildung einer Mittelregierung käme nur eine Stützung von rechts in Frage. Aber auch dieser Lösung zöge die Volkspartei die bürgerliche Mehrheitsregierung, die ihre Ideallösung sei, bei weitem vor. Als eine Zwischenlösung käme vielleicht noch eine Regierung der Mitte in Frage, mit der die Rechte nicht ausdrücklich koalisiert [sic], sondern [in der sie] nur durch einen Vertrauensmann vertreten sei.

2

Marx.

Der Herr Reichskanzler bemerkte, daß er nunmehr beabsichtige, mit den Demokraten und sodann mit den beiden Flügelparteien (Sozialdemokraten und Deutschnationalen) zu verhandeln. Abg. Dr. Scholz erhob gegen dieses Vorgehen mit der Maßgabe keine Einwendungen, daß aus den Verhandlungen des Herrn Reichskanzlers mit den Sozialdemokraten unter keinen Umständen ein Rückschluß auf eine etwaige Zustimmung der Deutschen Volkspartei zu einer Regierung der Mitte mit Linksstütze enthalten sei.

b) 5 Uhr nachm. Abg. Koch und Erkelenz:

Die Lösung müsse nach links versucht werden. Die einzige Schwierigkeit liegt nur in der Person des Ministers Geßler. Nach ihrer Meinung müßten Zentrum[497] und Demokraten auf Geßler und den Herrn Reichspräsidenten dahin einwirken, daß Geßler von sich aus zurücktrete3. Sei Geßler ausgeschieden, so käme als Ersatz auch durchaus ein Politiker, der weiter rechts als Geßler stände, in Betracht, z. B. der General Groener oder der Admiral Brüninghaus. Das so rekonstruierte Kabinett der Mitte solle einfach vor den Reichstag treten ohne vorherige Verhandlungen mit links oder rechts. Es erscheine ihnen sodann so gut wie ausgeschlossen, daß die Linke dieses Kabinett stürze.

3

In einem Tagebuchvermerk Koch-Wesers vom 22.1.27 heißt es: „Die Woche ist in ziemlich unfruchtbaren Verhandlungen verlaufen. Nachdem Marx von Hindenburg den Auftrag erhalten hatte, wegen eines Kabinetts der Mitte zu sondieren, hat er sich auf Besprechungen zwischen den Parteien beschränkt. Davon, durch Besprechungen mit Hindenburg und Geßler das einzig wahre Hindernis, Geßler, zu beseitigen, hat er abgesehen, obwohl Erkelenz und ich ihm das nahegelegt hatten. Dabei war es ihm ganz klar, daß die Person Geßlers für Sozialdemokraten und Demokraten das einzige Hindernis bildete, eine Regierung der Mitte mitzumachen, während sonst Schwierigkeiten nur von der D.V.P. zu erwarten waren. Haas und ich hatten den Sozialdemokraten verschiedentlich nahegelegt, wegen der Person Geßlers nicht mit Forderungen hervorzutreten. Denn bei Hindenburg war Geßler unerschütterlich, wenn der Anstoß, ihn zu beseitigen, von links kam. So weit sind wir schon wieder im persönlichen Regiment, daß wir solche Rücksichten nehmen, um nicht alles zu verderben.“ (Nachl. Koch -Weser, Nr. 36, S. 9).

c) 6 Uhr nachm. Abg. Hermann Müller:

Er stellte zunächst die Frage, ob die Große Koalition noch irgendwelche Aussicht habe, welche Frage der Herr Reichskanzler unter Mitteilung des Beschlusses der Volkspartei verneinte. Es wurde sodann die Frage erörtert, ob die Sozialdemokratie geneigt sei, ein Kabinett der Mitte zu stützen. Herr Müller enthielt sich zunächst der Stellungnahme, da die Sozialdemokratie über diese Frage noch nicht beraten habe, er halte es aber persönlich für wenig wahrscheinlich, daß ohne irgendwelche Zusicherungen die Sozialdemokratie zu einer solchen Stützung bereit sei. Auf Wunsch des Herrn Reichskanzlers versprach Abg. Müller darauf, umgehend dem Vorstand der sozialdemokratischen Fraktion diese Frage vorzulegen. Dem Herrn Reichskanzler soll das Ergebnis morgen gegen 4 Uhr nachmittags mitgeteilt werden.

d) Der Herr Reichskanzler versuchte dann noch mit dem Grafen Westarp zu verhandeln. Es erschien dann aber nur Herr Abg. Treviranus, der mitteilte, daß Graf Westarp bereits das Reichstagsgebäude verlassen habe. Es wurde darauf eine Besprechung zwischen dem Herrn Reichskanzler und dem Grafen Westarp für morgen vormittag 11 Uhr im Reichstag vereinbart4.

4

Siehe Dok. Nr. 169.

Pünder, 17.1.27.

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